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20/01 Allgemeines bürgerliches Gesetzbuch (ABGB);Norm
ABGB §2;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Knell und die Hofräte Dr. Müller, Dr. Novak, Dr. Sulyok und Dr. Nowakowski als Richter, im Beisein der Schriftführerin Mag. Hackl, über die Beschwerde der E in F, vertreten durch Dr. Edeltraud Bernhart-Wagner, Rechtsanwalt, 1010 Wien, Kärntnerring 10, gegen den aufgrund eines Beschlusses des Ausschusses für Leistungsangelegenheiten ausgefertigten Bescheid der Landesgeschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Niederösterreich vom 31. März 1998, Zl. LGS NÖ /JUR/12181/1998, betreffend Widerruf und Rückforderung von Notstandshilfe (Pensionsvorschuß), zu Recht erkannt:
Spruch
Der Bescheid wird im Spruchpunkt 2 wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Arbeit, Gesundheit und Soziales) hat der Beschwerdeführerin Aufwendungen von S 15.000,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen; das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
Mit dem im Instanzenzug ergangenen, angefochtenen Bescheid wurde im Spruchpunkt 1 die der Beschwerdeführerin im Zeitraum vom 1. Juni 1997 bis 31. Dezember 1997 als Pensionsvorschuß gewährte Notstandshilfe gemäß § 24 Abs. 2 AlVG auf S 226,70 täglich berichtigt und im Spruchpunkt 2 der aus der Berichtigung resultierende Übergenuß von S 48.149,-- gemäß § 25 Abs. 1 in Verbindung mit § 38 AlVG zum Rückersatz vorgeschrieben.
Dieser Bescheid wurde im wesentlichen damit begründet, daß durch einen Eingabefehler im Bereich der Arbeitsmarktverwaltung bei Zuerkennung der Notstandshilfe als Bevorschussung von Leistungen aus der Pensionsversicherung der Betrag von S 13.809,-- (dabei handelt es sich um das für die Lohnklasse maßgebliche Entgelt aus dem anwartschaftsbegründenden Dienstverhältnis der Beschwerdeführerin im Jahr 1988) nicht als Bemessungsgrundlage, sondern als monatlicher Fixbetrag eingegeben worden sei. Aufgrund dieses Eingabefehlers seien S 460,30 anstatt S 226,70 täglich zur Auszahlung gebracht worden. Ab 1. Jänner 1997 habe die Beschwerdeführerin Notstandshilfe in der Höhe von S 226,70 täglich, d.h. etwa S 6.801,-- monatlich bezogen. Ab 1. Juni 1997 sei der Beschwerdeführerin ein Betrag von monatlich S 13.809,-- ausgezahlt worden. Es habe ihr bei der nach diesen Umständen zumutbaren Aufmerksamkeit auffallen müssen, daß die Leistung nicht in dieser Höhe gebühre. Es bedürfe keiner überdurchschnittlichen Fähigkeit um zu erkennen, daß die Notstandshilfe als Bevorschussung von Leistungen aus der Pensionsversicherung nicht gleich hoch wie das seinerzeitige Monatsgehalt sein könne (Hinweis auf das Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 23. Oktober 1986, Zl. 86/08/0158). Da der Tatbestand des Erkennenmüssens vorliege, sei die zu Unrecht bezogene Leistung von S 48.149,-- zurückzuzahlen.
Gegen diesen Bescheid (und zwar nach dem Beschwerdepunkt nur gegen dessen Spruchpunkt 2) richtet sich die vorliegende, der Sache nach Rechtswidrigkeit des Inhaltes geltend machende Beschwerde, in der sich die Beschwerdeführerin zusammengefaßt darauf beruft, daß der von der belangten Behörde herangezogene Rückforderungstatbestand des § 25 Abs. 1 erster Satz AlVG nicht vorliege.
Die belangte Behörde hat eine Gegenschrift erstattet, in der sie den Beschwerdeausführungen entgegentritt und die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde beantragt.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
Im Beschwerdefall ist ausschließlich strittig, ob die Beschwerdeführerin nach den - im angefochtenen Bescheid dargelegten und oben wiedergegebenen - Umständen des Falles hätte erkennen können, daß die Notstandshilfe als Pensionsvorschuß in der etwa doppelten Höhe der zuvor gewährten Notstandshilfe nicht gebühre.
Gemäß § 25 Abs. 1 AlVG ist der Empfänger des Arbeitslosengeldes zum Ersatz des unberechtigt Empfangenen ua zu verpflichten, wenn er erkennen mußte, daß die Leistung nicht oder nicht in dieser Höhe gebührte. Diese Bestimmung ist gem. § 38 AlVG auch auf die Notstandshilfe anzuwenden.
Ein schuldhaftes Nichterkennen des Überbezuges setzt einen Verstoß gegen die einem Leistungsempfänger obliegenden Sorgfaltspflichten voraus; sein Vorliegen hängt daher notwendigerweise primär von Art und Umfang dieser Sorgfaltspflichten ab, die im Gesetz nicht genannt sind und die daher von der Rechtsprechung unter Beachtung des Sachlichkeitsgebotes und der Absichten des Gesetzgebers präzisiert werden müssen.
Wie der Verwaltungsgerichtshof bereits wiederholt ausgesprochen hat, ist die allgemeine Vermutung von der Gesetzeskenntnis (§ 2 ABGB) bei Beurteilung der Sorgfaltspflichtverletzung nach § 25 Abs. 1 AlVG nicht ohne weiteres heranzuziehen, weil der Gesetzgeber in dieser Bestimmung nicht schon die Rechtswidrigkeit der Leistungsgewährung allein für die Rückforderung genügen lassen wollte (vgl. das Erkenntnis vom 16. Juni 1992, Zl. 91/08/0158). "Erkennen müssen" im Sinne des § 25 Abs. 1 AlVG kann daher nicht mit Rechtskenntnis und schon gar nicht mit Judikaturkenntnissen gleichgesetzt werden (vgl. das Erkenntnis vom 19. Oktober 1993, Zl. 92/08/0210).
Im Falle des "Erkennenmüssens" handelt es sich definitionsgemäß um Sachverhalte, bei denen nicht der Leistungsempfänger, sondern in der Regel die Behörde selbst den Überbezug einer Leistung verursacht hat. Da die Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung dem Unterhalt des Leistungsempfängers zu dienen bestimmt sind und daher mit ihrem laufenden Verbrauch gerechnet werden muß, stellt die Rückforderung einer solchen Leistung in der Regel eine erhebliche Belastung für den Leistungsempfänger dar. Soweit daher der Leistungsempfänger am Entstehen eines Überbezuges nicht mitgewirkt hat, ist es sachlich nicht angebracht, vermeidbare Behördenfehler durch überstrenge Anforderungen an den vom Leistungsempfänger zu beobachtenden Sorgfaltsmaßstab zu kompensieren. Schlechtgläubig im Sinne des hier anzuwendenden Rückforderungstatbestandes ist daher nur ein Leistungsbezieher, der nach den konkret zu beurteilenden Umständen des Einzelfalles ohne weiteres den Überbezug hätte erkennen müssen. Dem Leistungsbezieher muß der Umstand, daß er den Überbezug tatsächlich nicht erkannt hat - ohne daß ihn zunächst besondere Erkundigungspflichten träfen - nach seinen diesbezüglichen Lebens- und Rechtsverhältnissen vorwerfbar sein.
Soweit daher die belangte Behörde in der Begründung des angefochtenen Bescheides damit argumentiert, daß es sich bei der Bevorschussung von Pensionsleistungen um Leistungen der Notstandshilfe handle und daher schon deshalb die Beschwerdeführerin hätte erkennen müssen, daß ihr eine zu hohe Leistung ausbezahlt werde, geht ihre Begründung am Kern der Sache insoweit vorbei, als sie die Kenntnis eben dieser rechtlichen Zusammenhänge, wie sie in § 23 AlVG geregelt sind, voraussetzt, ohne daß Umstände festgestellt oder sonst erkennbar wären, welche solche Rechtskenntnisse bei der Beschwerdeführerin erwarten ließen.
Auch der Hinweis der belangten Behörde auf das hg. Erkenntnis vom 23.Oktober 1986, Zl. 86/08/0158, verfängt nicht, weil die Gewährung von Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe als "Pensionsbevorschussung" im Sinne des § 23 AlVG nicht notwendigerweise den Maßstab des zuletzt bezogenen Entgelts nahelegt, sondern den Leistungsempfänger wohl auch an eine Orientierung an der voraussichtlichen Pensionshöhe denken läßt. Anders als etwa die Notstandshilfe oder das Arbeitslosengeld wird eine Pensionsbevorschussung auch üblicherweise nur am Ende der Berufslaufbahn vor Inanspruchnahme der Alterspension (oder einer Invaliditäts- oder Berufsunfähigkeitspension) in Anspruch genommen, sodaß die Empfänger einer solchen Leistung in der Regel nicht auf Erfahrungen mit solchen Leistungen in der Vergangenheit zurückgreifen können. Im gegenständlichen Fall wird nicht behauptet, daß die Beschwerdeführerin bereits früher einmal Pensionsvorschuß bezogen habe und daher den Zusammenhang zwischen der Höhe der sonstigen Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosengeld, Notstandshilfe) und der Pensionsvorbeschussung hätte ohne weiteres erkennen müssen.
Aus diesen Gründen kann daher auch der Rechtssatz des von der belangten Behörde zitierten Erkenntnisses vom 23. Oktober 1986, Zl. 86/08/0158, auf den vorliegenden Fall nicht übertragen werden: Wenn es dem Bezieher von Arbeitslosengeld auffallen muß, daß ihm ein im Verhältnis zum zuletzt bezogenen Monatsnettogehalt annähernd gleich hohes oder sogar dieses übersteigendes Arbeitslosengeld nicht gebührt, ist dies deshalb noch nicht auch für den Pensionsvorschuß gesagt, da ein Pensionsvorschuß (von seiner Funktion her) durchaus auch günstiger ausgestaltet sein könnte als Geldleistungen aus der Arbeitslosenversicherung (zumal er in der Folge mit den für den gleichen Zeitraum gewährten Leistungen aus der Pensionsversicherung - hinsichtlich derer zu diesem Zweck gem. § 23 Abs 5 AlVG ein Anspruchsübergang auf den Bund stattfindet - ohnehin zur Verrechnung gelangt).
Wenn daher - aus dem Blickwinkel der Beschwerdeführerin als Empfängerin der Leistung - die regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice den Pensionsantrag zum Anlaß genommen hat, der Beschwerdeführerin eine doppelt so hohe Leistung in der Höhe ihres im Jahre 1988 bezogenen durchschnittlichen Arbeitsentgeltes anzuweisen, mußte sie aus diesem Grunde allein noch nicht annehmen, daß ihr diese Leistung nicht gebühre, solange dies nicht auch andere, in der Pensionserwartung der Beschwerdeführerin liegende Umstände nahelegten. Solche Umstände könnten darin liegen, daß die Beschwerdeführerin bereits über eine Information über ihre voraussichtliche Pensionshöhe verfügt hätte und diese niedriger als der Pensionsvorschuß gewesen wäre, daß die Beschwerdeführerin in ihrem Berufsleben keine höheren als die für die Bemessung des Arbeitslosengeldes maßgebenden Arbeitsverdienste hatte und daher mit einer Pension in der Höhe dieser Arbeitsverdienste nicht rechnen durfte oder daß ihr aufgrund der Zahl der von ihr erworbenen Versicherungsmonate auch als jemandem, der mit den Modalitäten der Pensionsberechnung nicht vertraut ist, klar sein mußte, daß für sie eine Pension in einer solchen Höhe nicht in Betracht komme. Dabei kann nach Auffassung des erkennenden Senates von der Erfahrungstatsache ausgegangen werden, daß Personen, die sich dem Ruhestand nähern oder eine Pensionsleistung beantragen, zumindest ungefähre Vorstellungen von der zu erwartenden Pensionsleistung zu haben pflegen, sodaß ihnen zwar nicht jegliche Differenz, wohl aber ein grobes Mißverhältnis zwischen dieser - redlicherweise zusinnbaren - Erwartung und einer als "Pensionsvorschuß" ausbezahlten Leistung der Arbeitslosenversicherung auffallen muß. Ein solches grobes Mißverhältnis zwischen der Pensionshöhe und der als Pensionsvorschuß gewährten Leistung aus der Arbeitslosenversicherung könnte daher - sofern die Leistungsempfängerin keine besonderen Umstände, wie etwa durch Nachweis einer anderslautenden Auskunft des Pensionsversicherungsträgers zu ihren Gunsten ins Treffen zu führen vermöchte - ohne weiteres als Indiz dafür gelten, daß die ohne weitere Erkundigung dennoch erfolgte Entgegennahme und der Verbrauch der Leistung im Sinne des § 25 Abs 1 AlVG vorwerfbar und daher eine Rückforderung gerechtfertigt ist.
Da die belangte Behörde - ausgehend von ihrer unzutreffenden Rechtsauffassung - jene Umstände, nach denen nach Auffassung des erkennenden Senates zu beurteilen ist, ob die Beschwerdeführerin die teilweise Ungebühr des Bezuges eines Pensionsvorschusses hätte erkennen können, nicht geprüft hat, war der angefochtene Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994; aufgrund der Pauschalierung der
gebührenden Aufwandersätze in der genannten Verordnung kann dazu Umsatzsteuer nicht zuerkannt werden. Das diesbezügliche Mehrbegehren mußte daher abgewiesen werden.
Wien, am 20. Oktober 1998
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1998:1998080161.X00Im RIS seit
18.02.2002Zuletzt aktualisiert am
25.09.2012