TE Bvwg Erkenntnis 2019/5/27 I420 2208776-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.05.2019
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Entscheidungsdatum

27.05.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1 Z2
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
EMRK Art. 2
EMRK Art. 3
EMRK Art. 8
FPG §46
FPG §50 Abs1
FPG §50 Abs2
FPG §50 Abs3
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

I420 2208776-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Dr. Magdalena HONSIG-ERLENBURG als Einzelrichterin über die Beschwerde der XXXX alias XXXX, geb. XXXX alias XXXX alias XXXX, StA. Nigeria, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH und Volkshilfe Flüchtlings- und MigrantInnenbetreuung GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 17.09.2018, Zl. 1122907903-180688074/BMI-BFA_NOE_RD, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin, eine nigerianische Staatsangehörige, stellte im österreichischen Bundesgebiet am 16.07.2016 ihren ersten Antrag auf internationalen Schutz.

Zu ihrer Person lag zu Italien eine EURODAC-Treffermeldung vom 13.06.2016 (Kategorie 2, daktyloskopische Erfassung) vor.

Im Zuge der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes vom 17.07.2016 gab die Beschwerdeführerin an, dass es ihr gut gehe und dass sie der Einvernahme ohne Probleme folgen könne. Zu ihrer Reiseroute befragt führte sie aus, dass sie über Niger nach Libyen gereist sei, dort etwa drei Monate verbracht habe und schließlich auf dem Wasserweg nach Italien gelangt sei. In Italien habe sie sich etwa eine Woche lang aufgehalten bevor sie mit dem Zug weiter nach Österreich gereist sei. Italien habe sie nicht gemocht, da die Leute dort so viel trinken würden. Um Asyl habe sie in keinem anderen Land angesucht. Familienangehörige habe sie weder in Österreich noch in einem anderen Land der EU. Ihre Heimat habe sie wegen familiärer Probleme verlassen.

In der Folge richtete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 18.07.2016 ein auf Art. 13 Abs. 1 der Verordnung (EU) 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-VO) gestütztes Aufnahmegesuch an Italien.

Mit Schreiben vom 14.09.2016 stimmte die italienische Dublin-Behörde der Übernahme der Beschwerdeführerin zu.

Nach durchgeführter Rechtsberatung fand am 15.11.2016 im Beisein eines Rechtsberaters die niederschriftliche Einvernahme der Beschwerdeführerin vor dem BFA statt. Dabei gab die Beschwerdeführerin über Nachfrage an, dass sie sich körperlich und geistig in der Lage sehe, die Befragung durchzuführen. In Österreich bzw. im Bereich der EU, in Norwegen oder Island habe die Beschwerdeführerin keine Verwandten, zu denen eine besonders enge Beziehung oder ein Abhängigkeitsverhältnis bestehe. Auch lebe sie mit keiner sonstigen Person in einer Familiengemeinschaft. Befragt, ob es Gründe gebe, die einer Rückkehr nach Italien entgegenstünden, erklärte die Beschwerdeführerin, dass sie nicht nach Italien zurückgehe. Ihr habe der Ort dort nicht gefallen und es habe viele Schwierigkeiten gegeben. Es sei dort geraucht, getrunken und gekämpft worden. Nachgefragt, wer gekämpft habe, führte sie aus, dass dort viele Leute gewesen seien, die auf der Straße gekämpft hätten. Sie wisse nicht warum und sei nicht involviert gewesen. Auf die Möglichkeit zu den aktuellen Länderberichten zu Italien eine Stellungnahme abzugeben verzichte sie. Seitens des Rechtsberaters wurden keine Fragen gestellt und kein Vorbringen erstattet.

Mit Bescheid des BFA vom 17.01.2017 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Italien gemäß Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz zuständig sei (Spruchpunkt I.). Zudem wurde gemäß § 61 Abs. 1 FPG gegen die Beschwerdeführerin die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge gemäß § 61 Abs. 2 FPG die Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Italien zulässig sei (Spruchpunkt II.). Begründend führte das BFA zusammengefasst aus, dass gemäß Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO Italien für die inhaltliche Prüfung des gestellten Antrages auf internationalen Schutz zuständig sei. Ein im besonderen Maße substantiiertes, glaubhaftes Vorbringen, betreffend das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände, welche die Gefahr einer Verletzung von Art. 3 und/oder Art. 8 EMRK im Falle einer Überstellung der Beschwerdeführerin ernstlich für möglich erscheinen ließe, sei im Verfahren nicht erstattet worden. Die Regelvermutung des § 5 Abs. 3 AsylG sei nicht erschüttert worden und es habe sich kein Anlass zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO ergeben.

Gegen den Bescheid des BFA vom 17.01.2017 erhob die Beschwerdeführerin durch ihre Vertretung rechtzeitig das Rechtsmittel der Beschwerde und hielt im Wesentlichen fest, dass der Bescheid in vollem Umfang wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften angefochten werde. Inhaltlich wurde darauf verwiesen, dass die Beschwerdeführerin in Italien in einer nicht sicheren Flüchtlingsunterkunft untergerbacht gewesen sei. Es habe keinerlei Möglichkeit gegeben das Zimmer zu verschließen und so habe jederzeit jemand ein- und ausgehen können. Zwischen verschiedenen Gruppen von Asylwerbern habe es zahlreiche körperliche Auseinandersetzungen gegeben, des Weiteren seien die Verpflegung und die medizinische Versorgung mangelhaft gewesen. Die Behörde habe es verabsäumt, sich mit der konkreten Situation der Beschwerdeführerin, einer alleinstehende jungen Frau, auseinanderzusetzen und eine entsprechende Einzelfallprüfung vorzunehmen. Unter Verweis auf ausgewählte Judikatur, insbesondere auf eine Entscheidung des EGMR vom 04.11.2014 (Tarakhel vs. Switzerland, 29217/12), und auf Ausschnitte aus Berichten der UNHCR sowie der Schweizerischen Flüchtlingshilfe wurde festgehalten, dass die Unterbringungssituation in Italien für viele Dublin-Rückkehrer nicht geklärt und die Versorgungskapazitäten nicht ausreichend seien, sodass die Beschwerdeführerin ohne Einholung einer individuellen Zusicherung ihrer Versorgung und Unterbringung seitens der italienischen Behörden letztlich Gefahr laufe, im Falle einer Rückkehr nach Italien in eine Situation zu geraten, die unmenschlich und erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK und Art. 4 GRC sei. Die belangte Behörde hätte daher zwingend vom Selbsteintrittsrecht nach Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO Gebrauch machen und sich für die inhaltliche Führung des Asylverfahrens zuständig erklären müssen.

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22.02.2017, Zl. W240 2146652-1/2E, wurde die Beschwerde gegen den Bescheid des BFA vom 17.01.2017 gemäß § 5 AsylG 2005 und § 61 FPG als unbegründet abgewiesen.

Die geplante Überstellung der Beschwerdeführerin nach Italien am 23.02.2017 konnte nicht durchgeführt werden, da sie sich aus der Betreuungseinrichtung entfernte und im Bundesgebiet untertauchte, weshalb das Dublin-Verfahren per 22.02.2017 ausgesetzt wurde. Die Überstellungsfrist nach Italien endete mit 14.03.2018.

Am 20.07.2018 wurde die Beschwerdeführerin einer Personenkontrolle gemäß § 35 SPG in 1160 Wien unterzogen und es wurde festgestellt, dass gegen sie eine aufrechte Anordnung zur Außerlandesbringung vorgelegen ist.

Am 21.07.2018 wurde die Beschwerdeführerin vom BFA niederschriftlich einvernommen und zu ihrem Aufenthalt befragt. Die Beschwerdeführerin erklärte, dass ihr bewusst sei, dass gegen sie eine durchführbare Anordnung zur Außerlandesbringung bestehe. Sie sei jedoch nicht nach Italien ausgereist, da sie in Italien mit dem Umbringen bedroht worden sei, wenn sie nicht auf die Straße gehen würde und deswegen Angst habe. Sie wisse nicht ob die Leute, die sie bedroht hätten, noch in Italien seien und möchte einen Asylantrag stellen.

2. Am 21.07.2018 stellte die Beschwerdeführerin folglich einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz. Bei ihrer Einvernahme durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am selben Tag führte die Beschwerdeführerin an, dass ihr von der Person, welche sie nach Europa gebracht habe, versprochen worden sei, dass sie in Europa arbeiten könne. Dann habe man sie allerdings zur Prostitution zwingen wollen, damit sie die Schulden für die Reise (€ 35.000) bezahlen könne. Andere Probleme habe sie in Nigeria nicht.

Am 13.09.2018 wurde die Beschwerdeführerin durch das BFA niederschriftlich einvernommen und führte an, dass sie in einem Hotel in Nigeria gearbeitet habe und ihr eine Frau eine Arbeit in Italien versprochen habe. Sie sei dann nach Italien gegangen und die Frau habe von ihr € 35.000 für die Reise verlangt, welche sie nicht bezahlen habe können. Daraufhin sei sie zur Prostitution gezwungen worden. Sie habe sich aber geweigert und sei weggelaufen. Es könnte sein, dass diese Frau in Nigeria nach ihr suchen würde.

Mit Bescheid des BFA vom 17.09.2018 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz vom 21.07.2018 hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 Asylgesetz 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Nigeria abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde der Beschwerdeführerin gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG in Verbindung mit § 9 BFA-Verfahrensgesetz wurde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Nigeria gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt V.). Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt VI.). Das Vorbringen der Beschwerdeführerin wurde für nicht glaubhaft befunden.

Dagegen wurde fristgerecht am 18.10.2018 wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Verletzung von Verfahrensvorschriften Beschwerde erhoben und beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge gemäß § 24 VwGVG eine mündliche Verhandlung durch eine weibliche Richterin im Beisein einer weiblichen Dolmetscherin durchführen; den angefochtenen Bescheid hinsichtlich Spruchpunkt I. beheben und der Beschwerdeführerin Asyl zuerkennen; in eventu, den angefochtenen Bescheid hinsichtlich Spruchpunkt II. beheben und der Beschwerdeführerin subsidiären Schutz gewähren; feststellen, dass die Abschiebung nach Nigeria auf Dauer unzulässig ist sowie die erlassene Rückkehrentscheidung ersatzlos beheben; in eventu, den angefochtenen Bescheid gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG beheben und zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen.

Beschwerde und Verwaltungsakt wurden am 02.11.2018 dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:

Die Beschwerdeführerin ist Staatsangehörige Nigerias. Die Identität der Beschwerdeführerin steht nicht fest.

Der erste Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz vom 16.07.2016 wurde mit Bescheid des BFA vom 17.01.2017 gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen und ausgesprochen, dass Italien gemäß Art. 13 Abs. 1 Dublin III-VO für die Prüfung des Antrages auf internationalen Schutz zuständig sei (Spruchpunkt I.). Zudem wurde gemäß § 61 Abs. 1 FPG gegen die Beschwerdeführerin die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass demzufolge gemäß § 61 Abs. 2 FPG die Abschiebung der Beschwerdeführerin nach Italien zulässig sei (Spruchpunkt II.). Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22.02.2017, Zl. W240 2146652-1/2E, wurde die Beschwerde gegen diesen Bescheid des BFA gemäß § 5 AsylG 2005 und § 61 FPG als unbegründet abgewiesen.

Die Beschwerdeführerin hat das Bundesgebiet jedoch trotz Anordnung zur Außerlandesbringung zu keinem Zeitpunkt verlassen, ist untergetaucht und hielt sich bis zu ihrer zweiten Asylantragstellung am 21.07.2018 unrechtmäßig in Österreich auf.

Sie ist volljährig, bekennt sich zum christlichen Glauben und gehört der Volksgruppe der Urhobo an.

Die Beschwerdeführerin ist gesund und leidet weder an lebensbedrohlichen Krankheiten noch ist sie längerfristig pflege- oder rehabilitationsbedürftig und ist daher auch erwerbsfähig.

Die Beschwerdeführerin verfügt über eine Schulbildung, eine Ausbildung zur Friseurin und war in Nigeria als Reinigungskraft in einem Hotel tätig.

In Nigeria verfügt die Beschwerdeführerin über familiäre Anknüpfungspunkte, unter anderem leben ihre Eltern, ihr Sohn, ihre Brüder und ihre Schwestern noch dort.

Es leben keine Familienangehörigen oder Verwandten der Beschwerdeführerin in Österreich.

Die Beschwerdeführerin weist in Österreich keine maßgeblichen Integrationsmerkmale in sprachlicher, beruflicher und kultureller Hinsicht auf.

Die Beschwerdeführerin befindet sich in der Grundversorgung und ist nicht selbsterhaltungsfähig.

Die Beschwerdeführerin ist strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtmotiven der Beschwerdeführerin:

Die Beschwerdeführerin hatte vorgebracht, Opfer von Menschenhandel zu sein, doch ist dies nicht glaubhaft und muss jedenfalls festgestellt werden, dass sie im Falle der Rückkehr nach Nigeria keine Verfolgung zu befürchten hat. Es ist nicht davon auszugehen, dass sie im Falle einer Rückkehr Gefahr liefe, von der Frau, welche ihre Ausreise organisiert und sie in Italien zur Prostitution gezwungen habe, bedroht, zur Prostitution gezwungen oder andersweitig verfolgt zu werden.

Es kann somit insgesamt nicht festgestellt werden, dass die Beschwerdeführerin in Nigeria aufgrund ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung verfolgt wurde oder werden wird.

Bei der Beschwerdeführerin handelt es sich um eine gesunde, arbeitsfähige Frau und besteht keine reale Gefahr, dass sie im Falle einer Rückkehr nach Nigeria in eine existenzbedrohende Lage oder eine sonstige unmenschliche Situation geraten würde.

1.3. Zur allgemeinen Situation in Nigeria:

Hinsichtlich der aktuellen Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführerin sind gegenüber den im angefochtenen Bescheid vom 17.09.2018 getroffenen Feststellungen keine entscheidungsmaßgeblichen Änderungen eingetreten. Das Länderinformationsblatt zu Nigeria wurde per 12.04.2019 zwar einer Gesamtaktualisierung unterzogen, allerdings ergibt sich daraus keine wesentliche Veränderung der Situation für die Beschwerdeführerin im Fall einer Rückkehr.

1. Politische Lage:

Nigeria ist in 36 Bundesstaaten (ÖB 10.2018; vgl. AA 10.12.2018; AA 9.2018a; GIZ 4.2019a) und einen Bundeshauptstadtbezirk sowie 774 Local Government Areas (LGA/Bezirke) untergliedert. Die Bundesstaaten werden von direkt gewählten Gouverneuren regiert (AA 12.10.2018; vgl. AA 9.2018a; GIZ 4.2019a). Sie verfügen auch über direkt gewählte Parlamente (AA 9.2018a).

Nigeria verfügt über ein Mehrparteiensystem. Die am System der USA orientierte Verfassung enthält alle Attribute eines demokratischen Rechtsstaates (inkl. Grundrechtskatalog, Gewaltenteilung). Dem starken Präsidenten - zugleich Oberbefehlshaber der Streitkräfte - und dem Vizepräsidenten stehen ein aus Senat und Repräsentantenhaus bestehendes Parlament und eine unabhängige Justiz gegenüber (AA 10.12.2018; vgl. AA 9.2018a). Die Verfassungswirklichkeit wird von der Exekutive in Gestalt des direkt gewählten Präsidenten und von den direkt gewählten Gouverneuren dominiert. Der Kampf um politische Ämter wird mit großer Intensität, häufig auch mit undemokratischen, gewaltsamen Mitteln geführt. Die Justiz ist der Einflussnahme von Exekutive und Legislative sowie einzelner politischer Führungspersonen ausgesetzt (AA 10.12.2018).

Die Parteienzugehörigkeit orientiert sich meist an Führungspersonen, ethnischer Zugehörigkeit und vor allem strategischen Gesichtspunkten. Parteien werden primär als Zweckbündnisse zur Erlangung von Macht angesehen. Politische Führungskräfte wechseln die Partei, wenn sie andernorts bessere Erfolgschancen sehen. Entsprechend repräsentiert keine der Parteien eine eindeutige politische Richtung (AA 10.12.2018).

Bei den Präsidentschaftswahlen am 23.2.2019 wurde Amtsinhaber Muhammadu Buhari im Amt bestätigt (GIZ 4.2019a). Er erhielt 15,1 Millionen Stimmen und siegte in 19 Bundesstaaten, vor allem im Norden und Südwesten der Landes. Sein Herausforderer, Atiku Abubakar, erhielt 11,3 Millionen Stimmen und gewann in 17 Bundesstaaten im Südosten, im Middle-Belt sowie in der Hauptstadt Abuja (GIZ 4.2019a; vgl. BBC 26.2.2019). Die Wahlbeteiligung lag mit 36 Prozent deutlich niedriger als 2015. Überschattet wurden die Wahlen von gewaltsamen Zwischenfällen mit mindestens 53 Toten (GIZ 4.2019a).

Die Opposition sprach von Wahlmanipulation. Am 18.3.2019 focht Abubakar das Ergebnis aufgrund von Unregelmäßigkeiten vor dem Obersten Gerichtshof an. Das Verfahren muss gemäß der gesetzlichen Vorgaben innerhalb von 180 Tagen bis spätestens Mitte September abgeschlossen werden. Die Aussichten, dass die Beschwerde Erfolg hat, sind gering. So hatte Präsident Buhari nach den Wahlen von 2003, 2007 und 2011 als Oppositionskandidat ebenfalls vergleichbare Beschwerden eingelegt und diese verloren (GIZ 4.2019a).

Am 9.3.2019 wurden Wahlen für Regionalparlamente und Gouverneure in 29 Bundesstaaten durchgeführt. In den restlichen sieben Bundesstaaten hatten die Gouverneurswahlen bereits in den Monaten zuvor stattgefunden. Auch hier kam es zu Unregelmäßigkeiten und gewaltsamen Ausschreitungen (GIZ 4.2019a). Kandidaten der APC von Präsident Buhari konnten 15 Gouverneursposten gewinnen, jene der oppositionellen PDP 14 (Stears 12.4.2019).

Neben der modernen Staatsgewalt haben auch die traditionellen Führer immer noch einen - wenn auch weitgehend informellen - Einfluss. Sie gelten als Kommunikationszentrum und moralische Instanz und können wichtige Vermittler in kommunalen und in religiös gefärbten Konflikten sein (AA 9.2018a).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (10.12.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand Oktober 2018)

-

AA - Auswärtiges Amt (9.2018a): Nigeria - Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/-/205844 , Zugriff 7.11.2018

-

BBC News (26.2.2019): Nigeria Presidential Elections Results 2019, https://www.bbc.co.uk/news/resources/idt-f0b25208-4a1d-4068-a204-940cbe88d1d3, Zugriff 12.4.2019

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (4.2019a): Nigeria - Geschichte und Staat, http://liportal.giz.de/nigeria/geschichte-staat.html, Zugriff 11.4.2019

-

ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2018): Asylländerbericht Nigeria

-Stears News (12.4.2019): Governorship Election Results, https://nigeriaelections.stearsng.com/governor/2019, Zugriff 12.4.2019

2. Sicherheitslage:

Es gibt in Nigeria keine klassischen Bürgerkriegsgebiete oder -parteien (AA 10.12.2018). Im Wesentlichen lassen sich mehrere Konfliktherde unterscheiden: Jener von Boko Haram im Nordosten; jener zwischen Hirten und Bauern im Middle-Belt; sowie Spannungen im Nigerdelta (AA 10.12.2018; vgl. EASO 11.2018a) und eskalierende Gewalt im Bundesstaat Zamfara (EASO 11.2018a). Außerdem gibt es im Südosten zwischen der Regierung und Igbo-Gruppen, die für ein unabhängiges Biafra eintreten, (EASO 11.2018a; vgl. AA 10.12.2018), sowie zwischen Armee und dem Islamic Movement in Nigeria (IMN) Spannungen (EASO 11.2018a). Die 2017 deutlich angespannte Lage im Südosten des Landes ("Biafra") hat sich mit dem Eingriff des Militärs und der mutmaßlichen Flucht des Anführers der stärksten separatistischen Gruppe IPOB derzeit wieder beruhigt (AA 10.12.2018).

In den nordöstlichen Bundesstaaten Adamawa, Borno, Gombe und Yobe kommt es häufig zu Selbstmordanschlägen (BMEIA 12.4.2019). Außenministerien warnen vor Reisen dorthin sowie in den Bundesstaat Bauchi (BMEIA 12.4.2019; vgl. AA 12.4.2019; UKFCO 12.4.2019). Vom deutschen Auswärtige Amt wird darüber hinaus von nicht notwendigen Reisen in die übrigen Landesteile Nordnigerias abgeraten (AA 12.4.2019).

Zu Entführungen und Raubüberfällen kommt es im Nigerdelta und einigen nördlichen Bundesstaaten. Betroffen sind: Abia, Akwa Ibom, Anambra, Bauchi, Bayelsa, Cross River, Delta, Ebonyi, Enugu, Imo, Jigawa, Kaduna, Kano, Katsina, Kogi, Nasarawa, Plateau, Rivers und Zamfara. Für die erwähnten nordöstlichen und nördlichen Bundesstaaten sowie jenen im Nigerdelta gelegenen gilt seitens des österreichischen Außenministeriums eine partielle Reisewarnung; Hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3) in den übrigen Landesteilen (BMEIA 12.4.2019).

Das deutsche Auswärtige Amt rät von Reisen in die Bundesstaaten Kaduna (insbesondere Süd-Kaduna), Plateau, Nasarawa, Benue, Delta, Bayelsa, Rivers, Imo (insbesondere die Hauptstadt Owerri), Abia, Anambra, Ebonyi, Edo, Enugu, Delta, Kogi, den südlichen Teil von Cross Rivers, Ogun und Akwa Ibom ab (AA 12.4.2019). Das britische Außenministerium warnt (neben den oben erwähnten nördlichen Staaten) vor Reisen in die am Fluss gelegenen Regionen der Bundesstaaten Delta, Bayelsa, Rivers, Akwa Ibom and Cross River im Nigerdelta. Abgeraten wird außerdem von allen nicht notwendigen Reisen in die Bundesstaaten Bauchi, Zamfara, Kano, Kaduna, Jigawa, Katsina, Kogi, Abia, im 20km Grenzstreifen zum Niger in den Bundesstaaten Sokoto und Kebbi, nicht am Fluss gelegene Gebiete von Delta, Bayelsa und Rivers (UKFCO 29.11.2018).

In Nigeria können in allen Regionen unvorhersehbare lokale Konflikte aufbrechen. Ursachen und Anlässe der Konflikte sind meist politischer, wirtschaftlicher, religiöser oder ethnischer Art. Meist dauern diese Auseinandersetzungen nur wenige Tage und sind auf einzelne Orte bzw. einzelne Stadtteile begrenzt. Insbesondere die Bundesstaaten Zamfara, das Sokoto (Nordteil) und Plateau (Südteil) sind derzeit von bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen (AA 12.4.2019).

In der Zeitspanne April 2018 bis April 2019 stechen folgende nigerianische Bundesstaaten mit einer hohen Anzahl an Toten durch

Gewaltakte besonders hervor: Borno (2.333), Zamfara (1.116), Kaduna (662), Benue (412), Adamawa (402), Plateau (391). Folgende

Bundesstaaten stechen mit einer niedrigen Zahl hervor: Jigawa (2), Gombe (2), Kebbi (3) und Osun (8) (CFR 2019).

Quellen:

-

AA - Auswärtiges Amt (10.12.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand Oktober 2018)

-

AA - Auswärtiges Amt (12.4.2019): Nigeria - Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/nigeriasicherheit/205788#content_6 , Zugriff 12.4.2019

-

BMEIA - Österreichisches Außenministerium (12.4.2019):

Reiseinformationen - Nigeria,

https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/nigeria/, Zugriff 12.4.2019

-

CFR - Council on Foreign Relations (2019): Nigeria Security Tracker,

https://www.cfr.org/nigeria/nigeria-security-tracker/p29483, Zugriff 12.4.2019

-

EASO - European Asylum Support Office (11.2018a): Country of Origin Information Report - Nigeria - Security Situation, https://www.ecoi.net/en/file/local/2001366/2018_EASO_COI_Nigeria_SecuritySituation.pdf, Zugriff 12.4.2019

-

UKFCO - United Kingdom Foreign and Commonwealth Office (12.4.2019): Foreign Travel Advice - Nigeria - summary, https://www.gov.uk/foreign-travel-advice/nigeria, Zugriff 12.4.2019

3. Rechtsschutz / Justizwesen:

Die Verfassung unterscheidet zwischen Bundesgerichten, Gerichten des Hauptstadtbezirks sowie Gerichten der 36 Bundesstaaten (AA 10.12.2018). Letztere haben die Befugnis, per Gesetz erstinstanzliche Gerichte einzusetzen (AA 10.12.2018; vgl. ÖB 10.2018). Daneben bestehen noch für jede der 774 LGAs eigene Bezirksgerichte (District Courts) (ÖB 10.2018). Bundesgerichte, die nur staatlich kodifiziertes Recht anwenden, sind der Federal High Court (Gesetzgebungsmaterie des Bundes, Steuer-, Körperschafts- und auch Verwaltungssachen), der Court of Appeal (Berufungssachen u.a. der State Court of Appeal und der State Sharia and Customary Court of Appeal) sowie der Supreme Court (Revisionssachen, Organklagen) (AA 10.12.2018). Für Militärangehörige gibt es eigene Militärgerichte (USDOS 13.3.2019).

Mit Einführung der erweiterten Scharia-Gesetzgebung in neun nördlichen Bundesstaaten sowie den überwiegend muslimischen Teilen dreier weiterer Bundesstaaten 2000/2001 haben die staatlichen Schariagerichte strafrechtliche Befugnisse erhalten, während sie zuvor auf das islamische Personenstandsrecht beschränkt waren (AA 10.12.2018). Laut Bundesverfassung wird die Verfassung und Zuständigkeit der Gerichte seit 1999 betreffend das anzuwendende Rechtssystem ("Common Law" oder "Customary Law") durch Gesetze der Gliedstaaten festgestellt. Einzelne Bundesstaaten haben "Scharia-Gerichte" neben "Common Law"- und "Customary Courts" geschaffen. Mehrere Bundesstaaten, einschließlich die gemischt-konfessionellen Bundesstaaten Benue und Plateau, haben auch Scharia-Berufungsgerichte eingerichtet (ÖB 10.2018).

Die Verfassung sieht Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz vor (AA 10.12.2018; vgl. FH 1.2019; ÖB 10.2018; USDOS 13.3.2019). In der Realität ist die Justiz allerdings der Einflussnahme von Exekutive und Legislative sowie einzelner politischer Führungspersonen ausgesetzt (AA 10.12.2018; vgl. USDOS 13.3.2019; FH 1.2019). Vor allem auf Bundesstaats- und Bezirksebene (LGA) versuchen Politiker die Justiz zu beeinflussen (USDOS 13.3.2019). Die insgesamt zu geringe personelle und finanzielle Ausstattung sowie mangelnde Ausbildung behindern die Funktionsfähigkeit des Justizapparats und machen ihn chronisch korruptionsanfällig (AA 10.12.2018; vgl. FH 1.2019; USDOS 13.3.2019; ÖB 10.2018). Die Gehälter im Justizbereich sind niedrig, und es mangelt an Infrastruktur (ÖB 10.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Zusätzlich widersprechen sich die Rechtssysteme mitunter (ÖB 10.2018). Trotz allem hat die Justiz in der Praxis ein gewisses Maß an Unabhängigkeit und Professionalität erreicht (FH 1.2019).

Eine willkürliche Strafverfolgung bzw. Strafzumessungspraxis durch Polizei und Justiz, die nach Rasse, Nationalität o. ä. diskriminiert, ist nicht erkennbar. Das bestehende System benachteiligt jedoch tendenziell Ungebildete und Arme, die sich weder von Beschuldigungen freikaufen noch eine Freilassung auf Kaution erwirken oder sich einen Rechtsbeistand leisten können. Zudem ist vielen eine angemessene Wahrung ihrer Rechte auf Grund von fehlenden Kenntnissen selbst elementarster Grund- und Verfahrensrechte nicht möglich (AA 10.12.2018). Gesetzlich vorgesehen sind prozessuale Rechte wie die Unschuldsvermutung, zeitnahe Information über die Anklagepunkte, das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren, das Recht auf einen Anwalt, das Recht auf ausreichende Zeit zur Vorbereitung der Verteidigung, Zeugen zu befragen und das Recht auf Berufung. Diese Rechte werden jedoch nicht immer gewährleistet (USDOS 13.3.2019). Auch der gesetzlich garantierte Zugang zu einem Rechtsbeistand oder zu Familienangehörigen wird nicht immer ermöglicht (AA 10.12.2018).

Der Zugang zu staatlicher Prozesskostenhilfe ist in Nigeria beschränkt: Das Institut der Pflichtverteidigung wurde erst vor kurzem in einigen Bundesstaaten eingeführt. Lediglich in den Landeshauptstädten existieren NGOs, die sich zum Teil mit staatlicher Förderung der rechtlichen Beratung von Beschuldigten bzw. Angeklagten annehmen. Gerade in den ländlichen Gebieten gibt es jedoch zahlreiche Verfahren, bei denen Beschuldigte und Angeklagte ohne rechtlichen Beistand mangels Kenntnis ihrer Rechte schutzlos bleiben (AA 10.12.2018). Das Recht auf ein zügiges Verfahren wird zwar von der Verfassung garantiert, ist jedoch kaum gewährleistet. Dauerinhaftierungen ohne Anklage oder Urteil, die sich teils über mehrere Jahre hinziehen, sind weit verbreitet (AA 10.12.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Entgegen gesetzlicher Vorgaben ist die Untersuchungshaft nicht selten länger als die maximal zu erwartende gesetzliche Höchststrafe des jeweils in Frage stehenden Delikts. Außerdem bleiben zahlreiche Häftlinge auch nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafen in Haft, weil ihre Vollzugsakten unauffindbar sind (AA 10.12.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (10.12.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand Oktober 2018)

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FH - Freedom House (1.2019): Freedom in the World 2018 - Nigeria, https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2019/nigeria, Zugriff 20.3.2019

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ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2018): Asylländerbericht Nigeria

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USDOS - U.S. Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Nigeria, https://www.ecoi.net/en/document/2004182.html, Zugriff 20.3.2019

3.1. Scharia:

Mit der Wiedereinführung des Scharia-Strafrechts auf landesgesetzlicher Ebene in den zwölf mehrheitlich muslimisch bewohnten nördlichen Bundesstaaten erhielten erstinstanzliche Scharia-Gerichte auch strafrechtliche Befugnisse (z.B. Verhängung von Körperstrafen bis hin zu Todesurteilen wie Steinigung); dies gilt allerdings grundsätzlich nur für Muslime (AA 10.12.2018). Scharia- bzw. gewohnheitsrechtliche Gerichte können nur angerufen werden, wenn beide Parteien einwilligen (ÖB 10.2018). Während Muslime sich den Scharia-Gerichten unterwerfen müssen, steht es Christen, die in den zwölf Bundesstaaten leben, frei, sich einem Scharia- oder staatlichen Gerichtsverfahren zu unterwerfen. Oft werden Scharia-Gerichte gewählt, da diese schneller zu einem Urteil kommen als die Gerichte des staatlichen Justizsystems (AA 9.2018a).

Den rigorosen Strafandrohungen der Scharia stehen ebenso rigorose Beweisanforderungen gegenüber, so dass bei prozedural einwandfreien Scharia-Verfahren ein für eine Verurteilung ausreichender Zeugenbeweis oft nicht zu führen ist. In der Vergangenheit ist es aufgrund der Komplexität des auch für viele Richter zunächst noch neuen islamischen Beweisrechts insbesondere in der Eingangsinstanz oft zu unbefriedigenden und mit Rechtsfehlern behafteten Urteilen gekommen. Allerdings erregten Ermittlungen und Anklagen wegen so genannter Hudud-Straftatbestände (z.B. außerehelicher Geschlechtsverkehr, Diebstahl, Straßenraub, Alkoholgenuss) in den letzten Jahren weit weniger öffentliche Aufmerksamkeit als noch in den ersten Jahren nach der Wiedereinführung des islamischen Strafrechts (AA 10.12.2018). Durch eine bessere Ausbildung der Richterschaft und Entpolitisierung des strafrechtlichen Aspekts der Scharia sind spektakuläre Fälle in den letzten Jahren nicht mehr zu verzeichnen (AA 9.2018a).

Die Scharia-Berufungsgerichte wandeln konsistent Steinigungs- und Amputationsurteile in andere Strafen um. Es gab keine Berichte über durchgeführte Prügelstrafen im Jahr 2018 (USDOS 13.3.2019). Der Scharia-Instanzenzug endet auf der Ebene eines Landesberufungsgerichts, gegen dessen Urteile Rechtsmittel vor dem (säkularen) Bundesberufungsgericht in Abuja zulässig sind (AA 10.12.2018). Urteile von Scharia-Gerichten können somit auch im formalen Rechtssystem angefochten werden, die Umwandlung der Steinigungs- und Amputationsurteile erfolgt allerdings aus prozessualen und Beweisgründen, ein grundsätzlicher Verstoß gegen die Verfassung wird bis dato nicht hinterfragt (USDOS 13.3.2019).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (10.12.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand Oktober 2018)

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AA - Auswärtiges Amt (9.2018a): Nigeria - Innenpolitik, https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/nigeria-node/-/205844 , Zugriff 7.11.2018

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ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2018): Asylländerbericht Nigeria

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USDOS - U.S. Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Nigeria, https://www.ecoi.net/en/document/2004182.html, Zugriff 20.3.2019

4. Sicherheitsbehörden:

Die allgemeinen Polizei- und Ordnungsaufgaben obliegen der rund 360.000 Mann starken (Bundes-) Polizei (National Police Force - NPF), die dem Generalinspekteur der Polizei in Abuja untersteht (AA 10.12.2018; vgl. USDOS 13.3.2019). Zusätzlich zu der üblichen polizeilichen Verantwortung zur Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung in den Bundesstaaten und im Federal Capital Territory (FCT) unterstehen dem Generalinspekteur die Strafverfolgungsbehörden im ganzen Land, die in Grenzschutz, Terrorismusbekämpfung und Marineangelegenheiten (Navigation) involviert sind (USDOS 13.3.2019). Etwa 100.000 Polizisten sollen bei Personen des öffentlichen Lebens und einflussreichen Privatpersonen als Sicherheitskräfte tätig sein (AA 10.12.2018).

Neben der Polizei werden im Inneren auch Militär, Staatsschutz sowie paramilitärische Einheiten (sogenannte Rapid Response Squads) eingesetzt (AA 10.12.2018). Das Department of State Service (DSS), das via nationalem Sicherheitsberater dem Präsidenten unterstellt ist, ist ebenfalls für die innere Sicherheit zuständig. Polizei, DSS und Militär sind zivilen Autoritäten unterstellt, sie operieren jedoch zeitweise außerhalb ziviler Kontrolle (USDOS 13.3.2019). Die National Drug Law Enforcement Agency (NDLEA) ist für alle Straftaten in Zusammenhang mit Drogen zuständig. Der NDLEA, in deren Zuständigkeit Dekret 33 fällt, wird Professionalität konstatiert (ÖB 10.2018).

Die NPF und die Mobile Police (MOPOL) zeichnen sich hingegen durch geringe Professionalität, mangelnde Disziplin, häufige Willkür und geringen Diensteifer aus (ÖB 10.2018). Die Polizei ist durch niedrige Besoldung sowie schlechte Ausrüstung, Ausbildung und Unterbringung gekennzeichnet. Die staatlichen Ordnungskräfte sind personell, technisch und finanziell nicht in der Lage, die Gewaltkriminalität umfassend zu kontrollieren bzw. einzudämmen. Zudem sind nach allgemeiner Auffassung die Sicherheitskräfte teilweise selbst für die Kriminalität verantwortlich (AA 10.12.2018). Da die Polizei oft nicht in der Lage ist, durch gesellschaftliche Konflikte verursachte Gewalt zu unterbinden, verlässt sich die Regierung in vielen Fällen auf die Unterstützung durch die Armee (USDOS 13.3.2019). Jedoch sind im Allgemeinen die nigerianischen Behörden gewillt und fähig, Schutz vor nichtstaatlichen Akteuren zu bieten (UKHO 8.2016a).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (10.12.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand Oktober 2018)

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ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2018): Asylländerbericht Nigeria

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UKHO - United Kingdom Home Office (8.2016a): Country Information and Guidance Nigeria: Women fearing gender-based harm or violence, https://www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/595734/CIG_-_Nigeria_-_Women.pdf, Zugriff 13.11.2018

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USDOS - U.S. Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Nigeria, https://www.ecoi.net/en/document/2004182.html, Zugriff 20.3.2019

5. Folter und unmenschliche Behandlung:

Durch Verfassung und Gesetze sind Folter und andere unmenschliche Behandlungen verboten. Seit Dezember 2017 sind gemäß Anti-Folter-Gesetz Strafen vorgesehen. Gesetzlich ist die Verwendung von unter Folter erlangten Geständnissen in Prozessen nicht erlaubt. Die Behörden respektieren diese Regelung jedoch nicht (USDOS 13.3.2019).

Die nigerianischen Sicherheitskräfte sehen sich immer wieder mit dem Vorwurf konfrontiert, schwerste Menschenrechtsverletzungen zu begehen: Allen glaubwürdigen Hinweisen zufolge gehören Folter, willkürliche Verhaftungen und extralegale Tötungen nach wie vor zum Handlungsrepertoire staatlicher Sicherheitsorgane (AA 10.12.2018; vgl. AI 22.2.2018; USDOS 13.3.2019), unter denen insbesondere die ärmeren Bevölkerungsschichten zu leiden haben (AA 10.12.2018). Neben der Polizei wird auch dem Militär vorgeworfen, extralegale Tötungen, Folter und andere Misshandlungen anzuwenden, unter anderem bei Operationen gegen Aufständische im Nordosten und gegen separatistische Bewegungen im Südosten (FH 1.2019). Als Reaktion auf Angriffe der Boko Haram und ISIS-WA begehen die Sicherheitskräfte außergerichtliche Hinrichtungen und wenden Folter, sexuelle Ausbeutung und Misshandlung, willkürliche Haft, Misshandlung von Gefangenen an. Es kommt auch zu Plünderungen und Zerstörung von Eigentum (USDOS 19.9.2018). Die Sicherheitskräfte bleiben bei Vergehen weitgehend straffrei (USDOS 13.3.2019). Das Vertrauen in den Sicherheitsapparat ist durch immer wieder gemeldete Fälle von widerrechtlichen Tötungen, Folter und unmenschlicher Behandlung in Polizeihaft unterentwickelt (ÖB 10.2018).

Extralegale Tötungen seitens der Sicherheitskräfte sind nach wie vor festzustellen, deren Zahl ist aber tendenziell rückläufig. 2012 waren es ca. 5.000 Fälle. Trotzdem gibt es immer noch eine hohe Zahl an extralegalen Tötungen durch die Polizei, manche NGOs schätzen die aktuelle Zahl sogar höher als jene aus 2012 (AA 10.12.2018). Die Special Anti-Robbery Squad (SARS) geht brutal gegen Verdächtige vor. Häufig kommt es zu Folter, erzwungenen Geständnissen oder Tötungen unter dem Vorwand, dass Häftlinge fliehen wollten (AA 10.12.2018; vgl. GIZ 4.2019a; USDOS 13.3.2019). Die nationale Menschenrechtskommission untersucht derzeit diese Polizeieinheit. Sie wurde bereits einer Umstrukturierung unterzogen, deren Auswirkungen noch nicht eingeschätzt werden können. Dabei handeln die Täter in der Gewissheit weitgehender Straflosigkeit, da es nur in den seltensten Fällen zu unabhängigen Untersuchungen, geschweige denn zu disziplinar- oder gar strafrechtlichen Konsequenzen kommt. Wenn Polizisten beschuldigt werden, an extralegalen Tötungen beteiligt zu sein, werden sie durch ihre Vorgesetzten gedeckt und oft bewusst in andere Regionen versetzt, um eine Klärung der Vorwürfe zu verhindern. Hauptbetroffene sind in der Regel Personen, die eines Gewaltverbrechens verdächtig sind; diese werden nach dem Ablegen eines (häufig durch Folter erlangten) Geständnisses oft noch im Polizeigewahrsam exekutiert (AA 10.12.2018). Berichten zufolge führten Folter und andere Misshandlungen in einigen Fällen zum Tod in Gewahrsam (AI 22.2.2018). Immer wieder kommt es auch vor, dass Sicherheitskräfte an von ihnen errichteten Straßensperren unvermittelt das Feuer eröffnen, etwa wenn sich jemand weigert, ein gefordertes Schmiergeld zu zahlen (AA 10.12.2018).

Es gibt Berichte über Verschwindenlassen (AI 22.2.2018). Gesicherte Erkenntnisse über systematisches Verschwindenlassen unliebsamer Personen durch staatliche Organe liegen nicht vor. Nigerianische Menschenrechtsgruppen werfen regelmäßig insbesondere der Polizei das Verschwindenlassen von Untersuchungshäftlingen und anderen in Polizeigewahrsam befindlichen Personen vor. Es wird von Fällen von Verschwindenlassen angeblicher Boko Haram-Mitglieder im Norden des Landes berichtet, dafür wird u.a. die Joint Task Force verantwortlich gemacht. Überhaupt gehen Polizei und Militär bei der Bekämpfung von Boko Haram häufig mit unverhältnismäßiger Härte vor (AA 10.12.2018).

Die Polizei versucht mittels Misshandlungen von Zivilisten von diesen Geld zu erpressen (USDOS 13.3.2019). Es kommt also trotz Folterverbots in der Verfassung oft zu teilweise schweren Misshandlungen von (willkürlich) Inhaftierten, Untersuchungshäftlingen, Gefängnisinsassen und anderen Personen im Gewahrsam der Sicherheitsorgane. Die Gründe für dieses Verhalten liegen zum einen in der nur schwach ausgeprägten Menschenrechtskultur der Sicherheitskräfte, zum anderen in der mangelhaften Ausrüstung, Ausbildung und Ausstattung insbesondere der Polizei, was sie in vielen Fällen zu dem illegalen Mittel der gewaltsamen Erpressung von Geständnissen als einzigem erfolgversprechenden Weg der "Beweisführung" greifen lässt. Die große Zahl glaubhafter und übereinstimmender Berichte über die Anwendung von Folter in Gefängnissen und Polizeistationen im ganzen Land, die von forensischen Befunden gestützt und von der Polizei teilweise zugegeben werden, bestätigen den Eindruck, die Anwendung von Folter sei ein integraler Bestandteil der Arbeit der Sicherheitsorgane (AA 10.12.2018).

Verfassung und Gesetze verbieten willkürliche Verhaftungen, dennoch praktizieren Polizei und Sicherheitskräfte diese Praktiken. Beim Kampf gegen Boko Haram wurden im Nordosten Nigerias seit 2013 tausende Personen willkürlich inhaftiert. Sie befinden sich in nicht überwachten militärischen Haftanstalten (USDOS 13.3.2019). Zahlreiche Kinder und Jugendliche wurden - ohne Anklageschrift oder Verurteilung - inhaftiert (AA 10.12.2018). Die Armee inhaftierte Hunderte von Frauen rechtswidrig und ohne Anklage, u. a. weil man annahm, sie seien mit Mitgliedern von Boko Haram verwandt. Unter den Inhaftierten waren auch Frauen und Mädchen, die angaben, Opfer von Boko Haram geworden zu sein (AI 22.2.2018).

Frauen und Kinder gerieten in den vergangenen zwei Jahren zunehmend ins Visier von Boko Haram. Die Regierung des nordöstlichen Bundesstaats Borno schätzt die Zahl der von Boko Haram entführten Frauen und Mädchen auf insgesamt 3.000. Im Oktober 2016 und Mai 2017 sind über hundert der 2014 aus Chibok entführten Mädchen freigelassen worden. Im März 2018 wurden 110 Mädchen aus einer Schule in Dapchi entführt, die meisten kamen kurz darauf wieder frei. Boko Haram setzt außerdem Kinder gezielt als Lastenträger, in Kampfhandlungen und insbesondere Mädchen für Selbstmordattentate ein. Mädchen werden zudem häufig sexuell missbraucht und an Mitglieder der Boko Haram zwangsverheiratet (AA 10.12.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (10.12.2018): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria (Stand Oktober 2018)

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AI - Amnesty International (22.2.2018): Amnesty International Report 2017/18 - The State of the World's Human Rights - Nigeria, https://www.ecoi.net/de/dokument/1425079.html, Zugriff 8.11.2018

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FH - Freedom House (1.2019): Freedom in the World 2018 - Nigeria, https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2019/nigeria, Zugriff 20.3.2019

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (4.2019a): Nigeria - Geschichte und Staat, http://liportal.giz.de/nigeria/geschichte-staat.html, Zugriff 11.4.2019

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ÖB - Österreichische Botschaft Abuja (10.2018): Asylländerbericht Nigeria

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USDOS - U.S. Department of State (13.3.2019): Country Report on Human Rights Practices 2018 - Nigeria, https://www.ecoi.net/en/document

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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