Entscheidungsdatum
14.06.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs1 Z3Spruch
I421 2171105-1/17E
Schriftliche Ausfertigung des am 20.05.2019 mündlich verkündeten Erkenntnisses
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Martin STEINLECHNER als Einzelrichter über die Beschwerden des XXXX, geb. XXXX, StA. IRAK, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, Außenstelle Wien vom XXXX, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 20.05.2019, zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer stellte nach illegaler Einreise in Österreich am 21.09.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz.
Am 24.09.2015 wurde er durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes einvernommen. Zu seinem Fluchtgrund befragt gab er an, dass er im Irak eine Firma gehabt habe und von der "Mafia" zu Schutzgeldzahlungen erpresst worden sei. Es sei zu Streit sowie Drohungen und schlussendlich zu einer Messerstecherei gekommen. Er habe ins Gefängnis gehen müssen und sei daraufhin geflohen.
Mit Schreiben vom 22.02.2016 erklärte der Beschwerdeführer das österreichische Bundesgebiet freiwillig verlassen und in sein Heimatland zurückzukehren bzw. in einen anderen aufnahmebereiten Drittstaat ausreißen zu wollen.
In einer niederschriftlichen Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) am 10.08.2017 gab der Beschwerdeführer an, dass er im Irak ein Geschäft (Pay-TV) betrieben habe, welches sehr gut gelaufen sei. Am 01.01.2015 sei er von einer Gruppe von vier Personen aufgesucht, beschimpft und geschlagen worden. Man habe ihm vorgeworfen, dass er Sender mit sexuellen Inhalten anbiete. Nachdem jedoch keine entsprechenden Unterlagen gefunden worden seien, habe man ihm mitgeteilt, dass die Beschwerden betreffend seinen Laden den Vorgesetzten noch nicht erreicht hätten, man alles noch gerade rücken könne, dies aber nicht umsonst sei und man habe das Geld aus seiner Kasse mitgenommen. Am 16.05.2015 sei die Gruppe neuerlich zu ihm gekommen und habe ihn mit einer Liebesszene aus einem von ihm ausgestrahlten Film konfrontiert. Daraufhin habe man wieder Geld aus seiner Kasse entnommen, angeblich um zu verhindern, dass die Person, welche ihn angezeigt hätte, das Video zum Büro der schiitischen Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq sende. Am 25.08.2015 sei der Fahrer der Gruppe alleine bei ihm aufgetaucht und entnahm den gesamten Inhalt der Kasse. Außerdem sei ihm mitgeteilt worden, dass man seine Wurzeln kenne und man diese noch nicht zum Thema gemacht habe. Sollte allerdings das Büro der Asa'ib Ahl al-Haqq davon erfahren, wäre es zu spät für ihn. Daraufhin sei es zu Handgreiflichkeiten zwischen ihm und dem Fahrer gekommen, Leute hätten sie getrennt. Der Fahrer sei zu seinem Auto gelaufen und habe ihm gedroht, dass seine Rechnung teuer werden würde. An diesem Abend sei sein Büro in Brand gesteckt worden. Er habe die Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq anzeigen wollen, aber man habe ihn bei der Polizei geraten Anzeige gegen unbekannt zu erstatten. Die Ermittlungen seien jedoch ergebnislos verlaufen. Am 05.09.2015 habe er dann schlussendlich Bagdad verlassen. Wer sein Geschäft demoliert und in Brand gesteckt habe, werde auch nicht davor zurückschrecken ihn zu töten. Er habe zunächst freiwillig ausreißen und in den Irak zurückkehren wollen, da es seiner Mutter gesundheitlich nicht gut gegangen sei. Allerdings habe man ihm gesagt, dass seine Rückkehr seiner Mutter nichts bringen würde und man ihn töten würde, weswegen er sich doch gegen eine Rückkehr entschieden habe.
Das BFA wies am 02.09.2017 mit Bescheid den Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz hinsichtlich des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Irak (Spruchpunkt II.) als unbegründet ab. Zugleich wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Dazu wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde eine Frist für seine freiwillige Ausreise von 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gewährt (Spruchpunkt IV.). Das Vorbringen des Beschwerdeführers wurde für nicht glaubhaft befunden.
Dagegen wurde fristgerecht am 14.09.2017 Beschwerde wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und Rechtswidrigkeit des Inhaltes erhoben. Es wurde beantragt das Bundesverwaltungsgericht möge eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchführen; gemäß § 3 den Status eines Asylberechtigten zuerkennen; gemäß § 8 AsylG den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen und eine befristete Aufenthaltsberechtigung gewähren; in eventu die Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 2 iVm Abs. 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklären; in eventu den angefochtenen Bescheid aufheben und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG zur Durchführung eines ordentlichen Ermittlungsverfahrens an die Behörde erster Instanz zurückverweisen.
Mit Schreiben vom 16.08.2017 langte eine Stellungnahme des Beschwerdeführers zu den Länderberichten beim BFA ein. Er erklärte, dass er von Mitgliedern der Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq persönlich und konkret bedroht worden sei. Diese Miliz gehe gegen Feinde und Andersgläubige sehr brutal vor. Auch die irakische Polizei habe große Angst vor der Gruppe. Der Beschwerdeführer verwies diesbezüglich auf zahlreiche Berichte.
Mit Schriftsatz vom 19.09.2017, beim Bundesverwaltungsgericht eingelangt am 20.09.2017, legte das BFA dem Bundesverwaltungsgericht die Beschwerde samt Verwaltungsakt vor.
Aufgrund einer Änderung in der Geschäftsverteilung wurde die Rechtssache mit 25.09.2018 der Gerichtsabteilung I407 des erkennenden Richters zugeteilt.
Das Bundesverwaltungsgericht führte am 20.05.2019 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch. Im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Arabisch wurde der Beschwerdeführer u.a. zu seiner Identität, zur aktuellen Situation im Herkunftsstaat, zu den Fluchtgründen sowie zu seinem Leben in Österreich ausführlich befragt. Der Beschwerdeführer gab an, dass seine bisherigen Angaben richtig gewesen seien und er diese aufrecht halte. Im Irak sei er mehrmals von Mitgliedern einer Miliz aufgesucht worden und habe diesen viel Geld aushändigen müssen. Eines Tages habe er den Fahrer geschlagen und sein Geld zurückverlangt. Daraufhin sei seine Firma niedergebrannt worden. Er habe auch Anzeige bei der Polizei erstattet. Die Schwierigkeiten zwischen Sunniten und Schiiten seien seit es den IS und die Amerikaner im Irak nicht mehr gebe, weniger geworden. Sein Vater sei Sunnit und seine Mutter Schiitin und die Familie lebe in einem gemischten Bezirk in Bagdad. Bei einer Rückkehr würde er zwar nicht gleich am Flughafen angegriffen werden, aber seine Verfolger würden ihn in Bagdad oder im Irak angreifen. In Österreich habe er eine Freundin, habe ca. ein Jahr lang selbstständig ein Gewerbe geführt, besuche einen Vorstudienlehrgang und lerne Deutsch.
Im Anschluss an die Verhandlung wurde das gegenständliche Erkenntnis mündlich verkündet.
Mit Schreiben vom 24.05.2019 wurde vom Beschwerdeführer die schriftliche Ausfertigung des gegenständlichen Erkenntnisses beantragt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Die Identität des Beschwerdeführers steht fest. Er ist irakischer Staatsangehöriger, Angehöriger der arabischen Volksgruppe, Moslem der sunnitischen Glaubensrichtung und ledig sowie kinderlos.
Der Beschwerdeführer hält sich nach illegaler Einreise seit spätestens 21.09.2015 in Österreich auf.
Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig.
Er stammt aus dem Bezirk XXXX in Bagdad und war dort vor der Ausreise wohnhaft.
Es leben noch Angehörige des Beschwerdeführers im Irak, nämlich seine Eltern und Geschwister sowie Onkel und Tanten. Er hat wöchentlich Kontakt zu seiner Familie.
Der Beschwerdeführer besuchte im Irak zwölf Jahre lang die Schule, verfügt über einen Maturaabschluss, studierte für ein Jahr Rechtswissenschaften an einer Universität und hat Arbeitserfahrung in verschiedenen Berufen (Arbeiter in einer Fabrik für Wasserdestillationen usw.), womit er sich seinen Lebensunterhalt verdienen konnte.
In Österreich verfügt der Beschwerdeführer über keine Verwandten und über keine maßgeblichen privaten und familiären Beziehungen. Er behauptet zwar seit eineinhalb Jahren eine Beziehung mit einer Österreicherin zu führen, allerdings lebe er mit dieser nicht zusammen und befinde sich diese aktuell für ein Praktikum in Amerika.
Der Beschwerdeführer ist um eine Integration in sprachlicher, beruflicher und gesellschaftlicher Hinsicht bemüht und hat zahlreiche Schritte gesetzt. So hat er einige Bekanntschaften geschlossen, hat eine ÖSD-Sprachprüfung Niveau A2 bestanden, spricht gut Deutsch, besucht seit 2016 das XXXX (Deutsch Niveau B1, Englisch, Mathematik sowie kritische Partizipation), ist Mitglied bei den "XXXX" und engagiert sich gemeinnützig, hat am Infomodul "ZusammenLeben" von XXXX teilgenommen, wurde zum Vorstudienlehrgang der Wiener Universität und zum Bachelorstudium Betriebswissenschaften zugelassen und war von 01.11.2017 bis 31.07.2018 selbstständig tätig. Allerdings führt er in Österreich kein Familienleben und kann insbesondere aufgrund der kurzen Dauer seines Aufenthaltes in Österreich noch nicht von einer nachhaltigen Verfestigung gesprochen werden.
Er geht in Österreich keiner Beschäftigung nach und bezieht Leistungen von der staatlichen Grundversorgung.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich nicht vorbestraft.
1.2. Zu den Fluchtmotiven des Beschwerdeführers:
Es war nicht feststellbar, dass der Beschwerdeführer, wie von ihm behauptet wurde, einer Verfolgung durch Mitglieder der schiitischen Miliz Asa'ib Ahl al-Haqq ausgesetzt war, da er als Anbieter von Pay-TV auch Sender mit sexuellem Inhalt ausgestrahlt habe und deswegen erpresst sowie geschlagen und schlussendlich auch sein Geschäft in Brand gesteckt worden sei.
Eine aus diesem Vorbringen behaupteter Weise resultierende Verfolgungsgefahr aus religiösen Gründen bei einer Rückkehr in den Irak war sohin nicht feststellbar.
Es kann insgesamt nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Irak aufgrund seiner Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder politischen Gesinnung verfolgt wurde oder werden würde.
1.3. Zur allgemeinen Situation im Irak:
Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen:
KI vom 9.4.2019, Parlamentswahlen vom 30.12.2018 (relevant für den Punkt Sicherheitslage):
Seit Sommer 2018 ist die Zahl der sicherheitsrelevanten Vorfälle im Irak zurückgegangen. Im Dezember 2018 wurde ein Rekordtief an Sicherheitsvorfällen registriert (Joel Wing 2.1.2019). Anfang 2019 ist diese Zahl wieder leicht angestiegen, wobei die Monate Jänner und Februar in etwa die gleichen Zahlen an Angriffen und Opfern aufweisen (Joel Wing 4.3.2019). Für März 2019 wurde die niedrigste, je vom Irak-Experten Joel Wing registriere Zahl von Sicherheitsvorfällen verzeichnet (Joel Wing 3.4.2019).
Der Islamische Staat (IS) ist im Irak weitestgehend auf Zellen von Aufständischen reduziert worden, die meist aus jenen Gebieten heraus operieren, die früher unter IS-Kontrolle standen, d.h. aus den Gouvernements Anbar, Diyala, Kirkuk, Ninewa und Salahaddin. Laut dem Institute for the Study of War (ISW) werden nur die Distrikte Shirqat und Tuz in Salahaddin, Makhmour in Erbil, Hawija und Daquq in Kirkuk, sowie Kifri und Khanaqin in Diyala als umkämpft angesehen (EASO 3.2019). Das ganze Jahr 2018 über führten IS-Kämpfer Streifzüge nach Anbar, Bagdad und Salahaddin durch, zogen sich dann aber im Winter aus diesen Gouvernements zurück. Die Anzahl der verzeichneten Übergriffe und zivilen Todesopfern sank daher im Vergleich zu den Vormonaten deutlich ab (Joel Wing 2.1.2019).
Aufständische haben mittlerweile die meisten ihrer Ressourcen aus Bagdad abgezogen, einst dasHauptziel des Terrorismus (Joel Wing 4.3.2019). Im Dezember 2018 wurden 15 sicherheitsrelevante Vorfälle mit zehn Toten (Joel Wing 2.1.2019) verzeichnet, bzw. 17 Tote und drei Verwundete (UNAMI 3.1.2019). Im Jänner 2019 wurden zwölf sicherheitsrelevante Vorfälle mit 13 Toten erfasst (Joel Wing 4.2.2019), im Februar dagegen nur noch sieben Vorfälle mit sieben Toten (Joel Wing 4.3.2019) und im März vier Vorfälle mit fünf Toten und fünf verletzten (Joel Wing 3.4.2019). Dabei handelte es sich meist um Schießereien/Schussattentate in den Vorstädten und Dörfern des Gouvernements (Joel Wing 4.3.2019).
Der IS behielt jedoch eine latente Präsenz nördlich von Bagdad und begann damit seine Unterstützungszone weiter auszubauen (ISW 7.3.2019). Er verfügt in Bagdad und den Bagdad Belts über mehrere aktive Zellen (EASO 3.2019). Der nördliche "Bagdad-Belt" dient dabei als Transferroute von Kämpfern zwischen den Gouvernements Anbar, Salahaddin und Diyala, während das sogenannte "Dreieck des Todes" im südlichen Bagdad-Belt IS-Gruppen in den Gouvernements Anbar, Bagdad und Babil verbindet. Irakische Sicherheitskräfte (ISF) haben seit Dezember 2018 mehrere IS-Kämpfer an Kontrollpunkten entlang der Autobahnen, die das Gouvernement Babil mit Bagdad verbindet, festgenommen und im Februar 2019 180 Personen mit Verbindungen zum IS verhaftet (ISW 7.3.2019).
Quellen:
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Kurdistan 24 (12.3.2019): WATCH: Clashes between Basra tribes kill, injure ten people,
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Liveuamap - Live Universal Awareness Map (13.3.2019): Map of Iraq, https://iraq.liveuamap.com/en/time/13.03.2019, Zugriff 13.3.2019
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OIR - Operation Inherent Resolve (29.3.2019): Fight is not over:
Iraqi clearances spearhead fight against Daesh in Iraq, https://www.inherentresolve.mil/Media-Library/News-Releases/Article/1799730/fight-is-notover-iraqi-clearances-spearhead-fight-against-daesh-in-iraq/, Zugriff 1.4.2019
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Reuters (21.12.2018): Police use live rounds to disperse protest in Iraq's Basra for second week, https://www.reuters.com/article/us-iraq-protests/police-use-live-rounds-to-disperseprotest-in-iraqs-basra-for-second-week-idUSKCN1OK29Q, Zugriff 13.3.2019
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The Guardian (18.7.2018): Protests spread through cities in Iraq's oil-rich Shia south,
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UNAMI - United Nations Assistance Mission for Iraq (3.1.2019): UN Casualty Figures for Iraq for the Month of December 2018, http://www.uniraq.org/index.php?
option=com_k2&view=item&id=10269:un-casualty-figures-for-iraq-for-the-month-of-december-2018&Itemid=633&lang=en, Zugriff 12.3.2019
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UNSC - United Nations Security Council (1.2.2019): Implementation of resolution 2421 (2018) Report of the Secretary-General, https://www.ecoi.net/en/file/local/2002890/S_2019_101_E.pdf, Zugriff 14.3.2019
Politische Lage:
Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018). Gemäß der Verfassung ist der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.2.2018), der aus 18 Provinzen (muhafazät) besteht (Fanack 27.9.2018). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Autonome Region Kurdistan ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaymaniya. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung, verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).
An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuwwab, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat), für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt. Zusammen bilden sie den Präsidialrat (Fanack 27.9.2018).
Teil der Exekutive ist auch der Ministerrat, der sich aus dem Premierminister und anderen Ministern der jeweiligen Bundesregierung zusammensetzt (Fanack 27.9.2018; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (RoI 15.10.2005).
Am 2.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih zum Präsidenten des Irak (DW 2.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (BBC 3.10.2018). Abd al-Mahdi ist seit 2005 der erste Premier, der nicht die Linie der schiitischen Da'wa-Partei vertritt, die seit dem Ende des Krieges eine zentrale Rolle in der Geschichte Landes übernommen hat. Er unterhält gute Beziehungen zu den USA. Der Iran hat sich seiner Ernennung nicht entgegengestellt (Guardian 3.10.2018).
Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik (Fanack 27.9.2018) . Im Gegensatz zum Präsidenten, dessen Rolle weitgehend zeremoniell ist, liegt beim Premierminister damit die eigentliche Exekutivgewalt (Guardian 3.10.2018).
Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 27.9.2018). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 17.10.2018; vgl. IRIS 11.5.2018).
Die konfessionell/ethnische Verteilung der politischen Spitzenposten ist nicht in der irakischen Verfassung festgeschrieben, aber seit 2005 üblich (Standard 3.10.2018). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnite, der Premierminister ist ein Schiite und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018).
In weiten Teilen der irakischen Bevölkerung herrscht erhebliche Desillusion gegenüber der politischen Führung (LSE 7.2018; vgl. IRIS 11.5.2018). Politikverdrossenheit ist weit verbreitet (Standard 13.5.2018). Dies hat sich auch in der niedrigen Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen im Mai 2018 gezeigt (WZ 12.5.2018). Der Konfessionalismus und die sogennante "Muhassasa", das komplizierte Proporzsystem, nach dem bisher Macht und Geld unter den Religionsgruppen, Ethnien und wichtigsten Stämmen im Irak verteilt wurden, gelten als Grund für Bereicherung, überbordende Korruption und einen Staat, der seinen Bürgern kaum Dienstleistungen wie Strom- und Wasserversorgung, ein Gesundheitswesen oder ein Bildungssystem bereitstellt (TA 12.5.2018).
Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten und Schiiten sowie Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.2.2018).
Die Zeit des Wahlkampfs im Frühjahr 2018 war nichtsdestotrotz von einem Moment des verhaltenen Optimismus gekennzeichnet, nach dem Sieg über den sogenannten Islamischen Staat (IS) im Dezember 2017 (ICG 9.5.2018). Am 9.12.2017 hatte Haider al-Abadi, der damalige irakische Premierminister, das Ende des Krieges gegen den IS ausgerufen (BBC 9.12.2017). Irakische Sicherheitskräfte hatten zuvor die letzten IS-Hochburgen in den Provinzen Anbar, Salah al-Din und Ninewa unter ihre Kontrolle gebracht. (UNSC 17.1.2018).
Quellen:
-
AA - Auswärtiges Amt (12.2.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, https://www.ecoi.net/en/file/local/1437719/4598_1531143225_deutschlandauswaertiges-amt-bericht-ueber-die-asyl-und-abschiebungsrelevante-lage-in-der-republik-irak-stand-dezember-2017-12-02-2018.pdf.
Zugriff 12.10.2018
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Al Jazeera (15.9.2018): Deadlock broken as Iraqi parliament elects speaker,
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BBC - British Broadcasting Corporation (9.12.2017): Iraq declares war with Islamic State is over, http://www.bbc.com/news/world-middle-east-42291985. Zugriff 18.10.2018
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BBC - British Broadcasting Corporation (3.10.2018): New Iraq President Barham Saleh names Adel Abdul Mahdi as PM, https://www.bbc.com/news/world-middle-east-45722528. Zugriff 18.10.2018
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CIA - Central Intelligence Agency (17.10.2018): The World Factbook
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Iraq,
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DW - Deutsche Welle (2.10.2018): Iraqi parliament elects Kurdish moderate Barham Salih as new president, https://www.dw.com/en/iraqi-parliament-elects-kurdish-moderate-barham-salihas-new-president/a-45733912, Zugriff 18.10.2018
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Fanack (27.9.2018): Governance & Politics of Iraq, https://fanack.com/iraq/governance-and- politics-of-iraq/. Zugriff 17.10.2018
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The Guardian (3.10.2018): Iraqi president names Adel Abdul-Mahdi as next prime minister,
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KAS - Konrad Adenauer Stiftung (2.5.2018): Mapping the Major Political Organizations and Actors in Iraq since 2003, http://www. kas.de/wf/doc/kas_52295-1522-1-30. pdf?180501131459, Zugriff 17.10.2018
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LSE - London School of Economics and Political Science (7.2018):
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Reuters (15.9.2018): Iraq parliament elects Sunni lawmaker al-Halbousi as speaker, breaking deadlock, https://www.reuters.com/article/us-iraq-politics/iraq-parliament-elects-sunni-lawmaker-al-halbousi-as-speaker-breaking-deadlock-idUSKCN1LV0BH.
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Rol - Republic of Iraq (15.10.2005): Constitution of the Republic of Iraq, http://www.refworld.org/docid/454f50804.html, Zugriff 18.10.2018
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Der Standard (13.5.2018): Wahlen im Irak: Al-Abadi laut Kreisen in Führung,
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Der Standard (3.10.2018): Neue alte Gesichter für Iraks Topjobs, https://derstandard.at/2000088607743/Neue-alte-Gesichter-fuer-Iraks-Topiobs. Zugriff 19.10.2018
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TA - Tagesanzeiger (12.5.2018): Im Bann des Misstrauens, https://www.tagesanzeiger.ch/ausland/naher-osten-und-afrika/im-bann-des-misstrauens/storv/ 29434606, Zugriff 18.10.2018
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UNSC - United Nations Security Council (17.1.2018): Report of the Secretary-General pursuant to resolution 2367 (2017), https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/N1800449.pdf, Zugriff 19.10.2018
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WZ - Wiener Zeitung (12.5.2018): Erste Wahl im Irak nach Sieg gegen IS stößt auf wenig Interesse, https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/welt/weltpolitik/964399_Erste-Wahl-im-Irak-nach-Sieg-gegen-IS-stoesst-auf-wenig-Interesse.html, Zugriff 23.10.2018
Parteienlandschaft:
Es gibt vier große schiitische politische Gruppierungen im Irak: die Islamische Da'wa-Partei, den Obersten Islamischen Rat im Irak (OIRI) (jetzt durch die Bildung der Hikma-Bewegung zersplittert), die Sadr-Bewegung und die Badr-Organisation. Diese Gruppen sind islamistischer Natur, sie halten die meisten Sitze im Parlament und stehen in Konkurrenz zueinander - eine Konkurrenz, die sich, trotz des gemeinsamen konfessionellen Hintergrunds und der gemeinsamen Geschichte im Kampf gegen Saddam Hussein, bisweilen auch in Gewalt niedergeschlagen hat (KAS 2.5.2018).
Die meisten politischen Parteien verfügen über einen bewaffneten Flügel oder werden einer Miliz zugeordnet (Niqash 7.7.2016; vgl. BP 17.12.2017) obwohl dies gemäß dem Parteiengesetz von 2015 verboten ist (Niqash 7.7.2016; vgl. WI 12.10.2015). Milizen streben jedoch danach, politische Parteien zu gründen (CGP 4.2018) und haben sich zu einer einflussreichen politischen Kraft entwickelt (Niqash 5.4.2018; vgl. Guardian 12.5.2018).
Die sunnitische politische Szene im Irak ist durch anhaltende Fragmentierung und Konflikt gekennzeichnet, zwischen Kräften, die auf Provinz-Ebene agieren, und solchen, die auf
Bundesebene agieren. Lokale sunnitische Kräfte haben sich als langlebiger erwiesen als nationale (KAS 2.5.2018)
Die politische Landschaft der Autonomen Region Kurdistan ist historisch von zwei großen Parteien geprägt: der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK). Dazu kommen Gorran ("Wandel"), eine 2009 gegründete Bewegung, die sich auf den Kampf gegen Korruption und Nepotismus konzentriert, sowie eine Reihe kleinere islamistische Parteien (KAS 2.5.2018).
Abgesehen von den großen konfessionell bzw. ethnisch dominierten Parteien des Irak, gibt es auch nennenswerte überkonfessionelle politische Gruppierungen. Unter diesen ist vor allem die Iraqiyya/Wataniyya Bewegung des Ayad Allawi von Bedeutung (KAS 2.5.2018).
Die Sitzverteilung im neu gewählten irakischen Parlament. Sairoon:
Unter der Führung des schiitischen Geistlichen Muqtada al-Sadrs, ist mit 54 Sitzen die größte im Parlament vertretene Gruppe, gefolgt von der Fath-Bewegung des Milizenführers Hadi al-Amiri und Haider al-Abadi's Nasr ("Victory")-Allianz (LSE 7.2018).
Die Wahl im Mai 2018 war von Vorwürfen von Unregelmäßigkeiten und Wahlbetrug begleitet (Al- Monitor 23.8.2018; vgl. Reuters 24.5.2018, Al Jazeera 6.6.2018). Eine manuelle Nachzählung der Stimmen, die daraufhin angeordnet wurde, ergab jedoch fast keinen Unterschied zu den zunächst verlautbarten Ergebnissen und bestätigte den Sieg von Muqtada al-Sadr (WSJ 9.8.2018; vgl. Reuters 10.8.2018). Die Mehrheit der Abgeordneten im Parlament ist neu und jung (WZ9.10.2018). Im Prozess zur Designierung des neuen Parlamentssprechers, des Präsidenten und des Premierministers stimmten die Abgeordneten zum ersten Mal individuell und nicht in Blöcken - eine Entwicklung, die einen Bruch mit den üblichen, schwer zu durchbrechenden Loyalitäten entlang parteipolitischer, konfessioneller und ethnischer Linien, darstellt (Arab Weekly 7.10.2018).
Quellen:
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Al Jazeera (6.6.2018): Iraq orders recount of all 11 million votes from May 12 election, https://
www.aljazeera.com/news/2018/06/iraq-orders-recount-11-million-votes-12-election-180606163950024.html. Zugriff 23.10.2018
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Al-Monitor (23.8.2018): Many Iraqi legislators call for canceling election results, https://www.almonitor.com/pulse/originals/2018/05/iraq-election-fraud.html. Zugriff 23.10.2018
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The Arab Weekly (7.10.2018): Room for optimism in Iraq under new leadership,
https://thearabweekly.com/room-optimism-iraq-under-new-leadership. Zugriff 23.10.2018
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BP - Baghdad Post (17.12.2017): All Shia political parties have armed militias - Nujaba,
https://www.thebaghdadpost.com/en/Storv/21086/All-Shia-political-parties-have-armed-militias-Nujaba. Zugriff 22.10.2018
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CGP - Center for Global Policy (4.2018): The Role of Iraq's Shiite Militias in the 2018 Elections, https://www.cgpolicy.org/wp-content/uploads/2018/04/Mustafa-Gurbuz-Policy-Brief.pdf, Zugriff 22.10.2018
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Fanack (27.9.2018): Governance & Politics of Iraq, https://fanack.com/iraq/governance-and- politics-of-iraq/. Zugriff 17.10.2018
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The Guardian (12.5.2018): Martyr or master? Future of anti-Isis militias splits Iraq ahead of elections, https://www.theguardian.com/world/2018/may/12/iraq-elections-become-battlegrou