TE Bvwg Erkenntnis 2019/6/21 I419 2190938-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 21.06.2019
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Entscheidungsdatum

21.06.2019

Norm

AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §2 Abs1 Z22
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs1
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §34 Abs4
BFA-VG §21 Abs7
B-VG Art. 133 Abs4
VwGVG §24
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

I419 2190929-1/7E

I419 2190927-1/5E

I419 2190938-1/7E

I419 2190935-1/6E

I419 2190941-1/6E

I419 2190931-1/7E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

1. Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Tomas JOOS über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. LIBYEN, vertreten durch Diakonie-Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom XXXX, zu Recht:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG

2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass SXXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

2. Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Tomas JOOS über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, StA. LIBYEN, vertreten durch Diakonie-Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom XXXX, zu Recht:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß §§ 3 Abs. 1 und 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

3. Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Tomas JOOS über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, vertreten durch die Mutter XXXX, StA. LIBYEN, vertreten durch Diakonie-Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom XXXX, zu Recht:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß §§ 3 Abs. 1 und 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

4. Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Tomas JOOS über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, vertreten durch die Mutter XXXX, StA. LIBYEN, vertreten durch Diakonie-Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom XXXX, zu Recht:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß §§ 3 Abs. 1 und 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

5. Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Tomas JOOS über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, vertreten durch die Mutter XXXX, StA. LIBYEN, vertreten durch Diakonie-Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom XXXX, zu Recht:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß §§ 3 Abs. 1 und 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

6. Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Dr. Tomas JOOS über die Beschwerde von XXXX, geb. XXXX, vertreten durch die Mutter XXXX, StA. LIBYEN, vertreten durch Diakonie-Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom XXXX, zu Recht:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß §§ 3 Abs. 1 und 34 Abs. 2 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerinnen und die Beschwerdeführer, hier als BF und gemäß der Reihenfolge ihrer Nennung im Spruch als BF1 bis BF6 bezeichnet, sind eine Familie.

BF3 und BF6 sind minderjährige Söhne, BF4 und BF5 minderjährige Töchter des volljährigen Ehepaares BF1, Vater, und BF2, Mutter.

2. BF1 reiste am 03.02.2014 mit einem Diplomatenpass des Herkunftsstaats und italienischem Schengen-Visum nach Rom, die anderen BF in der folgenden Woche mit österreichischen Visa über Wien nach Berlin. Dort trafen die BF einander, begaben sich nach Schweden und stellten dort am 27.02.2014 je einen Asylantrag.

3. Die BF wurden darauf am 03.06.2014 nach Wien überstellt und beantragten unmittelbar nach Ankunft am selben Tag internationalen Schutz.

4. Mit den bekämpften Bescheiden wies das BFA die (in den Sprüchen mit "04.06.2014" datierten) Anträge betreffend den Status Asylberechtigten ab (je Spruchpunkt I) und zuerkannte den BF jeweils den Status einer oder eines subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II). Mit Spruchpunkt III wurden befristete Aufenthaltsberechtigungen erteilt (die das BFA inzwischen bis 2012 verlängert hat).

5. Die Beschwerden richten sich gegen die Nichtzuerkennung des Status von Asylberechtigten. BF1 sei als Parlamentsabgeordneter für Budgetangelegenheiten zuständig gewesen und deshalb ins Visier von Milizen geraten. Auf ihn habe es mehrere Anschläge gegeben, und er sei von militanten Extremisten wegen seiner politischen Tätigkeit bedroht worden. Milizen hätten mehrfach in Anwesenheit von BF1 das Parlament gestürmt, und eine habe BF3 entführt.

Das BFA habe sich kaum mit den Fluchtvorbringen befasst. Den BF drohe im gesamten Herkunftsstaat Verfolgung, BF1 sei als früherer Abgeordneter und BF2 als westlich orientierte Frau einer besonderen Gefährdung ausgesetzt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Die unter Punkt I getroffenen Ausführungen werden als Sachverhalt festgestellt. Darüber hinaus werden folgende Feststellungen getroffen:

1.1 Zu den Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführern

Die BF sind Sunniten arabischer Muttersprache und stammen aus der Hauptstadt des Herkunftsstaats, wo sie bis zu ihrer Ausreise lebten. Sie sind Araber, der Urgroßvater von BF1 war Berber. Ihre Identitäten stehen fest. Die BF sprechen arabisch, BF1 auch sehr gut und BF2 ein wenig Englisch. BF1 und BF2 sind seit 2005 miteinander standesamtlich und traditionell verheiratet.

Im Herkunftsstaat leben die Eltern sowie fünf Schwestern und ein Bruder von BF1, ferner seine ehemalige Zweitfrau mit zwei gemeinsamen Kindern, sowie die weitere Familie von BF2, nämlich deren Eltern, fünf Schwestern und drei Brüder.

BF1 hat in seiner Heimatstadt ein wirtschaftswissenschaftliches Bachelorstudium absolviert, später ein Masterstudium an einer Universität England. Er war bis 2012 im Herkunftsstaat leitend tätig in einem internationalen Unternehmen für Kommunikations- und IT-Infrastrukturen.

BF1 gab an, er sei als Parlamentsabgeordneter wegen seiner Arbeit von Milizen und bewaffneten Gruppen mit dem Tode bedroht worden. BF3 sei deswegen entführt und vergewaltigt worden. Dazu wird festgestellt:

Etwa Anfang 2012 gründete BF1 nach dem Sturz Gaddafis gemeinsam mit drei Freunden die "Al Asala and Development Party" (Asala [?????]:

laut Langenscheidt Echtheit, edle Abstammung, Festigkeit) oder auch "Gathering of Alassala wa Tajdid (Authenticity and innovation)". Das Programm der Partei beschäftigte sich mit Vorschlägen für das Bildungssystem sowie die Unterstützung von Familien und Minderheiten. Sie trat für Reformen und generell für eine demokratisch geprägte Staatsform ein.

BF1 ist erklärter Gegner der Moslembruderschaft und ausgesprochen gegen den politischen Islam.

Die Partei errang bei der Wahl des Parlaments "General National Congress" (GNC) am 07.07.2012 einen Sitz. Das eine Mandat erzielte BF1 in seinem Wahlsprengel XXXX. Er führt das darauf zurück, dass ihn Freunde und Bekannte gewählt hätten, weil er eine Ausbildung in Großbritannien absolviert habe.

Von der Al Asala and Development Party zu unterscheiden sind die Al-Asala and Renovation Party, die ebenfalls einen Sitz bei der Wahl am 07.07.2012 errang, und die Justice and Development Party, auch Justice and Construction Party, die 17 Mandate erzielte. Letztere weist eine Affinität zur Moslembruderschaft auf.

Als Mitglied des GNC erhielt BF1 einen am 26.09.2012 ausgestellten Diplomatenpass. Am 25.06.2013 kandidierte BF1 als Parlamentspräsident, der nicht auf die Unterstützung der stärksten Fraktion NFA zählen konnte, die 39 Sitze hatte. Er schied mit einem Ergebnis von zwei Stimmen im ersten Wahlgang aus. Gewählt wurde dann Nuri Ali Abusahmain (Nuri Abu Sahmain, Nuri Abusahmain), auch mit Unterstützung der Justice and Construction Party.

BF1 wurde ab Dezember 2012 als Abgeordneter sowohl von Milizen bedroht, die Demokratie aus religiösen Gründen ablehnen, als auch von solchen, die an staatliche Finanzmittel gelangen wollten. Die Drohungen fanden innerhalb und außerhalb des Parlamentsgeländes statt. Mindestens einmal wurde sein Auto umstellt und aufgehalten. Nach seinem erfolglosen Versuch, Parlamentspräsident zu werden, wurde seine Lage nicht sicherer.

BF 1 war als Abgeordneter Leiter des Ausschusses für libysch-italienische Beziehungen sowie Mitglied in den Ausschüssen für ausländische Investitionen sowie für Budget und Finanzplanung. Am 31.10.2013 wurde ihm das italienische Schengen-Visum in seinem im Vormonat ausgestellten Reisepass erteilt, das für mehrere Einreisen bis 30.10.2015 galt.

Er ist seit dieser Zeit auch mit dem damaligen Österreichischen Botschafter im Herkunftsstaat bekannt und weiterhin in Kontakt.

Die Reisepässe der anderen BF wurden am 22.10.2013 ausgestellt, ihre Visa der Österreichischen Botschaft am 31.01.2014.

Wie die anderen Abgeordneten wurde BF1 zuvor von Milizen, die das Parlament belagerten, mit Waffengewalt unter Druck gesetzt dem so genannten "Isolationsgesetz" zuzustimmen, das den Inhabern staatlicher Positionen unter Gaddafi politische und staatliche Ämter verwehrte, selbst wenn sie zu dessen Sturz erheblich beigetragen haben wie Chalifa Haftar.

Im September 2013 wurde BF3 von Zintan-[Sintan-]Milizen entführt. Diese unterstützen Chalifa Haftar. Ursprünglich wollten sie damit Einfluss auf das Stimmverhalten von BF1 betreffend die Untersuchung der Verwendung von Geldern nehmen, die mutmaßlich den vom Parlamentspräsidenten geförderten LROR-Kräften (Libya Revolutionaries Operations Room) und anderen Milizen zugutekamen. BF1 gelang es jedoch, gegen Zahlung von LYD 50.000,-- (rund € 30.000,--) mithilfe der sogenannten "Rada"-Streitkräfte (Special Deterrence Force, SDF) zu erwirken, dass BF3 noch am selben Tag freigelassen wurde.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die Entführer BF3 missbraucht hätten. BF2, die bis dahin der Ansicht war, wenn BF1 das Land verlassen wolle, solle er das alleine tun, entschloss sich nach der Entführung, in diesem Fall auch auszureisen.

BF1 wandte sich im Oktober 2013 an den Parlamentspräsidenten, berichtete diesem zumindest zum zweiten Mal von der Entführung sowie von Drohungen und zunehmenden Unannehmlichkeiten und ersuchte um die Veranlassung von Sicherheitsmaßnahmen zu seinen Gunsten und "schnellstmöglichen Schutz".

Am 03.11.2013 stimmte das Parlament (der GNC) dafür, den LROR-Streitkräften deren Gründungsauftrag zu entziehen, in der Hauptstadt die Ordnung aufrechtzuhalten. Diese umzingelten darauf das Gebäude, um die Abgeordneten einzuschüchtern, die nun zustimmten, das Mandat der LROR für die Hauptstadt unter der Bedingung fortbestehen zu lassen, dass diese dem Generalstabschef der Streitkräfte unterstellt werden.

Am 20.11.2013 teilte der GNC dem BF1 eine Warnung der LROR mit, wonach er als Ziel von Verbrechern unterschiedlichen Hintergrunds bekannt sei, die sich die schlechte Sicherheitslage in der Gegend und dem Land im Allgemeinen zunutze machten, weshalb er sich in Acht nehmen und die nötigen Schritte zu seiner Sicherheit vornehmen solle.

Im Jänner 2014 erhielt BF1 die Erledigung seines Anbringens vom Oktober 2013 in Form einer Mitteilung an den Sicherheitsdienst, wonach für 2014 Budgetmittel vorgesehen seien, um gepanzerte Fahrzeuge zu beschaffen, weil es aktuell nicht möglich sei, die Sicherheit zu garantieren.

BF1 beschloss darauf wegen der erwarteten langen weiteren Wartezeit auf Leibwächter und andere Maßnahmen die Flucht der Familie, veranlasste die Besorgung von Visa für die weiteren BF bei der Österreichischen Botschaft und reiste wie festgestellt aus dem Herkunftsstaat aus.

Die BF verfügen über unterschiedlich gute Deutschkenntnisse, BF1 seit 2016 auf Niveau B1, und sind strafgerichtlich unbescholten. BF1 und BF2 haben Freunde in Schweden, weshalb die BF dorthin reisten.

BF1 und BF2 üben ihre Religion aus, indem sie beten und im Ramadan fasten. Für streng religiös halten sie sich nicht. BF2 trägt seit ihrer Gymnasialzeit ein Kopftuch und keine Hosen, weil sie im Gegensatz zu einer Schwester, die kein Kopftuch besitzt, sich in dieser Hinsicht die Mutter zum Vorbild nahm. BF1 trägt Bart, kleidet sich aber nicht traditionell.

BF2 arbeitete im Herkunftsstaat nach dem Studium der Linguistik und Arabistik als Lehrerin. In Österreich gibt sie Nachhilfe in Arabisch für Araber und Staatsangehörige der Türkei und Afghanistans. Sie hat österreichische Freundinnen, von denen eine mitunter bei ihr nächtigt.

1.2 Zum Herkunftsstaat:

1.2.1 Den Länderfeststellungen in den bekämpften Bescheiden mit Stand vom 20.10.2017 ist zu entnehmen (Hervorhebungen durch das Gericht):

"Politische Lage

In Libyen herrschen seit dem Sturz und dem Tod des langjährigen Machthabers Muammar al-Gaddafi im Jahr 2011 Chaos und Gewalt. Neben zwei rivalisierenden Regierungen und Parlamenten gibt es auch konkurrierende Milizen, die um die Kontrolle der Ölvorkommen kämpfen (DS 17.9.2017).

Seit Mitte 2014 gab es zwei konkurrierende Lager:

* Das im Juni 2014 gewählte Parlament (Rat der Volksvertreter) mit der Regierung Abdallah al-Thani zog sich im August 2014 unter dem Eindruck der Offensive westlibyscher Milizen in die ostlibyschen Städte Tobruk (Parlament, HoR) bzw. Beida (Regierung) zurück und integrierte die militärischen Kräfte, die sich ab Mai 2014 unter Führung von General Khalifa Haftar unter dem Namen ‚Würde' (Karama) formiert hatten. Im Südwesten von Tripolis unterstellten sich Karama nominell auch Verbände der Stadt Zintan und des Warshefana-Stammes. Etwa 40 hauptsächlich westlibysche Abgeordnete haben von Beginn an nicht an den Sitzungen des 182 Mitglieder zählenden Parlaments teilgenommen (AA 6.2017a).

* Im Westen ließ die ‚Morgenröte' (Fajr) genannte militärische Allianz aus islamistischen Milizen und Revolutionären aus der wichtigen Hafenstadt Misrata den im Juni 2014 abgewählten Allgemeinen Volkskongress (GNC) wieder auferstehen und bildete eine Gegenregierung "der Nationalen Rettung". Ihren Legitimitätsanspruch stützte Fajr seit dem 6.11.2014 auf ein Urteil des Obersten Gerichtshofes, der die Gesetze, die zur Wahl des Parlaments führten, für verfassungswidrig erklärt hatte (AA 6.2017a).

[...] Die mit der libyschen Einheitsregierung rivalisierende Regierung im Osten des Landes hat im September 2017 die internationale Gemeinschaft aufgerufen, sie als legitime Autorität anzuerkennen. Seine Regierung sei gewählt und kontrolliere den Großteil des nordafrikanischen Landes, sagte der Chef der international nicht anerkannten Regierung, Abdullah al-Thani. Seine provisorische Regierung ziehe ihre Legitimation aus den Wahlurnen. Ihre Armee wird von Khalifa Haftar geführt. Al-Thani war Libyens international anerkannter Regierungschef, bis 2015 im Zuge von Verhandlungen unter Vermittlung der UNO eine Einheitsregierung unter der Führung von Fayez al-Sarraj eingesetzt wurde. Die in der Hauptstadt Tripolis ansässige Einheitsregierung hat jedoch Probleme, ihre Autorität durchzusetzen. Außerdem wird sie von internen Streitigkeiten geplagt (DS 17.9.2017)."

"Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Libyen bezeichnete UN Gesandter Ghassan Salamé im September 2017 als "fragil, sich aber nicht verschlimmernd", weil es in vielen Regionen, vor allem im Westen, eine "ausgehandelte Sicherheit" gebe - das heißt, Politiker und Geschäftsleute, die sich mit lokalen bewaffneten Gruppen arrangieren. Zudem gebe es auch im Westen Ansätze zu einer Republikanischen Garde, einer Armee und einer Küstenwache, und im Osten könne man weitgehend von einer einheitlichen bewaffneten Kraft unter General Khalifa al-Haftar sprechen, wogegen es im Süden keine Sicherheit gebe (DS 22.9.2017).

Sowohl das französische, als auch das deutsche, österreichische und schweizerische Außenministerium warnen ihre Staatsbürger weiterhin eindringlich vor Reisen nach Libyen. Eventuell aufhältige Staatsbürger der jeweiligen Länder werden zur Ausreise aufgefordert (FD 16.10.2017; vgl. AA 16.10.2017, BMEIA 16.10.2017, ED 16.10.2017).

Die Lage im ganzen Land ist extrem unübersichtlich und unsicher. Es kommt immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen (AA 16.10.2017; vgl. EDA 16.10.2017). Davon können auch die Städte Tripolis und Bengasi betroffen sein (EDA 16.10.2017). Die staatlichen Sicherheitsorgane können keinen ausreichenden Schutz garantieren (AA 16.10.2017; vgl. FD 16.10.2017, HRW 12.1.2017). Bewaffnete Gruppen mit zum Teil unklarer Zugehörigkeit treten häufig als Vertreter der öffentlichen Ordnung auf, sind jedoch nicht ausgebildet und wenig berechenbar (AA 16.10.2017) bzw. agieren straffrei im de-facto rechtsfreien Raum (HRW 12.1.2017). In großen Teilen des Landes herrschen bewaffnete Milizen oder sonstige bewaffnete Kräfte (EDA 16.10.2017; vgl. FD 16.10.2017). Im ganzen Land besteht ein hohes Risiko von Anschlägen und Entführungen. Die Kriminalität ist hoch. Zudem muss davon ausgegangen werden, dass Waffen aus dem Bürgerkrieg von 2011 in die Hände von Kriminellen geraten sind (EDA 16.10.2017).

Terroristische Elemente [Anm. SB Std.: Kämpfer des IS und anderer islamistischer Gruppen] sind v.a. in Benghazi und Derna im Osten Libyens, sowie in Oubari in Südlibyen, als auch in Sabratha, Zawiyya sowie Sirte in Westlibyen aktiv (FD 16.10.2017).

Knapp acht Monate nach Beginn der Offensive gegen den IS in Sirte hat Libyens Ministerpräsident Fayez al-Sarraj Ende Dezember 2016 die Rückeroberung der IS-Hochburg Sirte verkündet. Sirte war das letzte größere vom IS kontrollierte Gebiet in Libyen (DS 23.12.2016). Im zweiten Halbjahr 2017 erstarkt der IS wieder in der Gegend um Sirte. Schätzungsweise etwa 1.000 IS Kämpfer sind noch in Libyen aktiv, die Mehrheit in der Gegend um Sirte (TT 18.8.2017). US-amerikanische Militäreinheiten flogen im September 2017 Luftangriffe auf IS-Ziele in Libyen (WT 11.10.2017).

Ende August 2017 überrannten die Dschihadisten des IS Al-Fuqaha, einen abgelegenen

Außenposten der Armee in der libyschen Wüste und enthaupteten elf Menschen. Die libysche Regierung schätzt, dass der IS derzeit über rund tausend Kämpfer im Land verfügt. Weil sie damit zahlenmäßig den Milizen der Regierung und der verschiedenen Warlords unterlegen sind, versuchen sie gar nicht erst, Gebiete zurückzuerobern und dauerhaft zu kontrollieren. Stattdessen setzt der IS auf eine Guerillataktik. Die weitläufige Wüste, in der sich zahllose Höhlen befinden, bietet dafür einen idealen Rückzugsraum (SO 7.9.2017)."

"Allgemeine Menschenrechtslage

Die Aktionsmöglichkeiten für die zwischen 2011 und 2014 entstandene Zivilgesellschaft sind wegen des Konflikts sehr eingeschränkt. Die Zivilgesellschaft hat sich polarisiert, lagerübergreifender Einsatz für nationale Anliegen ist die Ausnahme. Repressionen gegen abweichende Meinungen gibt es insbesondere im Raum Tripolis. Bemerkenswert sind zahlreiche lokale Initiativen für Waffenstillstand und Gefangenenaustausch sowie zur Marginalisierung radikaler Akteure. Während sie in Westlibyen zum Teil zu konkreten Ergebnissen führten, waren sie im Süden (Gegend von Sebha und Kufra, Konflikt Tuareg/Tebu) bisher weniger erfolgreich (AA 6.2017a).

Die schwerwiegendsten Menschenrechtsprobleme resultieren aus der Abwesenheit effektiver Regierungsführung und Kontrolle, sowie aus mangelnden Justiz- und Sicherheitsinstitutionen. Dies führt zu Misshandlungen und Menschenrechtsverletzungen durch bewaffnete Gruppen, sowohl durch regierungstreue als auch durch oppositionelle, sowie durch Terroristen und Kriminelle (USDOS 3.3.2017).

Hauptleidtragende der Auseinandersetzungen sind die libysche Zivilbevölkerung sowie die ausländischen Flüchtlinge und Migranten, nicht nur infolge zahlreicher Angriffe auf zivile Ziele, sondern auch in Gestalt von irregulärer Haft, extralegalen Hinrichtungen, endemischer Folter (AA 6.2017a; vgl. HRW 12.1.2017, USDOS 3.3.2017), Unterdrückung der Meinungsfreiheit durch die verschiedenen Akteure (AA 6.2017a; vgl. USDOS 3.3.2017), willkürliche Angriffe und Gewaltanwendung (HRW 12.1.2017; vgl. USDOS 3.3.2017), sowie Entführungen und Verschwindenlassen (HRW 12.1.2017)."

"Sicherheitsbehörden

Die Regierung [Anm.: libysche Einheitsregierung, Government of National Accord - GNA] übt keine Kontrolle über die Streitkräfte des Kommandanten der Libyschen Nationalarmee (Libyan National Army - LNA) Khalifa Haftar aus, obwohl es Bestrebungen gegeben hat, ihn dazu zu bewegen, sich den Sicherheitskräften der Regierung zu unterstellen. Einige Milizen unterstehen der Einheitsregierung. Ihnen gelang die Vertreibung des IS aus Sirte Ende 2016. Die LNA setzt im Osten Libyens ihren Kampf gegen gewalttätige extremistische Organisationen fort. Andere extralegale bewaffnete Gruppen füllen das Sicherheitsvakuum in verschiedenen Landesteilen. Weder die GNA noch das ehemals international anerkannte und nunmehrige Gegenparlament (HoR) in Tobruk haben Kontrolle über diese Gruppen (USDOS 3.3.2017)."

"Folter und unmenschliche Behandlung

Obwohl die Verfassungserklärung und nach-revolutionäre Gesetzgebung Folter verbietet, kommt es sowohl in von der Regierung kontrollierten als auch in extralegalen Haftanstalten zu Folter (USDOS 3.3.2017). Rivalisierende Milizen und militärische Streitkräfte entführen Personen und lassen diese verschwinden, foltern, inhaftieren willkürlich und führen ungesetzliche Tötungen durch (HRW 12.1.2017; vgl. FCO 20.7.2017). Folter und andere unmenschliche Behandlung bleibt weit verbreitet und wird unter Straffreiheit begangen, vor allem während der Haft in offiziellen und inoffiziellen Gefängnissen (AI 22.2.2017).

Es gibt zahlreiche Berichte darüber, dass pro-GNA (libysche Einheitsregierung, Government of National Accord) sowie anti-GNA Milizen, Einheiten der LNA (Libysche Nationalarmee, Libyan National Army), sowie Kämpfer des IS und anderer extremistischer Gruppen willkürliche und ungesetzliche Tötungen durchführen. Bewaffnete Gruppen unter Regierungskontrolle bzw. auch jene, die nicht unter Regierungskontrolle stehen, lassen Personen verschwinden (USDOS 3.3.2017; vgl. HRW 12.1.2017)."

1.2.2 Weiteren in der Staatendokumentation des BFA enthaltenen Berichten ist zu entnehmen (Hervorhebungen durch das Gericht):

"Seit den Bürgerunruhen 2011 leidet Libyen unter einem Versagen der zentralen Regierungsgewalt, welches mehrere Wellen bewaffneter Konflikte zwischen einer Vielzahl bewaffneter Akteure hervorrief. Im Mai 2014 entbrannten Zusammenstöße zwischen rivalisierenden Gruppen, die den beiden konkurrierenden Regierungen de facto Unterstützung bieten, dem im Westen ansässigen Allgemeinen Nationalkongress (General National Congress, GNC) und dem Repräsentantenhaus (House of Representatives, HoR) im Osten." (Übersetzung aus: REACH Initiative [Autor], veröffentlicht von ReliefWeb: 2018 Multi-Sector Needs Assessment, February 2019, 5. Februar 2019;

https://reliefweb.int/sites/reliefweb.int/files/resources/reach_lby_report_msna_february_2019_0.pdf [Zugriff am 17. Juni 2019])

Im Mai 2013 verabschiedete der GNC unter dem Druck von Milizen, die später die LROR bildeten, ein Gesetz zur Säuberung oder "Lustration", das Gesetz zur politischen Isolation (PIL), das verbietet, dass Personen, die zwischen 1969 und 2011 bestimmte Positionen unter Gaddafi innehatten, Regierungsämter haben. (USDOS - US Department of State: Country Report on Human Rights Practices 2014 - Libya, 25. Juni 2015,

https://www.ecoi.net/de/dokument/1058946.html [Zugriff am 18. Juni 2019]

Der Libya Revolutionaries Operation Room (LROR) ist eine Dachorganisation islamistisch geprägter bewaffneter Gruppen, die sich als Verteidiger des Landes gegen konterrevolutionäre Kräfte verstehen. Im August 2013 wurde sie vom GNC-Präsidenten Nuri Abu Sahmein offiziell anerkannt, der ihm 900 Millionen libysche Dinar (damals 706 Millionen US-Dollar) als Gegenleistung für die Sicherung von Tripolis und Bengasi zuwies. (ICG - International Crisis Group:

The Central Sahel: A Perfect Sandstorm, 25. Juni 2015, https://www.ecoi.net/en/file/local/1246399/1226_1435589125_227-the-central-sahel-a-perfect-sandstorm.pdf [Zugriff am 18. Juni 2019]).

"Am 25. Juni 2014 fand die Wahl des Repräsentantenhauses [...] in einem unsicheren Klima der Gewalt statt. [...]

Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs, das Verfahren aufzuheben, das zu den Wahlen vom 25. Juni 2014 geführt hatte, hat das Land in eine Krise mit zwei gewählten Volksvertretungskörpern gebracht: Den Neuen Allgemeine Nationalkongress (New General National Congress) mit Sitz in Tripolis (unter Nouri Abusahmain als Präsident und Omar al-Hasi als Premierminister der Regierung der Nationalen Rettung) und Abdullah al-Thani's Regierung und deren Parlament in Tobruk."

"Libyen hat jetzt drei Machtzentren. Das erste ist der Präsidialrat (Presidential Council, PC), der seit 30. März 2016 in Tripolis ansässig ist und von Fayez al-Sarraj geleitet wird, einem ehemaligen Mitglied des GNC. Der Präsidialrat war das Ergebnis des von den VN vermittelten LPA [Libyschen Politischen Abkommens], das im Dezember 2015 unterzeichnet wurde. Laut LPA steht er der Regierung des Nationalen Einklangs (Government of National Accord, GNA) in Tripolis vor, welche die Zustimmung des Repräsentantenhauses (HoR) in Tobruk finden sollte.

Bei zwei Gelegenheiten hat dieses aber die Ministerliste abgelehnt.

[...].

Das zweite Zentrum besteht aus den Behörden in Tobruk und Al-Bayda, die ebenfalls nach dem LPA arbeiten sollten. Im Rahmen dieser Vereinbarung würde das HoR die legitime Legislativbehörde, obwohl es die dafür nötigen Verfassungsänderungen noch nicht verabschiedet hat. Stattdessen hat es die rivalisierende Regierung von Abdullah al-Thinni gebilligt, die von der ostlibyschen Stadt Al-Bayda aus operiert.

Diese Behörden unterliegen der Steuerung durch General Khalifa Haftar, den Führer der libyschen Nationalarmee (LNA), der sich als Anti-Islamisten bezeichnet und von Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten und zunehmend auch Russland unterstützt wird.

Drittes Machtzentrum ist die in Tripolis ansässige Regierung der Nationalen Rettung (Government of National Salvation, GNS), die von Premierminister Khalifa [Al-] Ghwell geleitet wird und auf der Autorität des Rest-GNC beruht. Der im Jahr 2012 gewählte GNC kontrolliert keine bedeutenden Institutionen mehr. Im Oktober 2016 versuchte Ghwell einen Putsch gegen die GNA, konnte jedoch keine breitere Unterstützung gewinnen. Im Januar 2017 unternahm er einen erfolglosen Versuch, das Verteidigungsministerium und andere staatliche Ämter zu besetzen." (Bertelsmann Stiftung: BTI 2018;

Libya Country Report, 2018;

www.ecoi.net/en/file/local/1427456/488315_en.pdf [Zugriff am 23. Mai 2019])

Die GNS war die selbsternannte Regierung in Tripolis, die aus dem General National Congress (GNC) hervorging, nachdem sie die Wahlen vom Juni 2014 verloren hatte. Sie sah sich als legitime Regierung und weigerte sich, die Macht an die Wahlsieger, das Repräsentantenhaus (House of Representatives, HoR), zu übertragen. Die GNS wurde militärisch von den Milizen der Morgenröte-Bewegung unterstützt. Das HoR zog dann nach Tobruk.

Im September 2017 wurden die mit der GNS / GNC verbundenen Milizen schließlich von der Kani-Brigade aus Tripolis vertrieben. Bis vor kurzem war diese bewaffnete Gruppe Mitglied der GNC-Koalition, trat jedoch der GNA bei, um ihre eigene beherrschende Stellung beizubehalten. Die islamistische Kani-Brigade ist seit dem Wechsel als 7. Infanterie-Brigade der GNA bekannt. [Übersetzung aus Netherlands Ministry of Foreign Affairs: Algemeen ambtsbericht Libië, April 2019,

https://www.ecoi.net/en/file/local/2007510/AAB+Libie+april+2019.pdf (Zugriff am 18. Juni 2019)]

Khaled Mishri leitet den Hohen Staatsrat, eine nicht anerkannte Regierungsbehörde in Tripolis, die sich aus den [Überresten] der alten gewählten Körperschaft, dem General National Congress (GNC), zusammensetzt. [Übersetzt aus UK Home Office: Country Policy and Information Note Libya: Actual or perceived supporters of former President Gaddafi, April 2019,

https://www.ecoi.net/en/file/local/2006908/Liby_-Gaddafi-Supporters-CPIN-April-2019.pdf (Zugriff am 18. Juni 2019)]

1.2.3 Pressemeldungen ist folgende Entwicklung zu den aktuellen Kampfhandlungen zu entnehmen (Hervorhebungen durch das Gericht):

Haftar war Teil der stetigen Machtkämpfe um die Führung der Armee. In einem neuen Libyen sollte er ursprünglich den Aufbau der Streitkräfte übernehmen. Das wurde durch eine nicht ganz freiwillige Verabschiedung eines Gesetzes im Sommer [Anm.: nach mehreren Quellen am 05.05.] 2013 allerdings verhindert. Damals belagerten Milizen das Parlament und erzwangen mit Waffengewalt die Zustimmung zu dem so genannten Isolationsgesetz. Dieses Gesetz besagt, dass alle diejenigen, die unter Gaddafi eine staatliche Position innehatten, kein staatliches Amt oder eine politische Position mehr bekleiden dürfen. Auch wenn diese Männer ganz erheblich zum Sturz Gaddafis beigetragen haben, so wie Haftar.

Im Februar [2014] hatte Haftar in einer TV-Ansprache gedroht, das Parlament zu stürzen, weil er es für illegitim hält. Gleichzeitig rief er das Generalkommando der libyschen Armee zur Rettung der Nation ins Leben. Kurz darauf gelang es ihm, im Osten des Landes zwei Militärstützpunkte zu besetzen. Einige Stammesmilizen schlossen sich ihm an, um gegen Islamisten in Bengasi vorzugehen. Zudem erhält er derzeit [19.05.2014] von den einflussreichen Sintan-Milizen aus der Hauptstadt Tripolis Rückendeckung.

[https://www.dw.com/de/die-verschiedenen-interessen-in-libyen/a-17646496 (Abfrage 14.05.2019).

Der GNC hat am 17.12.2015 mit Mitgliedern des "HoR" das LPA unterzeichnet, nachdem ‚Morgenröte' im August 2014 Tripolis eingenommen und das "HoR" gezwungen hatte, nach Tobruk umzuziehen, wo es bis heute blieb. (Übersetzt aus https://www.atlanticcouncil.org/blogs/new-atlanticist/timeline-how-libya-s-revolution-came-undone [Abfrage 17.06.2019]).

"Libyen - in Schwierigkeiten seit dem Sturz Muammar Gaddafis 2011 - ist geteilt zwischen der international anerkannten Regierung in Tripolis und einer Paralleladministration, die mit Khalifa Haftar verbündet ist." "Dessen Streitkräfte beherrschen den Osten und haben sich jüngst ins südliche Libyen ausgedehnt." (Übersetzt aus:

Reuters, Eastern Libya forces move west, skirmish south of Tripoli, 3. April 2019,

https://www.reuters.com/article/us-libya-security/eastern-libya-forces-move-west-skirmish-south-of-tripoli-idUSKCN1RF1LQ)

"Khalifa Haftar, der den Osten Libyens und seit kurzem auch den Süden kontrolliert, will nach seinem eigenen Verständnis Tripolis von Islamisten befreien. Dort erwartet ihn eine Vielzahl an Milizen. Wenn überhaupt, dann sei eine Dominanz General Khalifa Haftars in Westlibyen wohl nur in einem neuen gewalttätigen Konflikt zu erreichen, ‚der an Intensität und Dauer wohl alles übertreffen würde, was Libyen seit 2011 erlebt hat', schrieb der Libyen-Experte Wolfram Lacher (Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin) in einer Studie von Februar. In den vergangenen Tagen schien dieser neue Libyen-Kriegsausbruch unmittelbar bevorzustehen." (Der Standard, General Haftar marschiert auf Libyens Hauptstadt, 6. April 2019, https://derstandard.at/2000100890128/General-Haftar-steht-vor-der-libyschen-Hauptstadt)

"Die Kämpfe um die libysche Hauptstadt Tripolis haben inzwischen auch den einzig verbliebenen Flughafen der Stadt erreicht. Es habe Luftangriffe auf den Flughafen Mitiga gegeben, Reisende seien in Panik geraten, hieß es aus Sicherheitskreisen am Montag." "Die Truppen des mächtigen Generals Khalifa Haftar rücken seit Donnerstag auf die Hauptstadt Tripolis vor. Die dortige Regierung von Ministerpräsident Fayez al-Sarraj rief eine Gegenoffensive aus."

(Der Standard, Kampfjets bombardieren Flughafen von Tripolis. 8. April 2019,

https://derstandard.at/2000101036360/Kampfjets-bombardieren-Flughafen-von-Tripolis)

Am 4. April von ihren Stützpunkten in Ost- und Südlibyen gestartet und unterstützt von Verbündeten im Westen, überraschten Haftars Streitkräfte ihre Gegner und drangen in einen Ring von Stadteilen von Zahra im Westen nach Ain Zara und Wadi Rabia im Südosten ein und beschlagnahmten den (nicht funktionierenden) internationalen Flughafen von Tripolis. Die GNA-Truppen mobilisierten jedoch innerhalb einer Woche und schafften es, die LNA und ihre Verbündeten aus der westlichen Peripherie der Hauptstadt und dem größten Teil von Ain Zara zu vertreiben.

Seitdem haben beide Seiten gelegentlich Fortschritte gemacht, bevor sie sich entlang einer Frontlinie in den südlichen Vororten der Hauptstadt, die 10 bis 20 Kilometer breit ist, zurückgezogen haben. Keine der beiden Seiten konnte neues Gelände einnehmen und einen entscheidenden Sieg erringen. Die LNA ist angesichts heftigen Widerstands in Positionen um Wadi Rabia und den internationalen Flughafen stecken geblieben, und der Regierung von Tripolis loyale Kräfte haben ihren Plan nicht umgesetzt, Haftars Streitkräfte aus dem Großraum Tripolis und aus Städten entlang der fragilen Versorgungslinien der LNA wie Tarhouna und Ghariyan zu vertreiben. (Übersetzung aus: UN OCHA - UN Office for the Coordination of Humanitarian Affairs: Libya: Tripoli Clashes Situation Report No. 25 As of 24 May 2019 [covering 17 - 24 May] 24. Mai 2019, https://www.ecoi.net/en/file/local/2010082/sitrep_libya_en_24_may.pdf [Zugriff am 17. Juni 2019])

1.2.4 Zu Zwangsrekrutierungen von Minderjährigen insbesondere und zur willkürlichen Verhaftung von Minderjährigen durch Milizen in Tripolis ist nach Information aus der Staatendokumentation des BFA festzustellen:

Das US-Außenministerium (US Department of State, USDOS) erwähnt in seinem Jahresbericht zur Menschenrechtslage vom März 2019 (Berichtszeitraum 2018), dass es Berichte darüber gegeben habe, dass Minderjährige sich bewaffneten Gruppen angeschlossen hätten. Obwohl die Regierungsvorschriften Beweise zur Bestätigung vorsehen würden, dass ein Mindestalter von 18 Jahren bei Rekruten nachgewiesen werde, hätten nichtstaatliche bewaffnete Gruppen keine formalen Regeln gehabt, die diese Praxis verbieten würden. Es habe mehrere Berichte über Minderjährige in Milizen gegeben, darunter Berichte des Nationalen Komitees für Menschenrechte in Libyen (NCHRL), dass die Revolutionären Brigaden Tripolis (TRB), das Kikli-Battalion und die Siebte Brigade Kinder rekrutiert hätten, die bis zu 14 Jahre jung gewesen seien. Die Regierung der Nationalen Einheit (Government of National Accord, GNA) habe keine Anstrengungen unternommen, hinsichtlich der Rekrutierung oder des Einsatzes von Kindersoldaten zu ermitteln oder Strafen zu verhängen. Unbestätigten Medienberichten zufolge habe der Islamische Staat (IS) behauptet, im Land Kinder für Einsätze, wie unter anderem Selbstmordanschläge, Nutzung von Waffen und den Bau von unkonventionellen Spreng- und Brandvorrichtungen ausgebildet zu haben [...]. In seinem Bericht zu Menschenhandel vom Juni 2018 (Berichtzeitraum 2017) erwähnt das USDOS, dass die Regierung über keine Strukturen, institutionellen Kapazitäten oder Ressourcen verfüge, um proaktiv unter anderem Kinder, die von bewaffneten Gruppen rekrutiert worden seien, zu identifizieren und zu schützen.

Die Regierung habe keine Maßnahmen ergriffen, um die Rekrutierung und den Einsatz von Kindern durch Milizen, Gruppen mit Verbindungen zur Regierung und andere bewaffnete Gruppen, die landesweit tätig seien, zu verhindern. [...]

Seit 2013 hätten zahlreiche Berichte darauf hingewiesen, dass Milizen, darunter einige, die von der Regierung als Kampftruppen oder Sicherheitsverstärkung eingesetzt würden, libysche Kinder, die jünger als 18 Jahre seien, rekrutieren und einsetzten würden. Kinder mit Verbindungen zu bewaffneten Gruppen seien auch sexueller Gewalt ausgesetzt [...].

Der UNO-Generalsekretär schreibt in seinem Bericht an den UNO-Sicherheitsrat (UN Security Council) vom Jänner 2019, dass die Vereinten Nationen weiterhin Fälle der Zwangsrekrutierung von Jungen zwischen 13 und 15 Jahren seitens lokaler bewaffneter Gruppen verzeichnet hätten. In Derna sei vermehrt über Fälle von Entführung von Kindern berichtet worden, insbesondere zum Zweck der Rekrutierung und des Einsatzes durch Konfliktparteien [...] (https://www.ecoi.net/de/dokument/2005395.html [Zugriff am 23. Mai 2019])

1.3 Zum Fluchtvorbringen

1.3.1 Zu BF1:

BF1 hat (Anfang 2018) angegeben, es gäbe im Herkunftsstaat keinen Staat mehr und keine Regierung. Kriminelle hätten die Waffen der Armee gestohlen und nun die Macht. Für Politik interessiere er sich nicht mehr.

BF1 hegt politisch weder Sympathien für Islamisten noch solche für Khalifa Haftar. In der Vergangenheit hat er sich allerdings Milizen beider Seiten zu Gegnern gemacht. Als Mitglied des GNC muss er ernstlich damit rechnen, dass ihm fortgesetzte Gegnerschaft und Sympathie für Khaled [al-] Mishrid und den Hohen Staatsrat unterstellt wird. Damit kann er keinen staatlichen Schutz vonseiten islamistischer oder von Milizen von Khalifa Haftar erwarten.

BF1 hat glaubhaft gemacht, als einer der Abgeordneten des Allgemeinen Volkskongress (GNC) von Milizen verfolgt zu werden, die Khalifa Haftar unterstützen oder ihm unterstehen. Es ist nicht anzunehmen, dass ihm dagegen die LNA von Khalifa Haftar Schutz gewähren und will. Es ist auch nicht anzunehmen, dass ihm dagegen die GNA-Truppen oder andere, der Regierung von Fayez al-Sarraj unterstehende Einrichtungen Schutz gewähren können. Bei einer Rückkehr nach Libyen besteht nach wie vor die Gefahr, dass er als (vermeintlicher) politischer Gegner Misshandlungen und Menschenrechtsverletzungen durch bewaffnete Gruppen ausgesetzt würde, sowohl durch regierungstreue als auch durch oppositionelle, gegen die er keinen staatlichen Schutz erwarten dürfte, wenn die eben genannten Milizen oder auch eine islamistische Miliz seiner habhaft würden.

BF1 könnte sich - wie die übrigen BF - angesichts der Feststellungen über die Kampfverbände im Herkunftsstaat auch nicht außerhalb seiner Herkunftsregion, also der Hauptstadt und ihrer Umgebung, niederlassen, ohne durch die Khalifa Haftar unterstehenden Milizen gefährdet zu sein.

1.3.2 zu BF2:

BF2 hat angegeben, sie gehe davon aus, dass man auch sie entführen könne, um BF1 unter Druck zu setzten. Es kann nicht festgestellt werden, dass eine solche Gefahr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit besteht.

Es kann nicht festgestellt werden, dass BF2 in dem Sinn einen westlichen Lebensstil angenommen hätte, dass sie ihre Lebensführung gegenüber jener im Herkunftsland unbeanstandeten geändert hätte, oder dass ihre Lebensführung nunmehr im Herkunftsstaat zu Verfolgung führen würde.

1.3.3 zu BF 3:

BF1 hat angegeben, seinetwegen sei BF3 entführt worden. Es kann nicht festgestellt werden, dass eine solche Gefahr aus Gründen der Familienzugehörigkeit, der (unterstellten) politischen Gesinnung oder einer anderen asylrelevanten Ursache mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit derzeit besteht. Betreffend die Motive einer möglichen Zwangsrekrutierung gilt das Gleiche.

1.3.4 zu den weiteren BF:

BF2 hat angegeben, Angst vor einer möglichen Entführung der Kinder zu haben. Es kann nicht festgestellt werden, dass eine solche Gefahr aus Gründen der Familienzugehörigkeit, der (unterstellten) politischen Gesinnung oder einer anderen asylrelevanten Ursache mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit derzeit besteht.

2. Beweiswürdigung:

2.1 Zum Verfahrensgang:

Der oben unter Punkt I angeführte Verfahrensgang ergibt sich aus dem unzweifelhaften und unbestrittenen Akteninhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des BFA und der Gerichtsakten. Auskünfte aus dem Strafregister, dem Zentralen Melderegister (ZMR) und dem Betreuungsinformationssystem der Grundversorgung (GVS) wurden ergänzend eingeholt.

2.2 Zu den Personen:

Die Feststellungen zu den Lebensumständen, den Geburtsdaten und Identitäten, der Herkunft der BF und ihrer Integration ergaben sich aus den Aussagen von BF1 und BF2, dem unbestrittenen Inhalt der vorliegenden Ausweise und anderen Urkunden sowie den Registerabfragen.

Die Ausschusstätigkeiten von BF1 ergaben sich aus dessen Angaben und denen des früheren Botschafters Österreichs im Herkunftsstaat (AS 81), der sich dem BFA auch als Zeuge anbot (AS 103, 483)

Die Feststellungen zur Kandidatur von BF1 und seiner parlamentarischen Tätigkeit konnten seinen Aussagen sowie denen von BF2, dem Lebenslauf von BF1 (AS 429 f), dem Bericht der LPD NÖ vom 29.03.2018 und der Chronik des GNC entnommen werden (http://www.temehu.com/gnc.htm, Abfrage 17.06.2019). Zu seinem Antreten bei der Wahl des Parlamentspräsidenten (http://en.wikipedia.org/wiki/Nouri_Abusahmain) gibt es auch eine Pressemeldung vom Vortag

(http://www.libyaherald.com/2013/06/24/safwan-milad-intends-to-run-for-gnc-president/, ungekürzt auf http://opemam.org/node/1466, Abfrage 17.06.2019) und zum Ergebnis schließlich die Aussage von BF2: "Mein Mann bekam Probleme wegen eines Arbeitskollegen von ihm. Diese Person hat eine bessere Stelle im Parlament bekommen." (AS 385).

Die kandidierenden Parteien betreffend finden sich darüber hinaus ebenfalls Hinweise in Wikipedia und Presse, http://en.wikipedia.org/wiki/List_of_members_elected_to_the_General_National_Congress,_2012 und http://tn-news.com/v4_portal/article/view/26871404 (Abfragen 17.06.2019), zur Justice and Construction Party (Justice and Development Party) auch

http://en.wikipedia.org/wiki/Justice_and_Construction_Party (AS 283 ff im von BF2).

Die Feststellungen betreffend die LROR-Streitkräfte gründen sich auch auf

http://en.wikipedia.org/wiki/Libya_Revolutionaries_Operations_Room (Abfrage 18.06.2019).

2.3 Zum Herkunftsstaat:

Die Feststellungen des BFA zur Lage im Herkunftsstaat beruhen auf dem jüngsten Länderinformationsbericht der Staatendokumentation samt den dort publizierten Quellen und Nachweisen. Dieser stützt sich auf Berichte verschiedener ausländischer Behörden, etwa die allgemein anerkannten Berichte des Deutschen Auswärtigen Amtes, als auch jene von Nichtregierungsorganisationen, wie z. B. Open Doors, sowie Berichte von allgemein anerkannten unabhängigen Nachrichtenorganisationen.

Demgegenüber ist das Gericht, wie die Feststellungen zeigen, der Ansicht, dass mit dem vom BFA verwendeten Länderbericht fallbezogen nicht das Auslangen gefunden werden kann. Soweit die Feststellungen nicht ohnehin auf der Staatendokumentation des BFA beruhen, teilt das Gericht in Bezug auf die zitierten, im Kern widerspruchsfreien und übereinstimmenden Berichte die im bekämpften Bescheid für BF1 vertretene Ansicht (S. 25, AS 541), dass diese in Massenmedien verbreiteten Tatsachen auch der Wahrheit entsprechen.

2.4 Zum Vorbringen:

Die BF haben ihre Anträge auf internationalen Schutz zum frühestmöglichen Zeitpunkt gestellt. Die grundlegenden Aussagen von BF1 und BF2 zur Verfolgungsgeschichte waren gleichbleibend und während des Verfahrens in sich stimmig.

Betreffend das Vorbringen von BF1 ist zunächst auf die vorgelegte Urkunde zu verweisen, wonach dieser zunehmenden Bedrohungen und "Unannehmlichkeiten" ausgesetzt sei, BF3 entführt und der angeschriebene Parlamentspräsident bereits früher von BF1 davon unterrichtet wurde (AS 409, 411). Zusammen mit der nachrichtlichen Erledigung, wonach wirksame Sicherheitsmaßnahmen erst im Laufe des Budgetvollzugs 2014 möglich seien, unterstützt dieses Beweismittel die Erzählung von BF1 im Rahmen des unter 1.1 Festgestellten. Der Verzicht auf Details erscheint mit Blick auf den politisch woanders stehenden Adressaten, der ja den Schutz der Hauptstadt gleichsam zu seinen politischen Verdiensten zählte, und den Verweis auf einen bereits vorangegangenen Bericht einleuchtend.

Zu dieser Urkunde hat das BFA zwar die Echtheit bejaht, jedoch den Beweiswert mit der Überlegung verneint (S. 21 ff des Bescheids BF1, AS 537 ff), ihm komme "es so vor", als hätte BF1 "das Papier an die Parlamentsdirektion schon beim ersten Gedanken an eine Ausreise geschrieben" und "mit der angeblichen Entführung" von BF3 "ein wenig Druck auf die Kollegen im Parlament machen". Später habe BF1 "in Erinnerung an dieses Schreiben die Geschichte ein wenig verlegt, damit eine Zeitnot konstruiert [,] um die schnelle Ausreise mit Anfang Februar plausibel erscheinen zu lassen". Dabei scheine "es sich eher um eine länger geplante Ausreise gehandelt zu haben".

Aus den "landessprachlichen vorgelegten Unterlagen" gehe hervor, dass die "angebliche Entführung" "im Oktober 2013" gewesen sei, und BF1 dies zum Anlass genommen habe, Sicherheitsmaßnahmen für sich und die Familie einzufordern. Einvernommen habe BF1 aber die Entführung im Dezember 2013 angesetzt, was das BFA zu genauerer Betrachtung veranlasst habe. Dabei sei aufgefallen, dass BF1 "auf einem Ticket einer radikalislamischen Partei im Parlament" sei.

Das BFA verkennt dabei mehrfach den Inhalt des Akts: Das erwähnte Schreiben vom Oktober nennt als Entführungszeit "im vergangenen Monat", also September. Einvernommen hat der Beschwerdeführer über mehr als eine Seite der Niederschrift lang beschrieben, man habe ihn umzubringen versucht, sein Auto umzingelt, ihn telefonisch bedroht und das Parlamentsgebäude belagert. Milizen seien dort auch eingedrungen, wobei er zwei Personen vom Zwischenfall mit dem Auto wiedererkannt habe. Schließlich hat er angegeben (AS 397): "Das ganze Jahr wurde ich auf der Straße bedroht, sie waren bewaffnet, sie haben auch mein Haus gestürmt, sie haben meinen Sohn entführt.

Nachgefragt: Ich kann mich nur an die wichtigsten Tage erinnern, aber [es] gab Tage [,] wo nichts passiert ist."

Wenn BF1 dann auf die Aufforderung "Dann berichten Sie genau von den Tagen" antwortet: "Ich kann mich nicht mehr erinnern [,] wann sie meinen Sohn entführten," und fortsetzt "das war Ende Dezember 2013. Danach im Jänner [...] haben Sie mein Haus gestürmt [...]" kann sich die Zeitangabe nicht auf die Entführung beziehen, sondern nur auf das zuvor berichtete (Parlaments-) Geschehen, zumal BF1 in derselben Einvernahme die Urkunde mit dem Verweis auf September vorlegte.

Damit ist die weitere Urkunde (AS 413, 415), welche die Warnung des LROR an BF1 im Wege des Parlaments vom November 2013 beinhaltet, zeitlich passend vorgelegt worden (AS 399), weil sie nach der für die Entführung festgestellten Zeit ausgefertigt wurde und somit auch in der Vernehmung nicht im Zusammenhang damit eingeführt wird, sondern unter dem Aspekt der (weiterhin) fehlenden Schutzfähigkeit der Polizei.

Nach den vorliegenden Feststellungen hat das BFA auch den Beweiswert der Aktenteile betreffend die Parteizugehörigkeit von BF1 (AS 289 bei BF2, AS 509 bei BF1) verkannt: Dessen Partei trägt sinngemäß den Namen "Authentizitäts- und Entwicklungspartei", die ihm unterstellte dagegen "Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei". Wie aus den eben genannten Aktenteilen ersichtlich, errang erstere bei den Wahlen 2012 ein Mandat, während die andere 17 erhielt.

Durch die festgestellte Doppelrolle des Parlamentspräsidenten sowohl als "Schutzherr" der Abgeordneten als auch der von ihm für den Schutz der Hauptstadt bestimmten LROR-Truppe erklärt sich auch, warum die Eingabe von BF1 an diesen gerichtet war. Darüber hinaus noch eine Anzeige bei der Polizei zu erwarten, wie sie das BFA vermisst - oder die Bestätigung einer Bank über die Abhebung des Lösegeldes - um eine Entführung glaubhaft zu machen, erscheint damit bei vollständiger Heranziehung der Urkundenbeweise nicht erforderlich.

Das gilt sinngemäß auch für die Bedrohung von BF1 durch (u. a.) Milizangehörige, von denen ihn im Auto sitzend erst sechs umkreisten und von denen zwei im Folgemonat an einer Parlamentsbesetzung teilnahmen (AS 397). Darüber eine (zusätzliche) Anzeige bei der Polizei zu erwarten, weil BF1 "gerade in Tripolis auf ein für heimatstaatliche Verhältnisse überdurchschnittliches Sicherheitskonstrukt zurückgreifen" könne, wie das BFA ausführt, erscheint mit Blick auf die Länderfeststellungen - auch für den Bescheidzeitpunkt - ebenso wenig passend wie der Verweis darauf, die Stadt befinde sich "unter Regierungskontrolle".

Betreffend BF2 war weder aus dem Vorbringen noch sonst zu sehen, woraus sich die Gefahr einer auf die Abgeordnetentätigkeit von BF1 abstellenden Entführung in der aktuellen Situation eines wenig einflussreichen GNC ergeben sollte, wenn eine solche Entführung in den Jahren 2012/13 nicht stattfand, obwohl BF1 damals noch mehr bewirken konnte.

Die "westliche Orientierung" von BF2, die erstmals in der Beschwerde geltend gemacht wird, damit knapp zwei Monate nach deren Vernehmung, kann schon deshalb nicht als asylrelevanter Verfolgungsgrund festgestellt werden, weil (vom Neuerungsverbot abgesehen) eine Schwester von BF2 in der Herkunftsstadt im Gegensatz zu dieser ohne Kopftuch seit Jahren mit der Familie lebt. Auch die anderen Feststellungen - Lehrtätigkeit im Herkunftsstaat, Nachhilfe hier, Besuch und Nächtigung von Freundinnen - führen nicht zu diesem Schluss.

Die Entführung von BF3 konnte anhand der Urkunden wie zu BF1 angegeben festgestellt werden. Das Gericht übersieht nicht, dass BF2 angab, BF3 habe "draußen mit anderen Kindern [...] gespielt" (AS 384), während BF1 angab: "Er wollte Brot kaufen, aber er kam nicht zurück" AS 398). Im Hinblick auf den ansonsten stimmig berichteten Ablauf (BF3 kommt nicht nachhause, BF2 informiert BF1 darüber, BF1 rechnet mit Entführung, beruhigt aber BF2, Entführer melden sich telefonisch bei BF1, Lösegeldforderung, Bezahlung am selben Tag, Rückkehr BF3) misst das Gericht dem keine große Bedeutung zu, zumal das BFA die Einvernahmen erst fast vier Jahre nach den Erstbefragungen vornahm.

Ein Missbrauch von BF3 bei dieser Gelegenheit war allerdings nicht feststellbar, weil die Angaben von BF1 und BF2 dazu widersprüchlich blieben, während von BF3 solche fehlen, weil dessen Vernehmung und jene einer psychologischen Betreuungsperson - trotz auf Anfrage des BFA erteilter Zustimmung von BF1 (AS 495) - unterblieben.

Aus der mit BF2 aufgenommenen Niederschrift (AS 379 ff) ergibt sich, dass diese die Frage, ob BF3 bei der Entführung "etwas geschehen" sei, ausdrücklich verneinte. Es ist - angesichts des anschließend protokollierten Weinens von BF2 - zwar nicht auszuschließen, dass BF2 aus Scham verneinte, wie die Beschwerde vorbringt, auch im Hinblick auf die bei Erstbefragung und Einvernahme jeweils männlichen Befrager, muss aber fallbezogen auch nicht geklärt werden, um die Rechtssache zu entscheiden.

Es ist nach den Länderberichten nicht auszuschließen, dass BF3 bei einer Rückkehr Opfer einer Entführung oder Zwangsrekrutierung würde, allerdings liegt kein Hinweis vor, dass das aus asylrelevanten Gründen der Fall sein könnte, zumal er in der aktuellen Lage von BF1 und des GNC auch nicht als Geisel für die Durchsetzung politischer Forderungen in Frage kommt.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Stattgabe und Zuerkennung der Status eines oder einer Asylberechtigten:

Einem Fremden, der einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist nach § 3 Abs. 1 AsylG 2005 dann der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn (der Antrag nicht zurückzuweisen und) glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z. 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK) droht.

Als Flüchtling im Sinne dieser Bestimmung der GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen. Für Staatenlose gilt das, wenn sie sich infolge der genannten Umstände außerhalb des Landes des gewöhnlichen Aufenthaltes befinden und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt sind, dorthin zurückzukehren.

Nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH der laut GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht davor. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. (05.09.2016, Ra 2016/19/0074 mwH)

Die Asylbehörden haben dabei den realen Hintergrund der vom Asylwerber vorgetragenen Fluchtgeschichte in ihre Überlegungen einzubeziehen und die Glaubwürdigkeit seiner Behauptungen auch im Vergleich zur einschlägigen Berichtslage zu messen. (VwGH 16.02.2016, Ra 2014/20/0165 mwH).

Die Feststellungen zur Vergangenheit von BF1 und zur Entwicklung u

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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