Entscheidungsdatum
27.06.2019Norm
B-VG Art. 133 Abs4Spruch
G310 2220068-1/2E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Gaby WALTNER als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX, geb. am XXXX, StA. Polen, vertreten durch Dr. Wolfgang WEBER, Rechtsanwalt, gegen den Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 09.05.2019, Zl. XXXX beschlossen:
A) In Erledigung der Beschwerde wird der angefochtene Bescheid
aufgehoben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
BEGRÜNDUNG:
Verfahrensgang und Sachverhalt:
Die Beschwerdeführerin (BF) ist mit Unterbrechungen seit XXXX2004 in Österreich nach dem Meldegesetz gemeldet. Vom XXXX2013 bis XXXX2015 war sie als Arbeiterin in Österreich beschäftigt, seit 15.05.2019 nunmehr als Angestellte. Dazwischen bezog sie Arbeitslosengeld bzw. Notstands- und Überbrückungshilfe.
Mit Beschluss vom XXXX2017 des Landesgerichts für Strafsachen XXXX,XXXX, wurde über die BF die Untersuchungshaft verhängt.
Mit Schreiben vom 21.07.2017 wurde die BF vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) aufgefordert, sich zur beabsichtigten Erlassung eines Aufenthaltsverbotes zu äußern. Eine entsprechende Stellungnahme langte am 03.08.2017 beim BFA ein.
Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen XXXX vom XXXX, XXXX wurde die BF wegen des Verbrechens der versuchten schweren Körperverletzung nach §§ 15, 84 Abs 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwanzig Monaten verurteilt, wobei ein Teil der verhängten Freiheitsstrafe im Ausmaß von vierzehn Monaten unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen wurde.
Mit dem nunmehr bekämpften Bescheid vom 09.05.2019 wurde über die BF gemäß § 67 Abs 1 und 2 FPG ein für die Dauer von vier Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 70 Abs 3 FPG wurde ein Durchsetzungsaufschub von einem Monat ab Durchsetzbarkeit dieser Entscheidung erteilt (Spruchpunkt II.). Begründet wurde das Aufenthaltsverbot mit der strafgerichtlichen Verurteilung sowie mehreren Verwaltungsübertretungen, zuletzt begangen im Jahr 2010.
Gegen den oben angeführten Bescheid wurde Beschwerde erhoben. Begründend wurde zusammengefasst ausgeführt, dass das Ermittlungsverfahren mangelhaft geführt worden sei, dies insbesondere in Bezug auf die Aufenthaltsdauer und das bestehende Privatleben in Österreich.
Die gegenständliche Beschwerde und die Bezug habenden Verwaltungsakten wurden dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) vom BFA vorgelegt und langten am 18.06.2019 ein.
Beweiswürdigung:
Der oben angeführte Verfahrensgang und Sachverhalt ergibt sich aus dem Inhalt der vorgelegten Verwaltungsakten des BFA und des Gerichtsakts des BVwG. Entscheidungsrelevante Widersprüche liegen nicht vor.
Rechtliche Beurteilung:
Zu Spruchteil A)
Gemäß § 28 Abs 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art 130 Abs 1 Z 1 B-VG (Bescheidbeschwerden) in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht (Z 1) oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist (Z 2). Gemäß § 28 Abs 3 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vorliegen, im Verfahren über Bescheidbeschwerden in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist dann an die rechtliche Beurteilung gebunden, von der das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.
Die Zurückverweisungsmöglichkeit gemäß § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG ist eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte. Eine Aufhebung des Bescheids kommt nicht in Betracht, wenn der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt feststeht oder seine Feststellung durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist. Von der Möglichkeit der Zurückverweisung kann nur bei gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden. Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen kommt daher insbesondere dann in Betracht, wenn die Behörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Behörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden.
Die Verwaltungsgerichte haben nicht nur bei Vorliegen der in den Z 1 und Z 2 des § 28 Abs 2 VwGVG genannten Voraussetzungen in der Sache selbst zu entscheiden, sondern nach Maßgabe des § 28 Abs 3 VwGVG grundsätzlich auch dann, wenn trotz Fehlens dieser Voraussetzungen die Verwaltungsbehörde dem nicht unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht (VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063). Wenn die Behörde den entscheidungswesentlichen Sachverhalt unzureichend festgestellt hat, indem sie keine für die Sachentscheidung brauchbaren Ermittlungsergebnisse geliefert hat, ist eine Zurückverweisung gemäß § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG zulässig (VwGH 28.03.2017, Ro 2016/09/0009).
Ausgehend von diesen Grundsätzen liegen hier die Voraussetzungen für eine Sachentscheidung durch das BVwG nicht vor. Weder steht der maßgebliche Sachverhalt fest noch würde seine Feststellung durch das Gericht die Prozessökonomie fördern, zumal gravierende Ermittlungslücken vorliegen.
Gemäß § 67 Abs 1 FPG ist die Erlassung eines Aufenthaltsverbots gegen unionsrechtlich aufenthaltsberechtigte EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige zulässig, wenn auf Grund ihres persönlichen Verhaltens die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährdet ist. Das Verhalten muss eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Strafrechtliche Verurteilungen allein können diese Maßnahmen nicht ohne weiteres begründen. Vom Einzelfall losgelöste oder auf Generalprävention verweisende Begründungen sind nicht zulässig. Die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes gegen EWR-Bürger, Schweizer Bürger oder begünstigte Drittstaatsangehörige, die ihren Aufenthalt seit zehn Jahren im Bundesgebiet hatten, ist dann zulässig, wenn aufgrund des persönlichen Verhaltens des Fremden davon ausgegangen werden kann, dass die öffentliche Sicherheit der Republik Österreich durch seinen Verbleib im Bundesgebiet nachhaltig und maßgeblich gefährdet würde.
Bei Erlassung eines Aufenthaltsverbots ist eine einzelfallbezogene Gefährdungsprognose zu erstellen, bei der das Gesamtverhalten des Betroffenen in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen ist, ob und im Hinblick auf welche Umstände die maßgebliche Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Bei der nach § 67 Abs. 1 FPG zu erstellenden Gefährdungsprognose geht schon aus dem Gesetzeswortlaut klar hervor, dass auf das "persönliche Verhalten" des Fremden abzustellen ist und strafrechtliche Verurteilungen allein nicht ohne weiteres ein Aufenthaltsverbot begründen können (vgl. etwa VwGH 16.10.2014, Ra 2014/21/0039, Punkt 2.1. der Entscheidungsgründe, mwN, und daran anschließend die Erkenntnisse VwGH 22.01.2015, Ra 2014/21/0052, Punkt 2. der Entscheidungsgründe, und VwGH 19.05.2015, Ra 2014/21/0057).
Vor dem Hintergrund der dargestellten Judikatur ist auf der Grundlage der bisherigen Ermittlungen des BFA noch keine abschließende rechtliche Beurteilung des Sachverhalts möglich; dieser ist vielmehr in wesentlichen Teilen ergänzungsbedürftig.
So hat es das BFA verabsäumt, sich mit der Aufenthaltsdauer der BF und dem entsprechend anzuwendenden Gefährdungsmaßstab auseinander zu setzen. Es wurde zwar festgehalten, dass sich die BF seit 2008 ständig im Bundesgebiet aufgehalten habe, aber es wurden keine Ermittlungen dazu getätigt, ob sie sich tatsächlich kontinuierlich seit 2008 in Österreich aufgehalten hat bzw. ob sie nicht bereits das Daueraufenthaltsrecht erworben hat.
Das BFA wird daher Ermittlungen hinsichtlich des Aufenthaltes im Bundesgebiet anzustellen haben. Für den Fall, dass das durchzuführende Ermittlungsverfahren nunmehr einen zehnjährigen Aufenthalt der BF ergibt, wäre das Verhalten nach dem Maßstab des § 67 Abs 1 fünfter Satz FPG zu beurteilen. Hat die BF das Daueraufenthaltsrecht erworben haben, ist bei der Erlassung eines Aufenthaltsverbotes der in Art. 28 Abs 2 der Unionsbürgerrichtlinie und § 66 Abs 1 letzter Satzteil FrPolG 2005 idF FrÄG 2011 vorgesehene Maßstab heranzuziehen. Ein Aufenhaltsverbot ist dann nur zulässig, wenn ihr Aufenthalt eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit darstellt.
Zu den Ausführungen des BFA, wonach mangels Erfüllung der Voraussetzungen des § 51 NAG keine Aufenthaltsverfestigung nach § 53a NAG eingetreten sei, ist auszuführen, dass diesbezüglich allerdings einerseits darauf hinzuweisen ist, dass für eine solche Beurteilung eine konkrete Prüfung der wirtschaftlichen Situation der Betroffenen vorzunehmen gewesen wäre (vgl. VwGH 30.8.2018, Ra 2018/21/0047, 0048, Rn. 15, mit dem Hinweis auf VwGH 21.12.2017, Ra 2017/21/0132, Rn. 10, mwN), die das BFA unterlassen hat. Andererseits liegt der Argumentation des BFA möglicherweise die - nicht zutreffende (siehe neuerlich des Näheren VwGH 14.11.2017, Ra 2017/21/0130, Rn. 13, mwN) - Auffassung zugrunde, es müssten kumulativ die Voraussetzungen der Z 1 und der Z 2 des § 51 Abs. 1 NAG erfüllt sein (vgl. VwGH 30.08.2018, Ra 2018/21/0049).
Der Auffassung, ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht zu verneinen, weil die BF nicht durchgehend über einen Arbeitsplatz verfügte und sie zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung keine Anmeldebescheinigung innehatte, ist einerseits zu erwidern, dass auch das nachhaltige Bemühen um eine Arbeitsstelle, sofern dieses Bemühen objektiv nicht aussichtslos ist, ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht vermitteln kann (vgl. etwa VwGH 26.02.2013, Zl. 2010/22/0104; siehe auch das Urteil des EuGH vom 15. September 2015, C-67/14, "Alimanovic", Rz 56 ff); andererseits ist darauf hinzuweisen, dass dieses Aufenthaltsrecht innerstaatlich nicht verliehen, sondern nur dokumentiert wird (vgl. für viele zuletzt VwGH 09.08.2016, Ro 2015/10/0050, Rz 20), weshalb es auf die Ausstellung einer Anmeldebescheinigung für den Rechtserwerb nicht ankommt (vgl. VwGH 26.01.2017, Ra 2016/21/0264).
Weiters ging das BFA nicht auf die im Urteil des Landesgerichts für Strafsachen XXXX erwähnten Strafzumessungsgründe ein, obwohl diese auch ausschlaggebend für die Höhe der verhängten Strafe sind. Ebenso blieben die im Rahmen der Strafbemessung nach § 32 StGB erfolgten Ausführungen des Gerichtes unberücksichtigt, welche ebenfalls Rückschlüsse auf das Persönlichkeitsbild der BF ziehen lassen, was für eine gesamtheitliche nachvollziehbare Gefährdungsprognose nicht unwesentlich ist. Immerhin hat das Landesgericht für Strafsachen XXXX, ausgehend von einem Strafrahmen von sechs bis fünf Jahre, mit einer Freiheitsstrafe von zwanzig Monaten das Auslangen gefunden, wobei vierzehn Monate bedingt nachgesehen wurden.
Das BFA hat sohin im fortgesetzten Verfahren nach Tätigung der entsprechenden Ermittlungsschritte basierend auf dem heranzuziehenden Gefährdungsmaßstab eine entsprechende Gefährdungsprognose zu treffen. Im Rahmen dieser Ermittlungen wird sich das BFA auch unter Bedachtnahme auf das Vorbringen in der Beschwerde mit dem Privatleben der BF in Österreich im Rahmen eines Parteiengehörs auseinanderzusetzen haben.
Da zur Klärung des relevanten Sachverhalts zusätzliche Ermittlungen notwendig sein werden und dadurch bedingte Weiterungen des Verfahrens nicht ausgeschlossen werden können, führt es weder zu einer Kostenersparnis noch zu einer Verfahrensbeschleunigung, wenn das BVwG die Erhebungen selbst durchführt.
Im Ergebnis ist der angefochtene Bescheid daher gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG aufzuheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheids an das BFA zurückzuverweisen.
Eine mündliche Verhandlung entfällt gemäß § 24 Ab.s 2 Z 1 VwGVG, weil schon aufgrund der Aktenlage feststeht, dass der angefochtene Bescheid aufzuheben ist.
Die Revision war wegen der Einzelfallbezogenheit der Entscheidung über die Anwendung des § 28 Abs 3 zweiter Satz VwGVG, die keine grundsätzliche Rechtsfrage iSd Art 133 Abs 4 B-VG begründet, nicht zuzulassen (siehe z.B. VwGH 25.01.2017, Ra 2016/12/0109).
Schlagworte
Behebung der Entscheidung, Ermittlungspflicht, Gefährdungsprognose,European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2019:G310.2220068.1.00Zuletzt aktualisiert am
16.10.2019