TE Bvwg Beschluss 2019/7/10 W175 2219933-1

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Veröffentlicht am 10.07.2019
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Entscheidungsdatum

10.07.2019

Norm

AsylG 2005 §5
BFA-VG §21 Abs3 Satz 2
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W175 2220789-1/4E

W175 2219933-1/4E

BESCHLUSS

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Neumann über die Beschwerden 1.) der XXXX , geboren am XXXX , alias XXXX alias XXXX und 2.) des XXXX , geboren am XXXX , armenische alias syrische Staatsangehörige, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 1.) 13.06.2019, Zahl:

1204329505-190053613, und vom 2.) 28.03.2019, Zahl:

1224584406-190329756, beschlossen:

A)

Der Beschwerde wird gemäß § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG idgF stattgegeben und der bekämpfte Bescheid behoben.

B)

Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG idgF nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

I.1. Die Erstbeschwerdeführerin (BF1) ist die Mutter des minderjährigen Zweitbeschwerdeführers (BF2) und reiste nach eigene Angaben zuletzt im Jänner 2019 nach Österreich ein.

I.2. Am 25.03.2019 wurde durch einen gewillkürten Vertreter für den zwischenzeitlich in Österreich geborenen BF2 ein Antrag gemäß § 2 Abs. 1 Z 13 Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl, BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, (AsylG), vertreten durch "die Kindeseltern", beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA), Regionaldirektion Tirol, eingebracht (§17 Abs. 3 AsylG). Dem Vater sei mit Bescheid vom 08.01.2016 der Flüchtlingsstatus zuerkannt worden, der BF2 habe gemäß § 34 Abs. 2 AsylG Anspruch auf Zuerkennung des selben Status.

I.3. Die BF1 wurde am 05.04.2019 bei einer österreichischen Polizeiinspektion niederschriftlich befragt, wobei sie angab, mit ihren Eltern 2003 nach Deutschland gekommen zu sein. Ihr dort gestellter Antrag auf internationalen Schutz sei negativ entschieden und die Familie hätte abgeschoben werden sollen. Im Dezember 2017 habe sie über das Internet ihren nunmehrigen Lebensgefährten und Vater des BF2 kennengelernt und sie hätten sich mehrmals in Deutschland getroffen. Die Eltern seien gegen diese Verbindung gewesen. Sie sei dann im Februar 2018 von zu Hause weggelaufen, es bestehe kein Kontakt mehr zu den Eltern, sie wisse nicht, ob diese noch in Deutschland seien. Im Jänner 2019 sei sie (zum wiederholten Mal) nach Österreich gekommen und geblieben. Sie wolle irgendwann in Österreich einen Asylantrag stellen, jetzt aber noch nicht, das habe ihr der Anwalt geraten. Für den BF2 sei bereits ein Antrag gestellt worden. Sie wisse nicht, welche Staatsangehörigkeit das Kind habe.

Am selben Tag wurde der angebliche Lebensgefährte befragt und gab an, in Österreich asylberechtigt zu sein. Er habe den Aufenthalt der BF1 nicht gemeldet, da er Angst habe, dass sie nach Deutschland abgeschoben werde. Sie hätten jedenfalls gewollt, dass das Kind in Österreich zur Welt kommt. Er sei dem Krankenhaus noch € 5.500,-

schuldig. Der BF1 gehe es momentan nicht gut, wenn es ihr besser gehe, werde sie einen Asylantrag stellen.

I.4. Das BFA richtete an Deutschland am 08.04.2019 ein auf Art. 18 Abs. 1 lit d der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (Dublin III-VO), gestütztes Wiederaufnahmeersuchen betreffend die BF. Ausgeführt wurde, dass die BF noch keinen Asylantrag gestellt habe, sondern sich nur nach der Möglichkeit erkundigt habe. Das Deutsche Landesamt für Ausländerangelegenheiten habe das BFA am 04.04.2019 informiert, dass die BF1 am 08.07.2013 in Deutschland einen Antrag auf internationalen Schutz eingebracht habe, der zwischenzeitlich negativ entschieden worden sei. Es lägen weder Nachweise vor, dass der angebliche Lebensgefährte der BF1 tatsächlich mit ihr in einer Lebensgemeinschaft lebe, noch, dass der BF2 der Sohn dieses Mannes sei. Dass dieser Mann in Österreich asylberechtigt ist, wurde nicht erwähnt.

I.5. Mit Schreiben vom 12.04.2019 stimmte die deutsche Dublin-Behörde der Wiederaufnahme beziehungsweise Aufnahme beider BF gemäß Art. 18 Abs. 1 lit d Dublin III-VO ausdrücklich zu, wobei mehrere Aliasdaten der BF1 mitgeteilt wurden, welche diese offenbar in Deutschland angegeben hatte.

I.6. In einer Stellungnahme vom 20.05.2019 (zu einem nicht im Akt befindlichen Parteiengehör vom 08.05.2019) wurde ausgeführt, dass die BF mehrfach versucht habe, einen Asylantrag zu stellen, dies sei ihr jedoch mit dem Hinweis auf mangelnde örtliche Zuständigkeit verwehrt worden.

I.7. Im Akt des BF2 findet sich eine Einvernahme der BF1 vom 22.05.2019, wobei die BF1 in Abwesenheit eines Dolmetschers und ihres gewillkürten Vertreters auf Deutsch befragt wurde. Es wurde ihr mitgeteilt, dass beabsichtig sei, sie und den BF2 nach Deutschland auszuweisen. Sie gab an, sie habe Angst, die Familie werde sie töten, da sie den Lebensgefährten ablehnen würden, insbesondere wenn die Familie erfahren würde, dass sie auch noch ein Kind habe. Über Belehrung des BFA gab sie an, der Lebensgefährte spreche nicht Armenisch und hätte in Armenien keine Zukunft, selbst wenn ihm der Aufenthalt dort ermöglicht würde.

Nachdem die BF1 die Niederschrift durchgelesen hatte, gab sie an, nicht alles verstanden zu haben, worauf ihr diese nochmals "vorgelesen und im Detail erklärt wurde".

I.8. Die BF2 stellte aktenkundig für sich am 31.05.2019 einen Antrag auf internationalen Schutz.

I.9. Im Rahmen der Erstbefragung am selben Tag gab die BF1 an, dass ihr Pass bei ihrer Familie sei. Sie sei in Deutschland geduldet gewesen, nach vier Jahren habe man sie abschieben wollen. Mit den Eltern habe sie gestritten, da man sie habe zwangsverheiraten wollen, weshalb sie weggelaufen sei. Sie wolle mit ihrem Sohn bei ihrem Lebensgefährten in Österreich leben, zu ihm und zu seiner Familie hätte sie engen Kontakt, sie sei von ihnen finanziell abhängig. Sie habe Angst vor ihrer eigenen Familie, diese würden auch den BF2 nicht akzeptieren.

I.10. Am 12.06.2019 führte die BF1 nach erfolgter Rechtsberatung niederschriftlich unter anderem aus, dass sie vor ihren Eltern in Deutschland geflohen sei. Konkrete Vorfälle habe es nicht gegeben. Sie wolle, dass die ganze Familie (Lebensgefährte und BF2) in Österreich zusammenlebe.

I.11. Das BFA wies mit den beschwerdegegenständlichen Bescheiden vom 28.05.2019 (BF2), zugestellt am 31.05.2019, und vom 13.06.2019 (BF1), zugestellt am 14.06.2019, die Anträge der BF auf internationalen Schutz ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG als unzulässig zurück und sprach aus, dass Deutschland für die Prüfung der Anträge gemäß Art. 20 Abs. 3 (BF2) beziehungsweise Art. 18 Abs. 1 lit b (BF1) der Dublin III-VO zuständig sei (Spruchpunkt I.). Die Außerlandesbringung der BF wurde gemäß § 61 Abs. 1 Bundesgesetz über die Ausübung der Fremdenpolizei, die Ausstellung von Dokumenten für Fremde und die Erteilung von Einreisetitel, BGBl. I Nr. 100/2005 idgF (FPG), angeordnet und festgestellt, dass demzufolge die Abschiebung der BF nach Deutschland gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei (Spruchpunkt II.).

Ausgeführt wurde, dass die Eltern des BF2 im Bewusstsein des unsicheren Aufenthaltes der BF1 ein Familienleben begründet hätten. Die BF1 sei illegal in das Bundesgebiet eingereist und auch illegal hier aufhältig. Eine unrechtmäßige Einreise könne einen Anspruch des BF1 auf einen vom Vater abgeleiteten Titel im Familienverfahren gemäß § 34 AsylG nicht begründen. Die BF1 sei ebenso von einer aufenthaltsberechtigten Maßnahme betroffen, ein Eingriff in Art. 8 EMRK sei daher nicht gegeben.

I.12. Mit 11.06.2019 brachte der BF2 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde ein, mit dem der Bescheid gesamtinhaltlich wegen Rechtswidrigkeit und Verletzung von Verfahrensvorschriften angefochten wurde.

Moniert wurde, dass die Einvernahme der BF1 am 22.05.2019 ohne Dolmetscher durchgeführt worden sei. Für eine Einvernahme, insbesondere in Vertretung des Kindes, reichten ihre Deutschkennnisse jedoch nicht aus, was sie in der Einvernahme auch zu erkennen gegeben habe. Beim BF2 komme im Übrigen die Zuständigkeitsregelung des Art. 9 Dublin III-VO zur Anwendung. Der Vater des BF2 sei von der Behörde jedoch völlig ignoriert worden. Weiters sei festgestellt worden, dass der BF2 armenischer Staatsangehöriger sei. Er habe jedoch auch die Staatsangehörigkeit des Vaters. Dieser sei syrischer Staatsangehöriger, werde jedoch in Syrien als staatenlos betrachtet. Das BFA sei verpflichtet gewesen, den Kindesvater als Zeugen oder gesetzlichen Vertreter zu befragen, ob er wünsche, dass das Verfahren in Österreich durchgeführt werde, was dieser jedenfalls wünsche. Entsprechende schriftliche Erklärungen der BF2 für den BF1 sowie des Lebensgefährten/Kindesvaters wurde der Beschwerde beigeschlossen. Hätte man bei der Befragung der BF2 einen Dolmetscher beigezogen, hätte sie den Wunsch ebenfalls kundgetan. Die Feststellung der illegalen Einreise des BF2 sei aktenwidrig, da dieser in Österreich geboren sei. Er habe jedenfalls Anspruch auf ein Familienverfahren nach § 34 AsylG und auf Zuerkennung desselben Schutzes wie sein Vater.

Mit 24.06.2019 brachte die BF1 fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde ein, mit dem der Bescheid gesamtinhaltlich wegen Rechtswidrigkeit und Verletzung von Verfahrensvorschriften angefochten wurde. Der Inhalt entspricht im Wesentlichen der Beschwerde des BF2. Die BF1 sei vor der aktenkundigen Antragstellung am 31.05.2019 zweimal rechtswidrig an der Antragstellung gehindert worden. Beide BF würden mit dem Vater beziehungsweise Lebensgefährten im selben Haushalt leben und seien von ihm finanziell abhängig.

I.8. Die Beschwerdevorlage an die zuständige Gerichtsabteilung des BVwG iSd § 16 Abs. 4 BFA-VG erfolgte am 05.07.2019.

II. Das BVwG hat erwogen:

Zu A) Aufhebung des angefochtenen Bescheides:

1.1. Die maßgeblichen Bestimmungen des Asylgesetzes 2005 (AsylG 2005) lauten:

"§ 2 (1) Z 22 Im Sinne dieses Bundesgesetzes ist Familienangehöriger: wer Elternteil eines minderjährigen Kindes, Ehegatte oder zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjähriges lediges Kind eines Asylwerbers oder eines Fremden ist, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten oder des Asylberechtigten zuerkannt wurde, sofern die Ehe bei Ehegatten bereits vor der Einreise bestanden hat, sowie der gesetzliche Vertreter der Person, der internationaler Schutz zuerkannt worden ist, wenn diese minderjährig und nicht verheiratet ist, sofern dieses rechtserhebliche Verhältnis bereits vor der Einreise bestanden hat; dies gilt weiters auch für eingetragene Partner, sofern die eingetragene Partnerschaft bereits vor der Einreise bestanden hat.

§ 34. (1) Stellt ein Familienangehöriger von

----------

1.-einem Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist;

2.-einem Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten (§ 8) zuerkannt worden ist oder

3.-einem Asylwerber

einen Antrag auf internationalen Schutz, gilt dieser als Antrag auf Gewährung desselben Schutzes.

(2) Die Behörde hat auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn

----------

1.-dieser nicht straffällig geworden ist und

-(Anm.: Z 2 aufgehoben durch Art. 3 Z 13, BGBl. I Nr. 84/2017)

3.-gegen den Fremden, dem der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (§ 7).

(3) Die Behörde hat auf Grund eines Antrages eines Familienangehörigen eines Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden ist, dem Familienangehörigen mit Bescheid den Status eines subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wenn

----------

1.-dieser nicht straffällig geworden ist;

-(Anm.: Z 2 aufgehoben durch Art. 3 Z 13, BGBl. I Nr. 84/2017)

3.-gegen den Fremden, dem der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt wurde, kein Verfahren zur Aberkennung dieses Status anhängig ist (§ 9) und

4.-dem Familienangehörigen nicht der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen ist.

(4) Die Behörde hat Anträge von Familienangehörigen eines Asylwerbers gesondert zu prüfen; die Verfahren sind unter einem zu führen; unter den Voraussetzungen der Abs. 2 und 3 erhalten alle Familienangehörigen den gleichen Schutzumfang. Entweder ist der Status des Asylberechtigten oder des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen, wobei die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten vorgeht, es sei denn, alle Anträge wären als unzulässig zurückzuweisen oder abzuweisen. Jeder Asylwerber erhält einen gesonderten Bescheid. Ist einem Fremden der faktische Abschiebeschutz gemäß § 12a Abs. 4 zuzuerkennen, ist dieser auch seinen Familienangehörigen zuzuerkennen.

(5) Die Bestimmungen der Abs. 1 bis 4 gelten sinngemäß für das Verfahren beim Bundesverwaltungsgericht.

(6) Die Bestimmungen dieses Abschnitts sind nicht anzuwenden:

----------

1.-auf Familienangehörige, die EWR-Bürger oder Schweizer Bürger sind;

2.-auf Familienangehörige eines Fremden, dem der Status des Asylberechtigten oder der Status des subsidiär Schutzberechtigten im Rahmen eines Verfahrens nach diesem Abschnitt zuerkannt wurde, es sei denn es handelt sich bei dem Familienangehörigen um ein minderjähriges lediges Kind;

3.-im Fall einer Aufenthaltsehe, Aufenthaltspartnerschaft oder Aufenthaltsadoption (§ 30 NAG).

§ 5. (1) Ein nicht gemäß §§ 4 oder 4a erledigter Antrag auf internationalen Schutz ist als unzulässig zurückzuweisen, wenn ein anderer Staat vertraglich oder auf Grund der Dublin - Verordnung zur Prüfung des Asylantrages oder des Antrages auf internationalen Schutz zuständig ist. Mit der Zurückweisungsentscheidung ist auch festzustellen, welcher Staat zuständig ist. Eine Zurückweisung des Antrages hat zu unterbleiben, wenn im Rahmen einer Prüfung des § 9 Abs. 2 BFA-VG festgestellt wird, dass eine mit der Zurückweisung verbundene Anordnung zur Außerlandesbringung zu einer Verletzung von Art. 8 EMRK führen würde.

(2) [..]

(3) Sofern nicht besondere Gründe, die in der Person des Asylwerbers gelegen sind, glaubhaft gemacht werden oder beim Bundesamt oder beim Bundesverwaltungsgericht offenkundig sind, die für die reale Gefahr des fehlenden Schutzes vor Verfolgung sprechen, ist davon auszugehen, dass der Asylwerber in einem Staat nach Abs. 1 Schutz vor Verfolgung findet.

§ 10. (1) Eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz ist mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn

1. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4 oder 4a zurückgewiesen wird,

2. der Antrag auf internationalen Schutz gemäß § 5 zurückgewiesen wird,

3.-5. [...]

und in den Fällen der Z 1 und 3 bis 5 von Amts wegen ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 nicht erteilt wird sowie in den Fällen der Z 1 bis 5 kein Fall der §§ 8 Abs. 3a oder 9 Abs. 2 vorliegt.

(2)-(3) [...]"

1.2. § 9 Abs. 1 und 2 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) lautet:

"§ 9. (1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Ausweisung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist."

1.3. § 61 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) lautet:

"§ 61. (1) Das Bundesamt hat gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Außerlandesbringung anzuordnen, wenn

1. dessen Antrag auf internationalen Schutz gemäß §§ 4a oder 5 AsylG 2005 zurückgewiesen wird oder nach jeder weiteren, einer zurückweisenden Entscheidung gemäß §§ 4a oder 5 AsylG 2005 folgenden, zurückweisenden Entscheidung gemäß § 68 Abs. 1 AVG oder

2. [...]

(2) Eine Anordnung zur Außerlandesbringung hat zur Folge, dass eine Abschiebung des Drittstaatsangehörigen in den Zielstaat zulässig ist. Die Anordnung bleibt binnen 18 Monaten ab Ausreise des Drittstaatsangehörigen aufrecht.

(3) Wenn die Durchführung der Anordnung zur Außerlandesbringung aus Gründen, die in der Person des Drittstaatsangehörigen liegen, eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde und diese nicht von Dauer sind, ist die Durchführung für die notwendige Zeit aufzuschieben.

(4) Die Anordnung zur Außerlandesbringung tritt außer Kraft, wenn das Asylverfahren gemäß § 28 AsylG 2005 zugelassen wird."

1.4. Die maßgeblichen Bestimmungen der Dublin III-VO lauten:

"KAPITEL II

ALLGEMEINE GRUNDSÄTZE UND SCHUTZGARANTIEN

Art. 3

Verfahren zur Prüfung eines Antrags auf internationalen Schutz

(1) Die Mitgliedstaaten prüfen jeden Antrag auf internationalen Schutz, den ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einschließlich an der Grenze oder in den Transitzonen stellt. Der Antrag wird von einem einzigen Mitgliedstaat geprüft, der nach den Kriterien des Kapitels III als zuständiger Staat bestimmt wird.

(2) Lässt sich anhand der Kriterien dieser Verordnung der zuständige Mitgliedstaat nicht bestimmen, so ist der erste Mitgliedstaat, in dem der Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde, für dessen Prüfung zuständig.

Erweist es sich als unmöglich, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta mit sich bringen, so setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat, die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann.

Kann keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat oder an den ersten Mitgliedstaat, in dem der Antrag gestellt wurde, vorgenommen werden, so wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat.

(3) Jeder Mitgliedstaat behält das Recht, einen Antragsteller nach Maßgabe der Bestimmungen und Schutzgarantien der Richtlinie 32/2013/EU in einen sicheren Drittstaat zurück- oder auszuweisen.

KAPITEL III

KRITERIEN ZUR BESTIMMUNG DES ZUSTÄNDIGEN MITGLIEDSTAATS

Artikel 6

Garantien für Minderjährige

(1) Das Wohl des Kindes ist in allen Verfahren, die in dieser Verordnung vorgesehen sind, eine vorrangige Erwägung der Mitgliedstaaten.

(2) Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass ein unbegleiteter Minderjährige in allen Verfahren, die in dieser Verordnung vorgesehen sind, von einem Vertreter vertreten und/oder unterstützt wird. Der Vertreter verfügt über die entsprechenden Qualifikationen und Fachkenntnisse, um zu gewährleisteten, dass dem Wohl des Minderjährigen während der nach dieser Verordnung durchgeführten Verfahren Rechnung getragen wird. Ein solcher Vertreter hat Zugang zu dem Inhalt der einschlägigen Dokumente in der Akte des Antragstellers einschließlich des speziellen Merkblatts für unbegleitete Minderjährige.

Dieser Absatz lässt die entsprechenden Bestimmungen in Artikel 25 der Richtlinie 2013/32/EU unberührt.

(3) Bei der Würdigung des Wohl des Kindes arbeiten die Mitgliedstaaten eng zusammen und tragen dabei insbesondere folgenden Faktoren gebührend Rechnung:

a) Möglichkeiten der Familienzusammenführung;

b) dem Wohlergehen und der sozialen Entwicklung des Minderjährigen unter besonderer Berücksichtigung seines Hintergrundes;

c) Sicherheitserwägungen, insbesondere wenn es sich bei dem Minderjährigen um ein Opfer des Menschenhandels handeln könnte;

d) den Ansichten des Minderjährigen entsprechend seinem Alter und seiner Reife.

(4) Zum Zweck der Durchführung des Artikels 8 unternimmt der Mitgliedstaat, in dem der unbegleitete Minderjährige einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, so bald wie möglich geeignete Schritte, um die Familienangehörigen, Geschwister oder Verwandte des unbegleiteten Minderjährigen im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten zu ermitteln, wobei er das Wohl des Kindes schützt.

Zu diesem Zweck kann der Mitgliedstaat internationale oder andere einschlägige Organisationen um Hilfe ersuchen und den Zugang des Minderjährigen zu den Suchdiensten dieser Organisationen erleichtern.

Das Personal der zuständigen Behörden im Sinne von Artikel 35, die unbegleitete Minderjährige betreffende Anträge bearbeiten, haben eine geeignete Schulung über die besonderen Bedürfnisse Minderjähriger erhalten und werden weiterhin geschult.

(5) Zur Erleichterung geeigneter Maßnahmen zur Ermittlung der im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats lebenden Familienangehörigen, der Geschwister oder der Verwandten eines unbegleiteten Minderjährigen gemäß Absatz 4 dieses Artikels erlässt die Kommission Durchführungsrechtsakte, einschließlich der Festlegung eines Standardformblatts für den Austausch einschlägiger Informationen zwischen den Mitgliedstaaten. Diese Durchführungsrechtsakte werden gemäß dem in Artikel 44 Absatz 2 genannten Prüfverfahren erlassen.

Art. 7

Rangfolge der Kriterien

(1) Die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats finden in der in diesem Kapitel genannten Rangfolge Anwendung.

(2) Bei der Bestimmung des nach den Kriterien dieses Kapitels zuständigen Mitgliedstaats wird von der Situation ausgegangen, die zu dem Zeitpunkt gegeben ist, zu dem der Antragsteller seinen Antrag auf internationalen Schutz zum ersten Mal in einem Mitgliedstaat stellt.

(3) Im Hinblick auf die Anwendung der in den Artikeln 8, 10 und 6 (Anmerkung: gemeint wohl 16) genannten Kriterien berücksichtigen die Mitgliedstaaten alle vorliegenden Indizien für den Aufenthalt von Familienangehörigen, Verwandten oder Personen jeder anderen verwandtschaftlichen Beziehung des Antragstellers im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats, sofern diese Indizien vorgelegt werden, bevor ein anderer Mitgliedstaat dem Gesuch um Aufnahme- oder Wiederaufnahme der betreffenden Person gemäß den Artikeln 22 und 25 stattgegeben hat, und sofern über frühere Anträge des Antragstellers auf internationalen Schutz noch keine Erstentscheidung in der Sache ergangen ist.

Artikel 9

Familienangehörige, die Begünstigte internationalen Schutzes sind

Hat der Antragsteller einen Familienangehörigen - ungeachtet der Frage, ob die Familie bereits im Herkunftsland bestanden hat -, der in seiner Eigenschaft als Begünstigter internationalen Schutzes in einem Mitgliedstaat aufenthaltsberechtigt ist, so ist dieser Mitgliedstaat für die Prüfung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig, sofern die betreffenden Personen diesen Wunsch schriftlich kundtun."

1.5. Gemäß § 21 Abs. 3 BFA-VG ist das Verfahren zugelassen, wenn der Beschwerde gegen die Entscheidung des Bundesamtes im Zulassungsverfahren stattzugeben ist. Der Beschwerde gegen die Entscheidung im Zulassungsverfahren ist auch stattzugeben, wenn der vorliegende Sachverhalt so mangelhaft ist, dass die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint.

2. Zur Frage der Unzuständigkeit Österreichs für die Durchführung des gegenständlichen Verfahrens beziehungsweise der Zuständigkeit Deutschlands ist eine Auseinandersetzung mit der Frage erforderlich, auf welcher Bestimmung die Zuständigkeit des ersuchten Mitgliedstaates beruht (VfGH 27.6.2012, U462/12); dies freilich, sofern maßgeblich, unter Berücksichtigung der Urteile des Gerichtshofes der Europäischen Union vom 10.12.2013 in der Rechtssache C-394/12, Shamso Abdullahi/Österreich, vom 07.06.2016 in der Rechtssache C-63/15, Mehrdad Ghezelbash/Niederlande sowie vom 07.06.2016 in der Rechtssache C-155/15, Karim.

Im Rahmen der Entscheidung C-63/15, Mehrdad Ghezelbash/Niederlande, wurde insbesondere ausgesprochen, dass Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO dahingehend auszulegen ist, dass ein Antragsteller auf internationalen Schutz im Rahmen eines Rechtsbehelfs gegen eine Entscheidung über seine Überstellung die fehlerhafte Anwendung eines in Kapitel III der Dublin III-VO festgelegten Zuständigkeitskriteriums sowie einen Verstoß gegen die Regelung des Art. 19 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO geltend machen könne und sich die korrekte Anwendbarkeit der Kriterien der Dublin III-VO sohin als im Rechtsweg überprüfbar erweise (siehe auch VwGH 23.6.2016, Ra 2016/20/0069, Rz 17). Der EuGH erwog, dass die Kontrolle der richtigen Anwendung der Zuständigkeitskriterien in dem Rahmen vorzunehmen ist, der durch Art. 22 Abs. 4 und 5 vorgegeben ist. Diese Bestimmung sieht vor, dass das Beweiserfordernis nicht über das für die ordnungsgemäße Anwendung der Verordnung erforderliche Maß hinausgehen sollte und in Ermangelung förmlicher Beweismittel der ersuchte Mitgliedstaat seine Zuständigkeit anerkennt, wenn die Indizien kohärent, nachprüfbar und hinreichend detailliert sind, um seine Zuständigkeit zu begründen.

Im vorliegenden Fall erfolgte die erste Antragstellung durch den in Österreich geborenen BF2 bereits am 25.03.2019 durch einen gewillkürten Vertreter der "Kindeseltern" unter Berufung auf den aufrechten Asylstatus der als Vater angeführten Person.

Am 08.04.2019 richtete das BFA einen Antrag auf Wiederaufnahme gemäß Art. 18 Abs. 1 lit d Dublin III-VO an Deutschland, wobei seitens des BFA offensichtlich sowohl die Vaterschaft als auch die Lebensgemeinschaft mit der BF1 angezweifelt wurden. Weder erfolgte ein Hinweis auf den Antrag des BF2 noch auf den Status des vorgeblichen Kindesvaters, sodass die Zustimmung Deutschlands letztlich auf unzureichender Information beruht.

Im gegenständlichen Fall ist grundsätzlich von einer Anwendung des § 34 AsylG auszugehen, der Für eine Anwendung der Dublin III-VO keine Raum ließe. Gründe, eine solche zu verneinen, lägen in einer mangelnden Vaterschaft der Ankerperson. Die Vaterschaft wurde seitens des BFA zwar zu Beginn des Verfahrens in Zweifel gezogen (Konsultation Deutschlands), die Ankerperson ist jedoch in der Geburtsurkunde des BF2 als Vater eingetragen. Eine illegale Einreise oder ein illegaler Aufenthalt der Mutter im Bundesgebiet sind für die Anwendung des § 34 AsylG nicht ausschlaggebend. Die Voraussetzung eines "bestehenden Familienlebens" kann schon deshalb nicht auf den Zeitpunkt der Antragstellung zu beziehen sein, weil sie von erst in Österreich geborenen Kindern nicht erfüllt werden könnte.

Sollte seitens des BFA Zweifel an der Vaterschaft der Ankerperson bestehen, wären diese zu prüfen und gegebenenfalls zu verifizieren. Hinweise, dass dies geschehen ist, und ob die Voraussetzung als Familienangehöriger etwa nicht erfüllt werden, ergeben sich weder aus dem Akteninhalt noch aus den angefochtenen Bescheiden.

Die BF1 ist zweifellos die Mutter des BF2, sodass jedenfalls Art. 8 EMRK im Hinblick auf den BF2 umfassend zu prüfen sein wird.

Im Hinblick darauf, dass eine Ergänzung des vorliegenden Sachverhaltes und damit verbunden gegebenenfalls die Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung unvermeidlich erscheint, war gemäß § 21 Abs. 3 zweiter Satz BFA-VG den Beschwerden stattzugeben und die bekämpften Bescheide zu beheben.

3. Gemäß § 21 Abs. 6a und 7 BFA-VG konnte von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen werden.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Die gegenständliche Entscheidung weicht im Ergebnis weder von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung; weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor. Im Übrigen trifft § 21 Abs. 3 BFA-VG eine klare, im Sinne einer eindeutigen, Regelung (vgl. OGH 22.03.1992, 5Ob105/90), weshalb keine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung vorliegt.

Schlagworte

Behebung der Entscheidung, Ermittlungspflicht, Familienangehöriger,
Kassation, mangelnde Sachverhaltsfeststellung

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:BVWG:2019:W175.2219933.1.00

Zuletzt aktualisiert am

11.10.2019
Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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