Entscheidungsdatum
18.07.2019Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W240 2188690-2/8E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Feichter über die Beschwerde von XXXX , StA. Somalia, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26.02.2019, Zl. 1112791603-171125615, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 03.06.2019, zu Recht erkannt:
A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG
2005 idgF der Status eines Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Die minderjährige Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige Somalias, reiste in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 03.10.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der Erstbefragung am selben Tag, gab die Mutter der minderjährigen Beschwerdeführerin, XXXX , der mit Bescheid des BFA vom 18.12.2014 in Österreich kein Asylstatus, jedoch der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden sei, dass die Beschwerdeführerin am 19.08.2017 mit dem Flugzeug legal und in Besitz eines österreichischen Visums von Nairobi/Kenia über Istanbul/Türkei nach Wien gereist sei.
2. Mit dem Bescheid des BFA vom 06.02.2018 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen (Spruchpunkt I.), ihr gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihr eine befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 8 Abs. 4 AsylG erteilt (Spruchpunkt III.).
Die Behörde stellte die Identität und die somalische Staatsangehörigkeit der Beschwerdeführerin fest. Ihrer Bezugsperson sei der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden und eine befristete Aufenthaltsberechtigung bestehe aktuell bis 18.12.2019. Die gesetzliche Vertreterin habe keine eigenen Fluchtgründe die Beschwerdeführerin betreffend vorgebracht. Es liege eine Familienverfahren gem. § 34 AsylG vor. Da der Bezugsperson der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden sei, habe auch die Beschwerdeführerin den gleichen Status im Familienverfahren zu erhalten.
3. Gegen den Spruchpunkt I. des Bescheides wurde rechtzeitig eine Beschwerde eingebracht, in der moniert wurde, dass unter Verweis auf die Lage der Frauen in Somalia die Entscheidung mangelhaft sei, da nicht zur konkreten Lage des Einzelfass entschieden worden sei.
4. Mit Beschluss des BVwG vom 26.06.2018, GZ: W240 2188690-1/5E, wurde der Bescheid des BFA vom 06.02.2018 aufgehoben und die Angelegenheiten gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
Die belangte Behörde habe hinsichtlich der Frage des Vorliegens einer asylrelevanten Verfolgung sowie der Situation im Falle einer Rückkehr keinerlei Ermittlungen vorgenommen. Nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts handle es sich hierbei um besonders krasse Ermittlungsfehler. Im vorliegenden Fall sei daher zu berücksichtigen, dass der Antrag auf Asyl der Beschwerdeführerin vor dem Hintergrund der in Somalia praktisch kaum vermeidbaren Genitalverstümmelung kleiner Mädchen im Hinblick auf die einschlägige Judikatur durchaus aussichtsreich erscheine. Dem Bundesamt müsste es aufgrund seines Amtswissens bekannt sein bzw. lasse sich auch den eigenen Länderfeststellungen im angefochtenen Bescheid entnehmen, dass die weibliche Genitalverstümmelung in Somalia weit verbreitet sei, und nicht beschnittenen Mädchen und Frauen eine solche bei einer Rückkehr drohen könnte, was unter Umständen als asylrelevante Verfolgung zu qualifizieren wäre.
Im Zuge des fortgesetzten erstinstanzlichen Ermittlungsverfahrens wurde vom BFA die Mutter der Beschwerdeführerin am 12.02.2019 neuerlich einvernommen.
5. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des BFA vom 21.02.2019 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß
§ 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen.
Es habe nicht festgestellt werden können, dass gegen den Willen der Mutter eine nochmalige Beschneidung in der Heimat drohe. Es hätten sich im Verwaltungsverfahren keine begründeten Hinweise auf eine Flüchtlingseigenschaft ergeben. Der Antrag sei durch die gesetzliche Vertretung ausschließlich zur Aufrechterhaltung des Familienverbandes gestellt worden. Es habe nicht festgestellt werden können, dass die Beschwerdeführerin im gesamten somalischen Gebiet einer aktuellen und unmittelbaren persönlichen sowie konkreten Gefährdung, Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt sei, weder von Seiten des Staates, noch durch Dritte. Es sei festgestellt worden, dass aufgrund der persönlichen Umstände keine Hinweise für eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung und daraus abgeleitete Fluchtgründe bzw. die reale Gefahr eines erheblichen Schadens gegeben seien. Es habe nicht festgestellt werden können, dass die Beschwerdeführerin Probleme aufgrund ihrer Nationalität, Volksgruppenzugehörigkeit, Religionszugehörigkeit, einer politischen Gesinnung, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe in ihrem Herkunftsstaat habe. Im gegenständlichen Verwaltungsverfahren hätten sich keine begründeten Hinweise auf eine Flüchtlingseigenschaft ergeben. Beweiswürdigend war angeführt worden, dass durch die amtswegig geführten Erhebungen im Zuge des Ermittlungsverfahrens keinerlei Hinweise hervorgetreten seien, die den Anlassfall einer Gefahr der Verfolgung bzw. eines erheblichen Schadens aus persönlichen Gründen erkennen hätten lassen, welche für die Beschwerdeführerin im Rahmen des gesamten Verfahrens auch nicht weiter geltend gemacht worden seien.
6. In der gegen nunmehr angefochtenen Bescheid vom 21.02.2019 erhobenen Beschwerde wurde insbesondere ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin im Alter von acht Jahren "lediglich" einer Typ-I-Genitalvestümmelung (nach der Skala der WHO) unterzogen worden sei. Sie befürchte jedoch, dass sie im Falle einer Rückkehr zu einer vollständigen Verstümmelung des Typs III (Infibulation) gezwungen werden würde. Zudem habe sie in Österreich die Gelegenheit, selbstbestimmt und gleichberechtigt aufzuwachsen. In Somalia drohe ihr sexualisierte Gewalt, massive Diskriminierung und eine Zwangsehe. Der Aufenthalt des Vaters sei unbekannt und sei die Mutter der Beschwerdeführerin mit diesem nicht verheiratet. Auch drohe der Beschwerdeführerin in Somalia Verfolgung seitens der Al Shabaab. Laut WHO würden grundsätzlich drei Typen der Genitalverstümmelung unterschieden: Bei der Verstümmelung des Typs I würden die Klitoris-Vorhaut und die Klitoris bzw. Teile davon ausgeschnitten. Bei einer Verstümmelung des Typs III die gesamten äußeren Geschlechtsteile ausgeschnitten und zusätzlich so weit zugenäht, dass lediglich eine kleine Öffnung für den Austritt von Harn und Menstruationsblut offen bleiben würde. Die Rechte von Frauen hinsichtlich ihrer physischen Integrität würden durch religiöse und gesellschaftliche Praktiken und Regeln, beispielsweise Polygamie, Kinder- und sonstige Zwangsehen und FGM eingeschränkt werden. Auch häusliche Gewalt gegenüber Frauen sei weit verbreitet und gesellschaftlich weitgehend akzeptiert. Es sei nachvollziehbar dargelegt worden, dass der Beschwerdeführerin als alleinstehende Frau und Tochter einer geschiedenen Mutter massive (sexualisierte) Gewalt drohe, vor welche diese nicht geschützt werden könne, da der somalische Staat dazu nicht in der Lage sei und die Beschwerdeführerin über keine (männlichen) Familienmitglieder verfüge, welche diese Schutzfunktion ausreichend übernehmen könnten. Es wurde in der Beschwerde darauf hingewiesen, dass es in den bisherigen Einvernahmen zu einem Missverständnis gekommen sei. Das BFA gehe hervor, dass die gesetzliche Vertreterin der Beschwerdeführerin dieser selbst eine Genitalverstümmelung des Typs
I zugefügt habe, dies sei falsch und habe sich die Mutter zu diesem Zeitpunkt bereits in Österreich befunden. Die weitere Genitalverstümmelung der Beschwerdeführerin werde von der Großmutter väterlicherseits angestrebt. Es sei davon auszugehen, dass der Großmutter väterlicherseits der Beschwerdeführerin im Falle der Rückkehr der Beschwerdeführerin bewusst wäre, die Beschwerdeführerin sei deshalb aus Somalia geflohen, um einer weiteren Beschneidung zu entgehen. Daher sei durchaus nachvollziehbar, dass die Großmutter im Falle einer Rückkehr die Absicht weit vehementer betreiben würde, die Beschwerdeführerin weiter zu beschneiden. Es sei festzuhalten, dass eine weitere Verstümmelung schwierig zu verhindern sei, da es diesbezüglich auf die Standhaftigkeit der Eltern ankomme. Mädchen, die wie die Beschwerdeführerin, einer Sunna und somit einer weniger massiven Form der Beschneidung unterzogen worden seien, würden oftmals als nicht so rein wie infibulierte Mädchen gelten. Das BFA lasse es völlig unbeantwortet, wie die Beschwerdeführerin im Fall einer Rückkehr nach Somalia keiner asylrelevanten Verfolgung (in Form einer Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der von sexueller Gewalt oder zwangsweisen vollständigen Beschneidung bedrohten alleinstehenden Mädchen, welche aus dem Westen zurückehren und dementsprechend "westlich" orientiert seien) ausgesetzt wäre. Schließlich habe das BVwG bereits in zahlreichen Entscheidungen erkannt, dass alleinstehenden somalischen Frauen (auch) aufgrund der drohenden geschlechtsspezifischen Gewalt der Asylstatus zuzuerkennen sei.
7. Im Rahmen der Beschwerdeverhandlung vom 03.06.2019 wurde die Mutter der minderjährigen Beschwerdeführerin zu den Fluchtgründen, insbesondere zu einer möglicherweise weiteren drohenden Genitalverstümmelung der Beschwerdeführerin, befragt. Die Mutter gab an, sie selbst gehöre dem Clan der Tunni an und dass die Beschwerdeführerin dem Clan der Hawiye - XXXX angehöre. Die Beschwerdeführerin sei in Mogadishu, im Bezirk XXXX geboren worden und aufgewachsen, für einige Zeit habe die Familie in XXXX gelebt. Die Beschwerdeführerin sei im März 2016 aus Somalia ausgereist und sei bis August 2017 in Kenia mit einer Freundin der Mutter aufhältig gewesen. Der Aufenthalt des Vaters der Beschwerdeführerin, von dem sich die Mutter 2008 habe scheiden lassen, sei unbekannt. Als die Mutter der Beschwerdeführerin Somalia verlassen habe, habe sie die Beschwerdeführerin bei der Mutter zurückgelassen, später bei der Cousine, als ihre Mutter verstorben sei. In Somalia würden noch Cousinen der Mutter der Beschwerdeführerin leben, der Onkel, der zunächst für die Familie gesorgt habe, lebe nunmehr in Dubai. In Mogadishu würden noch die Großmutter sowie Geschwister des Vaters der Beschwerdeführerin leben. Als Fluchtgrund der Beschwerdeführerin führte die Mutter aus, dass die Beschwerdeführerin im Alter von rund acht Jahren im Jahr 2013 in Somalia bereits ohne Zustimmung der Mutter beschnitten worden sei, ihre Cousine habe dieser Beschneidung zugestimmt und halte diese für "ausreichend". Die Mutter der Beschwerdeführerin fürchte, dass die Großmutter väterlicherseits an der Beschwerdeführerin die schwerste Art der Beschneidung durchführen lasse. Die Großmutter väterlicherseits der Beschwerdeführerin habe bereits einmal geäußert, dass diese Beschneidung nicht genug sei und die Beschwerdeführerin ganz zugenäht werden müsste. Die Großmutter habe in Somalia das Sagen und die Familie respektiere diese. Die Großmutter der Beschwerdeführerin habe der Mutter gesagt, sie würde die Beschwerdeführerin noch einmal beschneiden lassen und sie "ordentlich zunähen" lassen. Die Mutter der Beschwerdeführerin habe die Großmutter vertröstet und gesagt, die weitere Beschneidung solle erst erfolgen, wenn die Mutter der Beschwerdeführerin wieder in Somalia sei. Dies sei jedoch nur ein Vorwand gewesen, um eine weitere Beschneidung hinauszuzögern, bis die Beschwerdeführerin aus Somalia habe fliehen können. Die Mutter der Beschwerdeführerin führte aus, dass sich die Beschwerdeführerin vor einer weiteren Beschneidung nicht schützen könnte, es sei für somalische Männer wichtig, dass die Frauen "ganz zugenäht" seien.
Ergänzend zu dem bereits übermittelten Länderinformationsblatt wurde dem Beschwerdevorbringen entsprechend weitere Dokumente zur Kenntnis gebracht und eine Frist zur Abgabe einer Stellungnahme und Vorlage einer ärztlichen Bestätigung über die Art der an der Beschwerdeführerin vorgenommenen Beschneidung eingeräumt.
8. Am 02.07.2019 langte eine Stellungnahme der ausgewiesenen Vertretung der Beschwerdeführerin ein. Es wurde ausgeführt, dass von der gynäkologischen Ambulanz einer österreichischen Krankenanstalt bestätigt worden sei, dass an der Beschwerdeführerin eine Typ 1-Beschneidung durchgeführt worden sei.
Zusammen mit der Stellungnahme wurde eine mit 17.06.2019 datierte Ambulanzkarte einer österreichischen gynäkologischen Ambulanz betreffend die Beschwerdeführerin übermittelt worden, darin wurde betreffend die Beschwerdeführerin diagnostiziert "FGM Typ 1, bds. kleine Labien erhalten".
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
Zur Person der Beschwerdeführerin:
Die minderjährige Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige Somalias, reiste in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am 03.10.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz. Bei der Erstbefragung am selben Tag, gab die Mutter der minderjährigen Beschwerdeführerin, XXXX , der mit Bescheid des BFA vom 18.12.2014 in Österreich kein Asylstatus, jedoch der Status der subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt worden sei. Sie stammt aus
Die Mutter der Beschwerdeführerin gehöre dem Clan der Tunni an, die Beschwerdeführerin dem Clan der Hawiye - XXXX . Die Beschwerdeführerin ist in Mogadishu, im Bezirk XXXX geboren worden und aufgewachsen, für einige Zeit hat sie mit ihrer Familie in XXXX gelebt. Die Beschwerdeführerin ist im März 2016 aus Somalia ausgereist und war bis August 2017 in Kenia mit einer Freundin der Mutter aufhältig gewesen. Der Aufenthalt des Vaters der Beschwerdeführerin, von dem sich die Mutter 2008 scheiden ließ, ist unbekannt. Als die Mutter der Beschwerdeführerin Somalia verlassen hat, wurde die Beschwerdeführerin bei der Großmutter mütterlicherseits zurückgelassen, später bei der Cousine, als die Großmutter mütterlicherseits verstorben war. In Somalia leben noch Cousinen der Mutter der Beschwerdeführerin. In Mogadishu lebt die Großmutter väterlicherseits sowie Geschwister des Vaters der Beschwerdeführerin. An der Beschwerdeführerin war im Alter von rund acht Jahren im Jahr 2013 in Somalia ohne Zustimmung der Mutter eine Typ 1 - Klitoriedektomie (Sunna) vorgenommen worden, die Cousine der Mutter hatte dieser Beschneidung zugestimmt und halte diese für "ausreichend". Die Großmutter väterlicherseits, welche mangels naher männlicher Verwandten der Beschwerdeführerin in Somalia, eine dominierende Stellung im gegenständlichen Fall einnimmt, dass an der Beschwerdeführerin eine weitere Beschneidung (Typ 3 - Infibualtion) vorgenommen wird, um dies zu verhindern, ist die Beschwerdeführerin aus Somalia geflüchtet.
Der Beschwerdeführerin droht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit durch die in Somalia lebenden Verwandten, insbesondere durch die Großmutter väterlicherseits, dass sie im Falle einer Rückkehr zu einer vollständigen Genitalverstümmelung des Typs III (Infibulation) gezwungen wird.
Die Beschwerdeführerin hat im Heimatstaat keine anderen familiären und sozialen Anhaltspunkte als zu Familienmitgliedern, welche sie weiter beschneiden wollen bzw. welche sich nicht gegen die Verwandtschaft, insbesondere gegen die dominierende Großmutter väterlicherseits der Beschwerdeführerin, wehren können, welche die Beschwerdeführerin weiter beschneiden will. Die Beschwerdeführerin ist in ihrer Heimat durch die Gefahr gegen ihren Willen weiter beschnitten zu werden asylrelevanter Verfolgung ausgesetzt. Die Beschwerdeführerin ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass der Beschwerdeführerin, sollte sie nicht zu ihrer Familie in Somalia zurückkehren, als alleinstehendes minderjähriges Mädchen in Somalia mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine an ihre Ethnie und an ihre Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe anknüpfende aktuelle Verfolgung entsprechender Intensität droht.
Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass der Beschwerdeführerin im Fall ihrer Rückkehr nach Somalia die Gefahr unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung im Sinne des
Art. 3 EMRK droht.
Zu Zu Somalia wird Folgendes verfahrensbezogen festgestellt:
2. Politische Lage
Das Gebiet von Somalia ist de facto in drei unterschiedliche administrative Einheiten unterteilt: a) Somaliland, ein 1991 selbstausgerufener unabhängiger Staat, der von der internationalen Gemeinschaft nicht anerkannt wird; b) Puntland, ein 1998 selbstausgerufener autonomer Teilstaat Somalias; c) das Gebiet südlich von Puntland, das Süd-/Zentralsomalia genannt wird (EASO 8.2014). Im Hinblick auf fast alle asylrelevanten Tatsachen ist Somalia in diesen drei Teilen zu betrachten (AA 1.1.2017).
Im Jahr 1988 brach in Somalia ein Bürgerkrieg aus, der im Jahr 1991 im Sturz von Diktator Siyad Barre resultierte. Danach folgten Kämpfe zwischen unterschiedlichen Clans, Interventionen der UN sowie mehrere Friedenskonferenzen (EASO 8.2014). Seit Jahrzehnten gibt es keine allgemeinen Wahlen auf kommunaler, regionaler oder zentralstaatlicher Ebene. Politische Ämter wurden seit dem Sturz Siad Barres 1991 entweder erkämpft oder unter Ägide der internationalen Gemeinschaft, hilfsweise unter Einbeziehung nicht demokratisch legitimierter traditioneller Strukturen (v.a. Clan-Strukturen) vergeben (AA 1.1.2017).
Im August 2012 endete die Periode der Übergangsregierung (BS 2016). Seit damals gibt es eine politische Entwicklung, die den Beginn einer Befriedung und Stabilisierung sowie eines Wiederaufbaus staatlicher Strukturen markiert. Am 1.8.2012 wurde in Mogadischu eine vorläufige Verfassung angenommen. Seitdem ist die Staatsbildung kontinuierlich vorangeschritten. Das im Dezember 2016 gewählte Parlament stellt dabei auch einen deutlichen demokratischen Fortschritt gegenüber dem 2012 gewählten Parlament dar. Während 2012 135 Clanälteste die Zusammensetzung bestimmten (AA 4.2017a; vgl. UNSC 5.9.2017), waren es 2016 über 14.000 Clan-Repräsentanten (UNHRC 6.9.2017) bzw. 13.000. Während die 54 Mitglieder des Oberhauses von den Parlamenten der Bundesstaaten gewählt wurden, wählten die o.g. Clan-Repräsentanten die 275 auf Clan-Basis ausgewählten Abgeordneten des Unterhauses (UNSC 9.5.2017).
Auch wenn es sich um keine allgemeine Wahl gehandelt hat, ist diese Wahl im Vergleich zu vorangegangenen Wahlen ein Fortschritt gewesen (DW 10.2.2017). Allerdings war auch dieser Wahlprozess problematisch, es gibt zahlreiche Vorwürfe von Stimmenkauf und Korruption (SEMG 8.11.2017). Im Februar 2017 wählte das neue Zweikammerparlament Mohamed Abdullahi Mohamed "Farmaajo" zum Präsidenten; im März bestätigte es Hassan Ali Kheyre als Premierminister (AA 4.2017a; vgl. UNSC 5.9.2017, SEMG 8.11.2017). Das Parlament bestätigte am 29.3.2017 dessen 69-köpfiges Kabinett (UNSC 9.5.2017).
Die Macht wurde friedlich und reibungslos an die neue Regierung übergeben (WB 18.7.2017). Somalia hat den Zustand eines failed state überwunden, bleibt aber ein fragiler Staat (AA 1.1.2017). Die Regierung stellt sich den Herausforderungen, welche Dürre und Sicherheit darstellen. Überhaupt hat die Regierung seit Amtsantritt gezeigt, dass sie dazu bereit ist, die Probleme des Landes zu beheben (UNSC 5.9.2017). Dabei mangelt es der Bundesregierung an Einkünften, diese sind nach wie vor von den wenigen in Mogadischu erzielten Einnahmen abhängig (SEMG 8.11.2017).
Außerdem wird die Autorität der Zentralregierung vom nach Unabhängigkeit strebenden Somaliland im Nordwesten sowie von der die Regierung aktiv bekämpfenden, radikal-islamistischen al Shabaab-Miliz in Frage gestellt. Außerdem gibt es aber keine flächendeckende effektive Staatsgewalt. Die vorhandenen staatlichen Strukturen sind fragil und schwach (AA 1.1.2017). Die föderale Regierung hat es bislang kaum geschafft, sich außerhalb Mogadischus durchzusetzen (ÖB 9.2016).
Allgemeine Wahlen sind für das Jahr 2020 (UNSC 9.5.2017) bzw. 2021 vorgesehen (UNSC 5.9.2017; vgl. UNNS 13.9.2017). Deren Durchführung wird aber maßgeblich davon abhängen, wie sich die Sicherheitslage entwickelt, ob sich Wahlkommissionen auch in den Bundesstaaten etablieren können und ob ein Verfassungsgericht eingerichtet wird (UNSC 5.9.2017).
Neue föderale Teilstaaten (Bundesstaaten)
Generell befindet sich das föderalistische System Somalias immer noch in einer frühen Phase und muss in den kommenden Jahren konsolidiert werden (UNSC 9.5.2017). Zwar gibt es in manchen Gebieten Verbesserungen bei der Verwaltung und bei der Sicherheit. Es ist aber ein langsamer Prozess. Die Errichtung staatlicher Strukturen ist das größte Problem, hier versucht die internationale Gemeinschaft zu unterstützen (BFA 8.2017).
Kaum ein Bundesstaat ist in der Lage, das ihm zugesprochene Gebiet tatsächlich unter Kontrolle zu haben. Bei den neu etablierten Entitäten reicht die Macht nur wenige Kilometer über die Städte hinaus (BFA 8.2017; vgl. NLMBZ 11.2017).
Während im Norden bereits die Gliedstaaten Somaliland und Puntland etabliert waren, begann mit dem international vermittelten Abkommen von Addis Abeba von Ende August 2013 der Prozess der Gliedstaatsgründung im weiteren Somalia, der nach der Gründung der Bundesstaaten Jubaland, South West State (SWS), Galmudug und Hirshabelle 2016 seinen weitgehenden Abschluss fand (AA 4.2017a). Offen ist noch der finale Status der Hauptstadtregion Benadir/Mogadischu (AA 4.2017a; vgl. UNSC 5.9.2017, BFA 8.2017).
Die Bildung der Bundesstaaten erfolgte im Lichte der Clan-Balance.
Rein technisch bedeutet dies: Galmudug und HirShabelle für die Hawiye; Puntland und Jubaland für die Darod; der SWS für die Rahanweyn; Somaliland für die Dir (BFA 8.2017).
Die Beziehungen zwischen der Bundesregierung und den Regierungen der Bundesstaaten sind angespannt, da es bei der Sicherheitsarchitektur und bei der Ressourcenverteilung nach wie vor Unklarheiten gibt (SEMG 8.11.2017). Außerdem hat der Schritt zur Föderalisierung zur Verschärfung von lokalen Clan-Spannungen beigetragen und eine Reihe gewalttätiger Konflikte ausgelöst. Die Föderalisierung hat zu politischen Kämpfen zwischen lokalen Größen und ihren Clans geführt (BS 2016). Denn in jedem Bundesstaat gibt es unterschiedliche Clankonstellationen und überall finden sich Clans, die mit der Zusammensetzung ihres Bundesstaates unzufrieden sind, weil sie plötzlich zur Minderheit wurden. Sie fühlen sich marginalisiert (BFA 8.2017).
Im Zuge der Föderalisierung Somalias wurden mehrere Teilverwaltungen (Bundesstaaten) neu geschaffen: Galmudug Interim Administration (GIA); die Jubaland Interim Administration (JIA); Interim South West State Administration (ISWA). Keine dieser Verwaltungen hat die volle Kontrolle über die ihr unterstehenden Gebiete (USDOS 3.3.2017). Außerdem müssen noch wichtige Aspekte geklärt und reguliert werden, wie etwa die Machtverteilung zwischen Bund und Ländern, die Verteilung der Einkünfte oder die Verwaltung von Ressourcen. Internationale Geber unterstützen den Aufbau der Verwaltungen in den Bundesstaaten (UNSC 5.9.2017).
1) Jubaland (Gedo, Lower Juba, Middle Juba): Im Jahr 2013 kam es zu einem Abkommen zwischen der Bundesregierung und Delegierten von Jubaland über die Bildung des Bundesstaates Jubaland. Im gleichen Jahr wurde Ahmed Mohamed Islam "Madobe" zum Präsidenten gewählt (USDOS 3.3.2017). Der JIA ist es gelungen, zumindest in Kismayo eine Verwaltung zu etablieren. Die Machtbalance in Jubaland wurde verbessert, seit die Ogadeni auch mit anderen Clans kooperieren und diese in Strukturen einbinden (BFA 8.2017).
2) South West State (SWS; Bay, Bakool, Lower Shabelle): Nach einer Gründungskonferenz im Jahr 2014 formierte sich im Dezember 2015 das Parlament des Bundesstaates South West State. Dieses wählte Sharif Hassan Sheikh Adam zum Übergangspräsidenten (USDOS 3.3.2017). Insgesamt befindet sich der SWS immer noch im Aufbau, die Regierungsstrukturen sind schwach, Ministerien bestehen nur auf dem Papier. Es gibt kaum Beamte, und in der Politik kommt es zu Streitigkeiten. Die Region Bakool ist besser an den SWS angebunden, als dies bei Lower Shabelle der Fall ist. Die Beziehungen von Lower Shabelle zur Bundesregierung und zum SWS sind kompliziert, der SWS hat dort kaum Mitsprache (BFA 8.2017).
3) HirShabelle (Hiiraan, Middle Shabelle): Bei der Bildung des Bundesstaates HirShabelle wurde längere Zeit über gestritten. Beide Regionen (Hiiraan und Middle Shabelle) haben erklärt, dass sie genügend Einwohner hätten, um jeweils einen eigenen Bundesstaat gründen zu können. Trotzdem wurden die Regionen fusioniert (BFA 8.2017). Im Jänner 2016 fand eine Konferenz zur Bildung eines Bundesstaates aus Hiiraan und Middle Shabelle statt. In der Folge wurde im Oktober 2016 der Bundesstaat Hirshabelle eingerichtet: Ein Parlament wurde zusammengestellt und ein Präsident - Ali Abdullahi Osoble - gewählt. Anführer der Hawadle haben eine Teilnahme verweigert (USDOS 3.3.2017). Das Kabinett wurde Mitte März 2017 vom Parlament bestätigt (BFA 8.2017; vgl. UNSC 9.5.2017). Der Großteil der Regierung von HirShabelle befindet sich in Mogadischu. Die Bildung des Bundesstaates scheint alte Clan-Konflikte neu angeheizt zu haben, die Hawadle fühlen sich marginalisiert (BFA 8.2017).
4) Galmudug (Galgaduud, Teile von Mudug): 2015 wurde eine Regionalversammlung gebildet und Abdikarim Hussein Guled als Präsident gewählt hat (EASO 2.2016). Die Regionalversammlung war von der Bundesregierung eingesetzt worden. Ausgewählt wurden die 89 Mitglieder von 40 Ältesten, welche wiederum 11 Clans repräsentierten. Die Gruppe Ahlu Sunna wal Jama'a (ASWJ), die Teile der Region Galgaduud kontrolliert, hat den Prozess boykottiert und eine eigene Verwaltung eingerichtet (USDOS 3.3.2017). Die GIA wird von Hawiye/Habr Gedir/Sa'ad dominiert (EASO 2.2016). Am 25.2.2017 trat der Präsident von Galmudug, Abdikarim Hussein Guled, zurück (UNSC 9.5.2017). Am 3.5.2017 wurde Ahmed Duale Geele "Xaaf" vom Regionalparlament von Galmudug zum neuen Präsidenten gewählt (UNSC 5.9.2017). Auch der neue Präsident hat noch keine Lösung mit der ASWJ herbeigeführt (UNSOM 13.9.2017).
Quellen:
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USDOS - US Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Somalia, http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2016&dlid=265300, Zugriff 13.9.2017
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WB - World Bank (18.7.2017): Somalia Economic Update, http://documents.worldbank.org/curated/en/552691501679650925/Somalia-economic-update-mobilizing-domestic-revenue-to-rebuild-Somalia, Zugriff 20.11.2017
2.1. Puntland
Der so genannte Puntland State of Somalia hat sich 1998 mit internationaler Unterstützung konstituiert. Er strebt keine Unabhängigkeit von Somalia an. Es konnten einigermaßen stabile staatliche Strukturen etabliert werden (AA 1.1.2017; vgl. BS 2016). Die staatlichen Organe in Puntland sind insgesamt weniger fragil als die zentralstaatlichen (AA 1.1.2017). Dabei konnte Puntland die Verwaltungskapazitäten weiter ausbauen. Gleichzeitig ist Puntland auf Bundesebene ein wichtiger Akteur. Grundlegende staatliche Dienste (z.B. Infrastruktur, Behörden) sind in Puntland gegeben. Das Verwaltungssystem ist aber urban konzentriert und reicht nicht bis in entlegene Gebiete (BS 2016).
Im Jänner 2014 kam es zum dritten Mal zu einem friedlichen Machtwechsel an der Spitze von Puntland. Allerdings fand dieser Machtwechsel nicht auf der Grundlage einer allgemeinen Wahl statt (AA 1.1.2017). Zwar war eine solche geplant, doch wurde die Wahl aufgrund gewaltsamer Proteste abgesagt. Gewählt wurde Präsident Abdiweli Mohamed Ali "Gaas" im Prinzip von Ältesten (BS 2016). Das Parlament, das den Präsidenten wählte, war unter Einbeziehung traditioneller Strukturen mit Clan-Bezug von einem durch den vorherigen Präsidenten eingesetzten Auswahlausschuss ernannt worden (AA 1.1.2017). Dabei folgte die Wahl von Präsident Gaas dem Rotationsprinzip der drei Hauptclans von Puntland (BS 2016).
Obwohl das Parlament schon im Jahr 2012 eine Verfassung beschlossen hat, die ein Mehrparteiensystem vorsieht (USDOS 3.3.2017), hat Puntland noch keine wirklich demokratischen Strukturen geschaffen. Präsident und Parlament werden durch den Beschluss von Ältesten entschieden (BS 2016).
Politische Auseinandersetzungen werden in der Regel zwar nicht gewaltsam ausgetragen, aber die Sicherheitslage ist im Umfeld der Wahlen sehr angespannt. Staatliche Sicherheitskräfte agieren mit Sondervollmachten (AA 1.1.2017).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (1.1.2017): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia
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BS - Bertelsmann Stiftung (2016): BTI 2016 - Somalia Country Report,
https://www.bti-project.org/fileadmin/files/BTI/Downloads/Reports/2016/pdf/BTI_2016_Somalia.pdf, Zugriff 20.11.2017
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USDOS - US Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Somalia, http://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/humanrightsreport/index.htm?year=2016&dlid=265300, Zugriff 13.9.2017
3. Sicherheitslage und Situation in den unterschiedlichen Gebieten
Vergleicht man die Areas of Influence der Jahre 2012 und 2017, hat es kaum relevante Änderungen gegeben. Die Regierung und ihre Verbündeten kontrollieren zwar viele Städte, darüber hinaus ist eine Kontrolle aber kaum gegeben. Behörden oder Verwaltungen gibt es nur in den größeren Städten. Der Aktionsradius lokaler Verwaltungen reicht oft nur wenige Kilometer weit. Selbst bei Städten wie Kismayo oder Baidoa ist der Radius nicht sonderlich groß. Das "urban island scenario" besteht also weiterhin, viele Städte unter Kontrolle von somalischer Armee und AMISOM sind vom Gebiet der al Shabaab umgeben. Folglich befinden sich Große Teile des Raumes in Süd-/Zentralsomalia unter der Kontrolle oder zumindest unter dem Einfluss der al Shabaab (BFA 8.2017).
Dahingegen können nur wenige Gebiete in Süd-/Zentralsomalia als frei von al Shabaab bezeichnet werden - etwa Dhusamareb oder Guri Ceel. In Puntland gilt dies für größere Gebiete, darunter Garoowe (BFA 8.2017).
Hinsichtlich der Lesbarkeit untenstehender Karte sind die folgenden Kommentare zu berücksichtigen:
Eine vollständige und inhaltlich umfassende Darstellung kann nicht gewährleistet werden; die
Gebietsgrenzen sind relativ, jedoch annähernd (z.B. Problematik der unterschiedlichen Einflusslage bei Tag und Nacht; der Fluktuation entlang relevanter Nachschubwege). Um die Karten übersichtlich zu gestalten, wurde eine Kategorisierung der auf somalischem Boden operierenden (Konflikt-)Parteien vorgenommen (BFA 8.2017):
a) Alle auf irgendeine Art und Weise mit der somalischen Regierung verbundenen und gleichzeitig gegen al Shabaab gestellten Kräfte wurden als "anti-al-Shabaab Forces" zusammengefasst. Diese Kategorie umfasst neben Bundeskräften (SNA) auch Kräfte der Bundesstaaten (etwa Jubaland, Galmudug, Puntland) sowie AMISOM und bi-lateral eingesetzte Truppen (und damit de facto auch die Liyu Police).
b) Die ASWJ wurde nicht in diese Kategorie aufgenommen, da sie zwar gegen al Shabaab kämpft, die Verbindung zur Bundesregierung aber momentan unklar ist.
c) Einige Clans verfügen über relative Eigenständigkeit, die auch mit Milizen abgesichert ist. Dies betrifft in erster Linie die Warsangeli (Sanaag), Teile der Dulbahante (Sool) und die Macawusleey genannte Miliz in Hiiraan. Keine dieser Milizen ist mit Somaliland, einem somalischen Bundesstaat, mit der somalischen Bundesregierung oder al Shabaab verbunden; sie agieren eigenständig, verfügen aber nur über eingeschränkte Ressourcen.
Operational Areas
d) Operationsgebiete, in welchen die markierten Parteien über relevanten Einfluss verfügen (einfarbig): Dort können die Parteien auf maßgebliche Mittel (Bewaffnung, Truppenstärke, Finanzierung, Struktur, Administration u.a.) zurückgreifen, um auch längerfristig Einfluss zu gewährleisten. Es sind dies die Republik Somaliland;
Puntland; teilweise auch Galmudug; AMISOM in Tandem mit der somalischen Regierung bzw. mit Bundesstaaten; äthiopische Kräfte im Grenzbereich; al Shabaab; Ahlu Sunna Wal Jama'a in Zentralsomalia;
e) Einige Gebiete (schraffiert) - vorwiegend in Süd-/Zentralsomalia - unterliegen dabei dem Einfluss von zwei dermaßen relevanten Parteien.
f) Alle in der Karte eingetragenen Städte und Orte wurden einer der o. g. Parteien zugeordnet. Sie gelten als nicht schraffiert, die Kommentare unter 4.1.2 sind zu berücksichtigen. Soweit bekannt wurden den Städten AMISOM-Stützpunkte oder Garnisonen bi-lateral eingesetzter Truppen zugeordnet. In den Städten ohne eine derartige Präsenz gibt es eine SNA-Präsenz, oder aber Sicherheitskräfte der einzelnen Bundesstaaten; oder Somalilands.
g) Operationsgebiete, in welchen kleinere Parteien über eingeschränkten Einfluss verfügen (strichliert): Dort sind neben den o. g. relevanten Parteien noch weitere Parteien mit eingeschränkter Ressourcenlage aktiv. Ihr Einfluss in diesen Operationsgebieten ist von wechselnder Relevanz und hängt von den jeweiligen verfügbaren Ressourcen und deren Einsatz ab (BFA 8.2017).
1.1. Al Shabaab (AS)
Ziel der al Shabaab ist es, die somalische Regierung und ihre Alliierten aus Somalia zu vertreiben und in Groß-Somalia ein islamisches Regime zu installieren. Außerdem verfolgt al Shabaab auch eine Agenda des globalen Dschihads und griff im Ausland Ziele an (EASO 2.2016). Je höher der militärische Druck auf al Shabaab anwächst, je weniger Gebiete sie effektiv kontrollieren, desto mehr verlegt sich die Gruppe auf asymmetrische Kriegsführung (Entführungen, Anschläge, Checkpoints) und auf Drohungen. Al Shabaab wird bei der Anwendung dieser Taktik immer besser und stärker. Dabei ist auch die al Shabaab in ihrer Entscheidungsfindung nicht völlig frei. Die Gruppe unterliegt durch die zahlreichen Verbindungen z.B. zu lokalen Clan-Ältesten auch gewissen Einschränkungen (BFA 8.2017).
Seit 2011 wurden die militärischen Kapazitäten der al Shabaab durch AMISOM und somalische Kräfte sowie durch innere Streitigkeiten beachtlich dezimiert (UKHO 7.2017). Die al Shabaab stellt aber weiterhin eine potente Bedrohung dar (UNSC 9.5.2017). Die Stärke der al Shabaab wird im Schnitt mit ungefähr 7.000 Mann beziffert (BFA 8.2017; vgl. LI 20.12.2017). Die Gruppe ist technisch teilweise besser ausgerüstet als die SNA und kann selbst gegen AMISOM manchmal mit schweren Waffen eine Überlegenheit herstellen. Außerdem verfügt die al Shabaab mit dem Amniyad über das landesweit beste Aufklärungsnetzwerk (BFA 8.2017). Die Gruppe hat sich bei Rückschlägen in der Vergangenheit als resilient und anpassungsfähig erwiesen. Der innere Kern blieb allzeit geeint, auch wenn es bei al Shabaab zu Streitigkeiten und Fraktionierung gekommen ist. Die taktische Entwicklung der Gruppe; ihre wachsenden Fähigkeiten; und die Ausführung komplexer Angriffe auf städtische und ländliche Ziele hat dies jedenfalls bewiesen (UNSC 9.5.2017). In der Vergangenheit hat die Gruppe auch eine konventionell-militärische Bedrohung dargestellt, etwa beim Angriff auf einen kenianischen Stützpunkt bei Kulbiyow im Jänner 2017. Beim Überrennen von AMISOM-Stützpunkten ist al Shabaab auch an schwere Waffen gelangt (SEMG 8.11.2017).
Die Regionalhauptstadt Buale (Middle Juba) sowie die Bezirkshauptstädte Saakow, Jilib (Middle Juba), Jamaame (Lower Juba), Sablaale, Kurtunwaarey (Lower Shabelle), Diinsoor (Bay), Tayeeglow (Bakool), Ceel Buur, Ceel Dheere (Galgaduud) befinden sich unter Kontrolle der al Shabaab. Alle anderen Regional- und Bezirkshauptstädte werden von anti-al-Shabaab-Truppen gehalten. Viele der Städte sind gleichzeitig auch Garnisonsstädte der AMISOM (BFA 8.2017). Eine andere Quelle nennt ebenfalls die o.g. Städte als unter Kontrolle der al Shabaab befindlich, fügt aber die Stadt Xaradheere (Mudug) hinzu und zieht Diinsoor ab (LI 20.12.2017).
In ihrem Gebiet hält al Shabaab vor allem in Städten und größeren Dörfern eine permanente Präsenz aufrecht. Abseits davon operiert al Shabaab in kleinen, mobilen Gruppen (LI 20.12.2017). Die Gruppe verfügt nicht nur über Kämpfer und Agenten, sie kann auch auf Sympathisanten zurückgreifen (NLMBZ 11.2017). Nominell ist die Reichweite der al Shabaab in Süd-/Zentralsomalia damit unbegrenzt. Sie ist in den meisten Landesteilen offen oder verdeckt präsent. Die Gruppe ist in der Lage, überall zuschlagen zu können (BFA 8.2017). Die al Shabaab übt über das Jubatal Kontrolle aus und kann sich auch in vielen anderen Gebieten Süd-/Zentralsomalias frei bewegen (USDOS 3.3.2017). Al Shabaab beherrscht weiterhin große Teile des ländlichen Raumes in Süd-/Zentralsomalia, v.a. in Bay, Gedo, Lower Shabelle und Middle Juba (AI 22.2.2017; vgl. BFA 8.2017). Auch rund um Städte in Süd-/Zentralsomalia, die von nationalen oder regionalen Sicherheitskräften und/oder AMISOM gehalten werden (SEMG 8.11.2017), kontrolliert al Shabaab den ländlichen Raum und wichtige Versorgungsstraßen (SEMG 8.11.2017; vgl. UKHO 7.2017). Dadurch gelingt es der Gruppe, große Teile der Bevölkerung von einer Versorgung abzuschneiden (SEMG 8.11.2017).
Die al Shabaab übt auch über manche Orte, die eigentlich der Jurisdiktion der Regierung angehören, ein Maß an Kontrolle aus:
Humanitäre Organisationen und Empfänger humanitärer Hilfe werden besteuert oder in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt (SEMG 8.11.2017). Es gelingt der al Shabaab selbst nominell sichere Teile Mogadischus zu infiltrieren (BFA 8.2017). Außerdem verfügt die Gruppe in vielen Teilen Somalias über Verbindungen in alle Gesellschaftsebenen und -Bereiche (SEMG 8.11.2017). Generell variiert die Präsenz der al Shabaab konstant (BFA 8.2017).
Völkerrechtlich kommen der al Shabaab als de facto-Regime Schutzpflichten gegenüber der Bevölkerung in den von ihnen kontrollierten Gebieten gemäß des 2. Zusatzprotokolls zu den Genfer Konventionen zu (AA 1.1.2017). Staatlicher Schutz ist in der Gebieten der al Shabaab nicht verfügbar (UKHO 7.2017).
Die Fähigkeit der al Shabaab, in den von ihr beherrschten Gebieten eine effektive Verwaltung zu betreiben, ist ungebrochen. Zusätzlich verfügt die Gruppe über Kapazitäten, um in neu eroberten Gebieten unmittelbar Verwaltungen zu installieren (BFA 8.2017). Die Gebiete der al Shabaab werden als relativ sicher beschrieben. Dort herrscht Frieden und eine Absenz an Clan-Konflikten (UNSOM 18.9.2017). In den von ihr kontrollierten Gebieten verfügt die al Shabaab über effektive Verwaltungsstrukturen, eine Art von Rechtsstaatlichkeit und eine effektive Polizei. Die Verwaltung der al Shabaab wurzelt auf zwei Grundsätzen: Angst und Berechenbarkeit (BFA 8.2017).
Die al Shabaab finanziert sich über unterschiedliche Steuern. Allein aus Abgaben auf den (illegalen) Holzkohlehandel lukriert die Gruppe pro Jahr - nach konservativen Schätzungen - 10 Millionen US-Dollar.
Auch von anderen Wirtschaftstreibenden werden Steuern eingehoben: In Mogadischu reicht die Spannweite von zehn US-Dollar monatlich für einfache Markthändler bis zu 70.000 US-Dollar für große Firmen. Im ländlichen Raum werden auch Viehmärkte besteuert. Außerdem verlangt al Shabaab entlang von Hauptverbindungsstraßen Gebühren und hebt den Zakat ein (SEMG 8.11.2017). Die Zahlung der Abgaben erfolgt in der Form von Geld, Tieren, landwirtschaftlichen Produkten oder anderen Werten. Die Höhe der Besteuerung hat in den vergangenen Jahren kontinuierlich zugenommen (LI 20.12.2017).
Einerseits zwingt al Shabaab mancherorts Kinder zum Besuch der eigenen Madrassen; andererseits konnte z.B. in einem ländlichen Ort in Middle Juba eine neue Schule eröffnet werden, die sogar Englisch im Lehrplan hat. Dafür musste die Gemeinde aber eine Sonderabgabe leisten (SEMG 8.11.2017).
Die Menschen auf dem Gebiet der al Shabaab sind einer höchst autoritären und repressiven Herrschaft unterworfen. Während dies zwar einerseits zur Stärkung der Sicherheit beiträgt (weniger Kriminalität und Gewalt durch Clan-Milizen) (BS 2016), versucht al Shabaab alle Aspekte des öffentlichen und privaten Lebens der Menschen zu kontrollieren (BS 2016; vgl. DIS 9.2015). Alle Bewohner der Gebiete von al Shabaab müssen strenge Vorschriften befolgen, z. B. Kleidung, Eheschließung, Steuerzahlung, Teilnahme an militärischen Operationen, Rasieren, Spionieren, Bildung etc. (DIS 9.2015). Mit den damit verbundenen harten Bestrafungen wurde ein generelles Klima der Angst geschaffen (BS 2016). Das Brechen von Vorschriften kann zu schweren Strafen bis hin zum Tod führen (DIS 9.2015).
Die al Shabaab hat im Juni 2017 für die Bundesstaaten Galmudug, Puntland und Hirshabelle ein Verbot der Verwendung des Somali Shilling ausgerufen. Wirtschaftstreibende weichen daher teilweise auf den US-Dollar und den Äthiopischen Birr aus (UNSC 5.9.2017).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (1.1.2017): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia
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AI - Amnesty International (22.2.2017): Amnesty International Report 2016/17 - The State of the World's Human Rights - Somalia, http://www.ecoi.net/local_link/336580/479258_de.html, Zugriff 14.9.2017
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BFA - BFA Staatendokumentation (8.2017): Fact Finding Mission Report Somalia. Sicherheitslage in Somalia. Bericht zur österreichisch-schweizerischen FFM, http://www.bfa.gv.at/files/berichte/FFM%20Report_Somalia%20Sicherheitslage_Onlineversion_2017_08_KE_neu.pdf, Zugriff 13.9.2017
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BS - Bertelsmann Stiftung (2016): BTI 2016 - Somalia Country Report,
https://www.bti-project.org/fileadmin/files/BTI/Downloads/Reports/2016/pdf/BTI_2016_Somalia.pdf, Zugriff 20.11.2017