TE Bvwg Erkenntnis 2019/8/7 W226 1258589-2

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 07.08.2019
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Entscheidungsdatum

07.08.2019

Norm

AsylG 2005 §54 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §7 Abs1
AsylG 2005 §7 Abs4
AsylG 2005 §8
BFA-VG §9 Abs3
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W226 1258589-2/10E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. WINDHAGER über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch RAe Dr. Peter LECHENAUER, Dr. Margrit SWOZIL, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 02.11.2017, Zl.: 740815403-170004623, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 12.02.2019, zu Recht erkannt:

A) I. Die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. des

bekämpften Bescheides wird gemäß den §§ 7 Abs. 1 iVm 7 Abs. 4 und § 8 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

II. Eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" wird gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. III. Im Übrigen wird der Beschwerde stattgegeben, der Bescheid hinsichtlich der bekämpften Spruchpunkte

III. bis V. aufgehoben und eine Rückkehrentscheidung gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG für auf Dauer unzulässig erklärt und XXXX gemäß §§ 54 Abs. 1 Z 1, 55 Abs. 1 und 58 Abs. 2 AsylG 2005 der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von 12 Monaten erteilt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer (im Folgenden: BF) ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe, er reiste spätestens am 20.04.2004 gemeinsam mit seinen Eltern und seinen Geschwistern illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag im Zuge eines Familienverfahrens einen Antrag auf internationalen Schutz.

Mit Bescheid vom 28.02.2005 wurde dem BF der Status des Asylberechtigten sowie der Status des subsidiär Schutzberechtigten nicht zuerkannt und seine Ausweisung für rechtmäßig erachtet.

Mit Bescheid des UBAS vom 04.05.2005, Zl.: 258.859/0-XI/34/05, wurde dem BF im Zuge eines Familienverfahrens der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

2. Am 02.01.2017 wurde vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: BFA) ein Aberkennungsverfahren eingeleitet, da sich Anhaltspunkte ergaben, dass der BF ein besonders schweres Verbrechen begangen habe.

Mit Urteil eines Landesgerichtes vom Juni 2017 wurde der BF wegen des Verbrechens der Körperverletzung in verabredeter Verbindung nach §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 5 Z 2 StGB und des Verbrechens des Suchgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall, Abs. 4 Z 3 SMG zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten, wobei davon 17 Monate bedingt unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren nachgesehen wurden, verurteilt. Das Urteil wurde rechtskräftig.

Der Verurteilung lag zugrunde, dass der BF am 24.05.2016 gemeinsam mit anderen Personen eine Person durch das Versetzen von Schlägen am Körper verletzte, wobei die Tat mit mindestens zwei Personen in verabredeter Verbindung begangen wurde und das Opfer Blutergüsse und Prellungen im Gesicht und Nacken sowie Schürfwunden an den Händen erlitt. Weiters hat der BF gemeinsam mit anderen Personen vorschriftswidrig Suchtgift in einer die Grenzmenge um das fünfundzwanzigfache übersteigenden Menge im Zeitraum 2015 bis zu seiner Festnahme am 12.09.2016 in Verkehr gesetzt. Dabei hat der BF im Zeitraum 2015/2016 unbekannte Mengen Kokain gemeinsam mit einer anderen Person in verschiedenen Bordellen an unbekannte Abnehmer verkauft, von April 2016 bis 25.05.2016 als Chauffeur fungiert und Suchtgifte (sechs bis sieben Kilogramm Cannabiskraut, 20 bis 25 Kilogramm Cannabisharz und 400 Gramm Kokain) zur weiteren Verteilung an die Zwischenhändler transportiert und 2015/2016 gemeinsam mit einer anderen Person ein nicht näher bekannte Menge Kokain an eine Person zum Verkauf in einem Bordell überlassen.

Als mildernd wurde vom Gericht die Unbescholtenheit; der Umstand, dass er keine eigenen Suchtgifthandlungen gesetzt hat, sondern bloß als Chauffeur zur Verfügung gestanden ist und er auch beim Verbrechen der Körperverletzung nur einen psychischen Tatbeitrag leistete; als erschwerend das Zusammentreffen von zwei Verbrechen und die mehrfache Überschreitung der Grenzmenge gewertet.

Am 27.06.2017 wurde der unbedingte Teil der Freiheitsstrafe vollzogen.

3. Am 28.08.2017 wurde der BF vom Ergebnis einer Beweisaufnahme verständigt und wurde ihm aufgetragen eine Reihe von Fragen (zu seiner Haftstrafe, seinen persönlichen Verhältnissen in Österreich, seinen Verwandten im Herkunftsstaat etc.) zu beantworten und binnen einer Frist von 14 Tagen eine Stellungnahme abzugeben bzw. Unterlagen vorzulegen.

Am 13.09.2017 brachte der BF eine Stellungnahme ein, worin um eine Verlängerung der Frist gebeten wurde, da die Mutter des BF mit einem Behinderungsgrad von 100% invalid sei und auf die ständige Betreuung des BF angewiesen sei. Der Gesundheitszustand der Mutter würde sich derzeit weiterhin verschlechtern, da ein Knochenmarködem mit Knocheninfarkt hinzugetreten sei. Zudem wurde ausgeführt, dass der BF familiär und sozial in Österreich sehr gut integriert sei und die Deutsche Sprache in Wort und Schrift beherrsche.

Mit der Stellungahme wurden der Behindertenpass sowie ärztliche Befunde (betreffen die Knieverletzung) der Mutter vorgelegt.

Am 03.10.2017 langte eine weitere Stellungnahme ein. Es wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF unbewusst in falsche Kreise geraten sei und seine Freundschaft ausgenutzt worden sei. Er habe keine direkt bezughabenden Tathandlungen begangen. Er würde sich nie wieder in solche Sachen verwickeln.

Betreffend konkrete Gefahren im Herkunftsstaat führte er aus, dass sein Vater und somit die ganze Familie verfolgt worden sei. Aufgrund ihrer Herkunft und Volksgruppenzugehörigkeit seien sie mit schweren körperlichen Misshandlungen und Nachteilen gefährdet. Er würde zu keinen Verwandten in Russland Kontakt haben.

Zu seinem Leben in Österreich gab er an, die Hauptschule abgeschlossen zu haben und derzeit eine Abend-HTL zu besuchen. Er habe seit 6 Jahren eine gewerbliche Zimmervermietung/Verpachtung und beziehe keine Sozialleistungen. Seine Eltern, ein Bruder, eine Schwester sowie seine beiden minderjährigen Töchter würden sich in Österreich aufhalten. Er komme für den Unterhalt bzw. die Unterkunft seiner Kinder auf und lebe in langjähriger Partnerschaft. Er habe in Österreich Freunde und betreibe gerne Sport.

Mit der Stellungahme legte der BF ein Externistenabschlusszeugnis (4. Klasse Hauptschule) und ein Vaterschaftsanerkenntnis der zweiten Tochter vor:

In weiterer Folge legte der BF die österreichischen Geburtsurkunden seiner Töchter, einen Einkommenssteuerbescheid des Jahres 2016 (XXXX EUR Einkommen) sowie eine Auskunft des Kreditschutzverbandes vor (keine Eintragungen vorhanden).

Am 07.08.2017 wurde die Lebensgefährtin des BF vor dem BFA niederschriftlich einvernommen.

Diese gab im Wesentlichen an, mit dem BF vier Jahre lang zusammengelebt zu haben, derzeit würden sie nicht zusammenleben. Sie hätten sich seit vier Monaten getrennt, würden aber überlegen wieder zusammenzukommen. Sie hätten seit einigen Tagen wieder eine Beziehung und würden planen wieder zusammenzuziehen. Der BF habe in Russland Verwandte, er rufe diese manchmal an. Ein Umzug nach Russland käme für sie nicht in Frage. Der BF arbeite, mache die HTL und kümmere sich um die Kinder. Mit den Mitverurteilten habe er nichts mehr zu tun, er wolle diese nicht mehr sehen. Sie könne nur positives über ihn sagen.

4. Mit dem im Spruch angeführten Bescheid des BFA vom 02.11.2017 wurde dem BF der mit Bescheid vom 04.05.2005 zuerkannte Status des Asylberechtigten gemäß § 7 Abs. 1 AsylG 2005 aberkannt und gemäß § 7 Abs. 4 AsylG 2005 festgestellt, dass ihm die Flüchtlingseigenschaft kraft Gesetzes nicht mehr zukomme (Spruchpunkt I.). Weiters wurde ihm der Status eines subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005 nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.), ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 3 FPG erlassen. Weiters wurde festgestellt, dass gemäß § 52 Abs. 9 FPG seine Abschiebung gemäß § 46 FPG "nach Syrien" zulässig sei (Spruchpunkt III.). Unter Spruchpunkt IV. wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage. Gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG wurde gegen den BF ein auf 7 Jahre befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt V.).

Die Entscheidung wurde im Wesentlichen mit den Straftaten des BF und dem diesbezüglichen rechtskräftigen Urteil eines Landesgerichtes begründet. Weiters ging das Bundesamt begründet davon aus, dass dem BF, der im Herkunftsstaat nicht verfolgt und dem lediglich im Rahmen eines Familienverfahrens der Status eines Asylberechtigten zugesprochen worden sei, im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat weder Verfolgung noch unmenschliche oder erniedrigende Behandlung drohe. Die Behauptung, aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit benachteiligt oder misshandelt zu werden, sei nicht mit den Länderfeststellungen vereinbar.

Er habe beinahe die Hälfte seines Lebens in Russland verbracht und verfüge dort über Angehörige, welche ihn anfänglich finanziell unterstützen könnten. Er sei gebildet, habe Berufserfahrung und könne sich in der Russischen Föderation eine gesicherte Existenz aufbauen.

Am 30.11.2017 wurde Spruchpunkt III. des Bescheides gemäß § 62 Abs. 4 AVG insofern berichtigt, als das Wort "Syrien" durch "Russische Föderation" ersetzt wurde.

5. Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde. Der Bescheid wurde seinem gesamten Inhalt und Umfang nach wegen Rechtswidrigkeit des beschwerdegegenständlichen Verfahrens infolge von Verletzungen von Bestimmungen des formellen als auch Bestimmungen des materiellen Rechts angefochten. Dazu wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die privaten Interessen des BF an einem Verbleib im Bundesgebiet gegenüber den öffentlichen Interessen an einer Abschiebung überwiegen würden. Er habe in Russland keine Verwandten oder Freunde. Er lebe länger in Österreich als in Russland. Mit seiner Frau habe er eine Ehekrise gehabt und hätten diese etwa drei Monate getrennt gelebt, seit einem Monat würden sie aber wieder zusammenleben. Die Frau des BF habe aufgrund der politischen Verfolgung ihres Vaters ihr Heimatland verlassen müssen und wäre für sie ein Besuch aus asylbedingten Gründen nicht möglich und zumutbar. Es wurde beantragt, die Mutter, Geschwister, Onkel, Tanten und Cousins sowie die Ehefrau des BF einzuvernehmen. Die Ehefrau habe den Dolmetscher in der letzten Einvernahme nicht zu 100% verstanden. Auch der BF hätte einvernommen werde müssen. Der BF bereue die begangene Straftat zutiefst und habe aus seinen Fehlern gelernt. Es sei von einem positiven Gesinnungswandel auszugehen. Der BF sei selbsterhaltungsfähig, spreche fließend Deutsch, habe in Österreich auch in einem Verein Fußball gespielt und sei Mitglied in einem Fitnesscenter. Die Erlassung einer Rückkehrentscheidung sei gemäß Art. 8 EMRK unzulässig. Zudem drohe dem BF in der Russischen Föderation weiterhin Verfolgung.

Der BF legte mit der Beschwerde nicht leserliche Unterlagen vor.

6. In der mündlichen Verhandlung vom 12.02.2019 beim Bundesverwaltungsgericht, zu der ein Vertreter des BFA nicht erschienen ist, wurde Beweis aufgenommen durch Einvernahme des BF in Anwesenheit eines Dolmetschers der russischen Sprache, weiters durch Einsicht in die Verwaltungsakte des BFA sowie in den Akt des Bundesverwaltungsgerichtes.

Der BF wurde vom erkennenden Gericht zu seiner Verurteilung, zu seinen aktuellen Lebensverhältnissen in Österreich, zu den damaligen Fluchtgründen seiner Eltern sowie zu seinen Verwandten im Herkunftsstaat befragt.

Abschließend wurde mit dem BF das aktuelle Länderinformationsblatt zur Russischen Föderation erörtert und wurde dem BF die Möglichkeit gewährt, binnen drei Wochen zu den Länderfeststellungen eine Stellungnahme abzugeben.

Der BF brachte in der Verhandlung folgende Unterlagen in Vorlage:

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Schulbesuchsbestätigung einer Höheren Technischen Bundeslehr- und Versuchsanstalt, wonach der BF die 1. Klasse der Abteilung Bautechnik im Schuljahr 2018/19 besucht habe;

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Zwei Semesterzeugnisse für das Schuljahr 2017/18 einer Höheren Technischen Bundeslehr- und Versuchsanstalt (Vorbereitungslehrgang für Berufstätige für technische Fachrichtungen für Bautechnik);

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Gehaltszettel für die Monate August, September und Oktober 2017;

November und Dezember 2018 sowie Lohn/Gehaltsabrechnung von Jänner 2019.

Am 05.03.2019 langte eine Stellungnahme des BF ein. Darin wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass betreffend den Nordkaukasus bzw. an der ukrainischen Grenze ein hohes Sicherheitsrisiko, in den restlichen Landesteilen ein erhöhtes Sicherheitsrisiko bestehe. Eine Rückkehr des BF sei mit Lebensgefahr verbunden. Es werde weiterhin über schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen durch tschetschenische Sicherheitsorgane, Folter, Geiselnahme etc. berichtet. Die Menschenrechtslage habe sich verschlechtert. Rückkehrer hätten wirtschaftliche und soziale Herausforderungen. Trotz seiner strafrechtlichen Verurteilung würden die privaten und familiären Interessen an einem Aufenthalt in Österreich überwiegen. Die Mutter sei auf die Hilfe des BF angewiesen. Der BF würde sich in der tschetschenischen Kultur nicht zu Recht finden. Eine Abschiebung würde eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung darstellen. Eine Rückkehrentscheidung würde einen unzulässigen Eingriff in sein Recht auf Achtung des Familien- und Privatlebens darstellen und gegen Art. 8 EMRK verstoßen.

Mit der Stellungnahme legte der BF folgende Unterlagen vor:

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Islamische Heiratsurkunde/Vertrag eines islamischen Kulturvereins vom XXXX;

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Schulnachricht für das Schuljahr 2018/19 einer Höheren technischen Bundeslehr- und Versuchsanstalt, Schulart 7-semestriger Aufbaulehrgang für Berufstätige für Bautechnik;

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Schulbesuchsbestätigung einer Höheren Technischen Bundeslehr- und Versuchsanstalt vom 19.02.2019, wonach der BF die Abteilung Bautechnik im Schuljahr 2018/19 besucht habe;

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Zwei Empfehlungsschreiben für den BF;

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Versicherungsdatenauszug, Stand 01.02.2019.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Der BF ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation und der Volksgruppe der Tschetschenen zugehörig. Er reiste mit seinen Eltern und Geschwistern im April 2004 illegal in das Bundesgebiet ein. Mit Bescheid des UBAS vom 04.05.2005 wurde dem BF der Status des Asylberechtigten zuerkannt und festgestellt, dass ihm damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

Im österreichischen Bundesgebiet halten sich u.a. die Eltern, zwei Geschwister, ein Onkel samt Familie, die Lebensgefährtin und die beiden minderjährigen Kinder des BF auf. Seine Mutter und seine Schwester besitzen die österreichische Staatsbürgerschaft, seinem Vater und dem Bruder kommt in Österreich der Status von Asylberechtigten zu. Seine Frau und seine jüngere Tochter sind in Besitz eines österreichischen Aufenthaltstitels, der älteren Tochter kommt der Status der Asylberechtigten zu. Im Herkunftsland (Tschetschenien und Dagestan) hält sich die Großmutter, sowie Tanten und Onkel des BF auf.

Der BF wohnt mit seiner Lebensgefährtin (einer russischen Staatsbürgerin, mit welcher er nach islamischem Recht verheiratet ist) und seinen zwei minderjährigen Kindern in einem gemeinsamen Haushalt. Der BF betreibt auf selbstständiger Basis seit etwa acht Jahren eine Obdachlosenunterkunft (private Zimmervermietung), zudem arbeitet er bei seinem Onkel als Möbelmonteur, wo er in etwa 1.211 EUR netto/Monat verdient. Er besucht seit Herbst 2017 eine Abend-HTL für Bautechnik (Hochbau), wo er durchwegs gute Noten erzielt. Der BF ist selbsterhaltungsfähig und kommt für den Unterhalt seiner Familie auf. Zudem hat er in Österreich die Hauptschule abgeschlossen. Er ist gesund und arbeitsfähig. Er kümmert sich darüber hinaus um seine pflegebedürftige Mutter. In seiner Freizeit macht er Sport und trifft sich mit Freunden.

1.2. Mit Urteil eines Landesgerichtes vom Juni 2017 wurde der BF wegen des Verbrechens der Körperverletzung in verabredeter Verbindung nach §§ 83 Abs. 1, 84 Abs. 5 Z 2 StGB und des Verbrechens des Suchgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall, Abs. 4 Z 3 SMG zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten, wobei davon 17 Monate bedingt unter Bestimmung einer Probezeit von drei Jahren nachgesehen wurden, verurteilt.

1.3. Es kann nicht festgestellt werden, dass der BF nach einer Rückkehr ins Herkunftsland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevanten Übergriffen ausgesetzt ist. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass dieser konkret Gefahr liefe, in seinem Herkunftsstaat aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.

1.4. Zur Situation in der Russischen Föderation/Tschetschenien werden folgende Feststellungen getroffen:

Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen

Der Inhalt dieser Kurzinformation wird mit heutigem Datum in das LIB Russische Föderation übernommen (Abschnitt 1/Relevant für Abschnitt 19. Bewegungsfreiheit bzw. 19.2. Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb Tschetscheniens).

Bekanntlich werden innerstaatliche Fluchtmöglichkeiten innerhalb Russlands seitens renommierter Menschenrechtseinrichtungen meist unter Verweis auf die Umtriebe der Schergen des tschetschenischen Machthabers Kadyrow im ganzen Land in Abrede gestellt. Der medialen Berichterstattung zufolge scheint das Netzwerk von Kadyrow auch in der tschetschenischen Diaspora im Ausland tätig zu sein. Dem ist entgegenzuhalten, dass renommierte Denkfabriken auf die hauptsächlich ökonomischen Gründe für die Migration aus dem Nordkaukasus und die Grenzen der Macht von Kadyrow außerhalb Tschetscheniens hinweisen. So sollen laut einer Analyse des Moskauer Carnegie-Zentrums die meisten Tschetschenen derzeit aus rein ökonomischen Gründen emigrieren: Tschetschenien bleibe zwar unter der Kontrolle von Kadyrow, seine Macht reiche allerdings nicht über die Grenzen der Teilrepublik hinaus. Zur Förderung der sozio-ökonomischen Entwicklung des Nordkaukasus dient ein eigenständiges Ministerium, das sich dabei gezielt um die Zusammenarbeit mit dem Ausland bemüht (ÖB Moskau 10.10.2018).

Quellen:

ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email

Der Inhalt dieser Kurzinformation wird mit heutigem Datum in das LIB Russische Föderation übernommen (Abschnitt 1/Relevant für Abschnitt 4. Rechtsschutz / Justizwesen).

Die russischen Behörden zeigen sich durchaus bemüht, den Vorwürfen der Verfolgung von bestimmten Personengruppen in Tschetschenien nachzugehen. Bei einem Treffen mit Präsident Putin Anfang Mai 2017 betonte die russische Ombudsfrau für Menschenrechte allerdings, dass zur Inanspruchnahme von staatlichem Schutz eine gewisse Kooperationsbereitschaft der mutmaßlichen Opfer erforderlich sei. Das von der Ombudsfrau Moskalkova gegenüber Präsident Putin genannte Gesetz sieht staatlichen Schutz von Opfern, Zeugen, Experten und anderen Teilnehmern von Strafverfahren sowie deren Angehörigen vor. Unter den Schutzmaßnahmen sind im Gesetz Bewachung der betroffenen Personen und deren Wohnungen, strengere Schutzmaßnahmen in Bezug auf die personenbezogenen Daten der Betroffenen sowie vorläufige Unterbringung an einem sicheren Ort vorgesehen. Wenn es sich um schwere oder besonders schwere Verbrechen handelt, sind auch Schutzmaßnahmen wie Umsiedlung in andere Regionen, Ausstellung neuer Dokumente, Veränderung des Aussehens etc. möglich. Die Möglichkeiten des russischen Staates zum Schutz von Teilnehmern von Strafverfahren beschränken sich allerdings nicht nur auf den innerstaatlichen Bereich. So wurde im Rahmen der GUS ein internationales Abkommen über den Schutz von Teilnehmern im Strafverfahren erarbeitet, das im Jahr 2006 in Minsk unterzeichnet, im Jahr 2008 von Russland ratifiziert und im Jahr 2009 in Kraft getreten ist. Das Dokument sieht vor, dass die Teilnehmerstaaten einander um Hilfe beim Schutz von Opfern, Zeugen und anderen Teilnehmern von Strafverfahren ersuchen können. Unter den Schutzmaßnahmen sind vorläufige Unterbringungen an einem sicheren Ort in einem der Teilnehmerstaaten, die Umsiedlung der betroffenen Personen in einen der Teilnehmerstaaten, etc. vorgesehen (ÖB Moskau 10.10.2018).

Quellen:

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ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email

Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 12.7.2018, vgl. GIZ 7.2018c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2018a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 7.2018a). Wladimir Putin ist im März 2018, bei der Präsidentschaftswahl im Amt mit 76,7% bestätigt worden. Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl ärgster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Parlament - Staatsduma und Föderationsrat - ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als "obere Parlamentskammer" das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus der Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Siebenprozentklausel. Wichtige Parteien sind die regierungsnahen Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist. Die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist, die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern, die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern, die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2018a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 5.2018b).

Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Einordnung der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges, Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2018a, vgl. AA 5.2018b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2018a).

Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum ("exekutive Machtvertikale") deutlich (GIZ 7.2018a).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (5.2018b): Russische Föderation - Außen- und Europapolitik,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederation/201534, Zugriff 1.8.2018

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CIA - Central Intelligence Agency (12.7.2018): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 1.8.2018

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 1.8.2018

-

FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 1.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 1.8.2018

-

OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report,

https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 29.8.2018

-

Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen",

https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 1.8.2018

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Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident,

https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 1.8.2018

-

Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 1.8.2018

Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2018 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 25.1.2018), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 TschetschenInnen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handle es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens, die bereits vor über einem Jahrhundert entstanden seien, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB Moskau 12.2017). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien somit mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik.

Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 12.2017). Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten immer wieder von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 21.5.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die danach trachteten, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtsaktivisten sowie von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert (ÖB Moskau 12.2017).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als "Fußsoldat Putins" zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute föderale Machtvertikale dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum "inneren Ausland" Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür

des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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GKS - Staatliches Statistikamt (25.1.2018): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2018,

http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/PrPopul2018.xlsx, Zugriff 1.8.2018

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ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,

http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 1.8.2018

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 1.8.2018

Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018

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BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018

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Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden,

https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

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EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag,

https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 21.5.2018). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff "low level insurgency" umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sogenannten IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaya Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Dschihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren (SWP 10.2015). Das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak haben dazu geführt, dass die Gewalt im Nordkaukasus in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen ist. Innerhalb der extremistischen Gruppierungen verschoben sich in den vergangenen Jahren die Sympathien zur regionalen Zweigstelle des sogenannten IS, die mittlerweile das Kaukasus-Emirat praktisch vollständig verdrängt haben soll. Dabei sorgt nicht nur Propaganda und Rekrutierung des IS im Nordkaukasus für Besorgnis der Sicherheitskräfte. So wurden Mitte Dezember 2017 im Nordkaukasus mehrere Kämpfer getötet, die laut Angaben des Anti-Terrorismuskomitees dem sogenannten IS zuzurechnen waren (ÖB Moskau 12.2017). Offiziell kämpfen bis zu 800 erwachsene Tschetschenen für die Terrormiliz IS. Die Dunkelziffer dürfte höher sein (DW 25.1.2018).

Ein Risikomoment für die Stabilität in der Region ist die Verbreitung des radikalen Islamismus. Während in den Republiken Inguschetien und Kabardino-Balkarien auf einen Dialog innerhalb der muslimischen Gemeinschaft gesetzt wird, verfolgen die Republiken Tschetschenien und Dagestan eine konsequente Politik der Repression radikaler Elemente (ÖB Moskau 12.2017).

Im gesamten Jahr 2017 gab es im ganzen Nordkaukasus 175 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 134 Todesopfer (82 Aufständische, 30 Zivilisten, 22 Exekutivkräfte) und 41 Verwundete (31 Exekutivkräfte, neun Zivilisten, ein Aufständischer) (Caucasian Knot 29.1.2018). Im ersten Quartal 2018 gab es im gesamten Nordkaukasus 27 Opfer des bewaffneten Konfliktes, davon 20 Todesopfer (12 Aufständische, sechs Zivilisten, 2 Exekutivkräfte) und sieben Verwundete (fünf Exekutivkräfte, zwei Zivilisten) (Caucasian Knot 21.6.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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