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E1PNorm
AlVG 1977 §12 Abs3 litfBetreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler und den Hofrat Dr. Strohmayer als Richter sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterin, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Sinai, über die Revision des Dipl. Ing. A A in Wien, vertreten durch Mag. Florian Kucera, Rechtsanwalt in 1040 Wien, Brucknerstraße 4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 21. Februar 2019, Zl. W198 2202316-1/5E, betreffend Widerruf und Rückforderung von Notstandshilfe (belangte Behörde vor dem Bundesverwaltungsgericht: Arbeitsmarktservice Wien Schönbrunner Straße), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird in seinem die Rückforderung der Notstandshilfe betreffenden Teil wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Im Übrigen (was den Widerruf der Notstandshilfe betrifft) wird die Revision als unbegründet abgewiesen.
Der Bund hat der revisionswerbenden Partei Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Mit dem in Revision gezogenen Erkenntnis hat das Bundesverwaltungsgericht die Zuerkennung der Notstandshilfe an den Revisionswerber für die Zeit vom 1. bis 14. Oktober 2014 und vom 1. November 2014 bis 10. Juli 2016 gemäß § 24 Abs. 2 AlVG widerrufen und die in diesen Zeiträumen zu Unrecht bezogene Notstandshilfe iHv EUR 18.706,65 gemäß § 25 Abs. 1 AlVG rückgefordert. Zudem hat es gemäß § 24 Abs. 2 AlVG die Notstandshilfe für den Zeitraum vom 11. Juli bis 9. August 2016 widerrufen, ohne für diesen Zeitraum eine Rückforderung auszusprechen.
2 Der Revisionswerber sei vom 4. Mai 2012 bis 6. Juli 2012 bei I. vollversicherungspflichtig beschäftigt gewesen und habe ab 7. Juli 2012 die Zuerkennung von Notstandshilfe beantragt. Zum genannten Zeitpunkt seien 64 Tage anwartschaftsbegründende Beschäftigungszeiten vorgelegen.
3 Seit 18. Oktober 2012 sei der Revisionswerber als ordentlicher Hörer zum Doktoratsstudium an der Technischen Universität Wien zugelassen gewesen. Er habe die Absolvierung eines Studiums in seinen Anträgen nicht bekannt gegeben. Erst im Antrag vom 11. Juli 2016 habe er die Frage 10 des Antragsformulars "Ich befinde mich in Ausbildung ..." mit "Ja" beantwortet und "TU Career Center" angeführt. Am 6. Dezember 2016 habe der Revisionswerber der belangten Behörde Arbeitsmarktservice Wien (im Folgenden: AMS) den Abbruch seines Studiums bekannt gegeben. Seit diesem Zeitpunkt habe er wieder Anspruch auf eine Leistung aus der Arbeitslosenversicherung gehabt.
4 Er habe in den genannten Zeiträumen die Voraussetzungen des § 12 Abs. 4 AlVG nicht erfüllt (und sei gemäß § 12 Abs. 3 lit. f AlVG nicht als arbeitslos zu betrachten gewesen, weshalb Notstandshilfe nicht gebühre). Im Hinblick auf die (im erstinstanzlichen Bescheid bzw. in der Beschwerdevorentscheidung des AMS ausgesprochene und vom Bundesverwaltungsgericht nunmehr bestätigte) Rückforderung gemäß § 25 Abs. 1 AlVG habe der Revisionswerber in der Beschwerde einen Antrag auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung gestellt und behauptet, in den Vorjahren die genannte Frage im jeweiligen Antragsformular auf Grund von Sprachproblemen falsch verstanden zu haben. Dem sei entgegenzuhalten, dass er jahrelang in Österreich gearbeitet und ein Studium betrieben habe. Sein Vorbringen sei eine Schutzbehauptung. Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung habe gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG Abstand genommen werden können, weil der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheine und eine mündliche Erörterung die weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lasse. 5 Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das Bundesverwaltungsgericht aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
6 Gegen das genannte Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes richtet sich die außerordentliche Revision. Das AMS hat eine Revisionsbeantwortung erstattet, in der es die kostenpflichtige Zurückweisung bzw. Abweisung der Revision beantragt.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Der Revisionswerber bringt zur Zulässigkeit der Revision vor, er habe in seiner Beschwerde die Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht beantragt und vorgebracht, dass er die Frage des Antragsformulars in die Richtung verstanden habe, dass es um eine Ausbildungsmaßnahme des AMS gehe. Das AMS sei von ihm über seine Studienaktivitäten stets informiert worden. Er habe seiner Betreuerin auch die Studienunterlagen vorgelegt. Das Bundesverwaltungsgericht hätte sich im Rahmen einer mündlichen Verhandlung von der Richtigkeit seiner Angaben überzeugen müssen. Der Widerruf und die Rückforderung seien erst mit Bescheid des AMS vom 13. Dezember 2017 ausgesprochen worden, sodass die vor dem 14. Dezember 2014 liegenden Zeiträume verjährt seien. Der Revisionswerber habe weder für die Zuerkennung der Notstandshilfe maßgebende Umstände verschwiegen noch die Voraussetzungen des § 12 Abs. 4 AlVG nicht erfüllt, sodass sowohl der Widerruf als auch die Rückforderung unzulässig seien.
9 Die Revision ist zulässig und teilweise berechtigt. 10 Gemäß § 24 Abs. 4 VwGVG kann das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 EMRK noch Art. 47 GRC entgegenstehen.
11 Die Akten lassen dann im Sinne des § 24 Abs. 4 VwGVG erkennen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, wenn von vornherein absehbar ist, dass die mündliche Erörterung nichts zur Ermittlung der materiellen Wahrheit beitragen kann. Dies ist dann der Fall, wenn in der Beschwerde kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender, für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet wurde und auch keine Rechtsfragen aufgeworfen werden, deren Erörterung in einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht erforderlich wäre. Ein bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes kann aber außer Betracht bleiben.
12 Art. 6 Abs. 1 EMRK oder Art. 47 GRC stehen einem Entfall der Verhandlung nicht entgegen, wenn es ausschließlich um rechtliche oder sehr technische Fragen geht oder wenn das Vorbringen des Revisionswerbers angesichts der Beweislage und angesichts der Beschränktheit der zu entscheidenden Fragen nicht geeignet ist, irgendeine Tatsachen- oder Rechtsfrage aufzuwerfen, die eine mündliche Verhandlung erforderlich macht. Der Verzicht auf eine mündliches Verhandlung kann auch in Fällen gerechtfertigt sein, in welchen lediglich Rechtsfragen beschränkter Natur oder von keiner besonderen Komplexität aufgeworfen werden (VwGH 26.6.2019, Ra 2019/08/0099; 9.7.2019, Ra 2019/08/0101, jeweils mwN).
13 Bei der Entscheidung über den Widerruf und die Rückforderung von Notstandshilfe sind "civil rights" zu beurteilen (VwGH 7.8.2017, Ra 2016/08/0171). Der Revisionswerber hat das Vorliegen der Voraussetzungen für die Rückforderung der Notstandshilfe ausreichend konkret bestritten, indem er sich auf einen Irrtum beim Ausfüllen des Fragebogens bzw. darauf berufen hat, das AMS auf andere Weise ausreichend informiert zu haben (Rz 8). Dieses Vorbringen ist prozessrelevant, hängt doch davon die Beurteilung ab, ob das Verhalten des Revisionswerbers einen Rückforderungstatbestand iSd § 25 Abs. 1 AlVG erfüllt. Im Hinblick darauf hätte das Verwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung durchführen und durch unmittelbare Beweisaufnahme (insbesondere durch Vernehmung des Revisionswerbers) eine Klärung des Sachverhalts herbeiführen müssen. Es gehört gerade im Fall zu klärender bzw. widersprechender prozessrelevanter Behauptungen zu den grundlegenden Pflichten des Verwaltungsgerichtes, dem auch im § 25 VwGVG verankerten Unmittelbarkeitsprinzip Rechnung zu tragen, um sich als Gericht einen persönlichen Eindruck von der Glaubwürdigkeit von Zeugen bzw. Parteien zu verschaffen und insbesondere darauf seine Beweiswürdigung zu gründen. 14 Es gibt somit keinen Anhaltspunkt dafür, dass von vornherein angenommen werden könnte, die Durchführung der beantragten mündlichen Verhandlung werde nichts zur Klärung der Rechtssache beitragen.
15 Da die Unterlassung der Durchführung einer mündlichen Verhandlung auf einer Verkennung der Vorgaben des § 24 VwGVG beruhte, war das angefochtene Erkenntnis in seinem die Rückforderung von Arbeitslosengeld betreffenden Teil wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben.
16 Was den Widerruf der Notstandshilfe betrifft, so unterliegt es keinem Zweifel, dass ein Doktoratsstudium ein "geregelter Lehrgang" iSd § 12 Abs. 3 lit. f AlVG ist (VwGH 15.5.2013, 2011/08/0388; 10.10.2018, Ra 2018/08/0189).
17 Auch der Einwand der Verjährung trifft nicht zu. Gemäß § 24 Abs. 2 iVm § 38 AlVG ist der Widerruf der Zuerkennung von Notstandshilfe nach Ablauf von drei Jahren nach dem Anspruchs- oder Leistungszeitraum nicht mehr zulässig. Der Widerruf erging an den Revisionswerber in Form des (laut Beschwerde am 26. September 2917 zugestellten) erstinstanzlichen Bescheides vom 25. September 2017 (VwGH 3.4.2019, Ra 2017/08/0067) und nicht erst - wie die Revision vorbringt - in Form der Beschwerdevorentscheidung vom 13. Dezember 2017, sodass der Widerruf für den Leistungszeitraum ab 1. Oktober 2014 zulässig war.
18 Das angefochtene Erkenntnis war in seinem den Widerruf der Notstandshilfe betreffenden Teil gemäß § 42 Abs. 1 VwGG als unbegründet abzuweisen.
19 Die Zuerkennung von Aufwandersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014, BGBl. II Nr. 518/2013.
Wien, am 27. August 2019
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019080062.L00Im RIS seit
11.10.2019Zuletzt aktualisiert am
11.10.2019