Entscheidungsdatum
11.04.2019Norm
ABGB §21 Abs2Spruch
W102 2164224-1/13E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht beschließt durch den Richter Dr. Werner ANDRÄ als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX (alias XXXX , alias XXXX ), StA. Afghanistan, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Niederösterreich, vom 20.06.2017, Zl. XXXX :
A) Die Beschwerde wird gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG als unzulässig
zurückgewiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer, afghanischer Staatsangehöriger, reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in die Republik Österreich ein und stellte am 04.10.2015 erstmals im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.
In der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 31.10.2015 gab der Beschwerdeführer als Geburtsdatum den XXXX nach dem in Afghanistan gebräuchlichen Kalender, transkribiert in den gregorianischen Kalender den XXXX zu Protokoll. In der Folge wurde der Beschwerdeführer zum Röntgen zwecks Altersfeststellung geladen. Der röntgenologische Befund der linken Hand des Beschwerdeführers vom 21.10.2015 führt das Ergebnis Schmeling 4, GP 31 an.
Nach am 19.12.2015 erfolgter Untersuchung (Anamnese und körperliche Untersuchung, radiologische Aufnahmen von Bezahnung und Schlüsselbeinen) beantwortete der Gutachter die Frage nach dem Mindestalter unter Berücksichtigung des röntgenologischen Befundes vom 21.10.2015 dahingehend, dass das Mindestalter nach der vorliegenden Befundkonstellation mit einfacher Wahrscheinlichkeit zum Untersuchungszeitpunkt mit 18,3 Jahren anzunehmen sei. Daraus ergebe sich für den Antragszeitpunkt ein Alter von 18,09 Jahren und das fiktive Geburtsdatum XXXX .
Mit Verfahrensanordnung vom 19.02.2016 stellte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl fest, dass sich aufgrund des Gutachtens die Feststellung der Volljährigkeit ergebe und das angegebene Geburtsdatum mit XXXX festgesetzt werde. Bis spätestens eine Woche nach Erhalt der Kopie des Gutachtens bestehe die Möglichkeit einer schriftlichen Stellungnahme zum festgestellten Geburtsdatum.
Am 03.01.2017 wurde der Beschwerdeführer ohne Beisein eines gesetzlichen Vertreters niederschriftlich vor der belangten Behörde einvernommen. Dabei wurde er weder zum Geburtsdatum befragt, noch zum Ergebnis des Sachverständigengutachtens.
Mit Bescheid vom 20.06.2017 wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers nach Afghanistan zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.
Der Bescheid wurde an den Beschwerdeführer unter dem Geburtsdatum XXXX adressiert und am 22.06.2017 postalisch hinterlegt. Eine Zustellung an den gesetzlichen Vertreter erfolgte nicht.
Ein Geburtsdatum des Beschwerdeführers wird im Bescheid nicht festgestellt. Eine Auseinandersetzung mit dem Gutachten vom 29.12.2015 erfolgt nicht.
Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde, die am 28.06.2017 bei der belangten Behörde einlangte.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
II.1. Feststellungen:
Der Beschwerdeführer wurde spätestens am XXXX geboren.
Mit Verfahrensanordnung vom 19.02.2016 wurde das Geburtsdatum des Beschwerdeführers auf XXXX geändert.
Die Zustellung des Bescheides erfolgte am 22.06.2017 durch Hinterlegung an den Beschwerdeführer persönlich.
Dass der Beschwerdeführer am 22.06.2017 minderjährig war, kann nicht ausgeschlossen werden.
Eine Zustellung an einen gesetzlichen Vertreter erfolgte nicht.
II.2. Beweiswürdigung:
Die Feststellung zum spätestmöglichen Geburtsdatum des Beschwerdeführers ergeben sich aus dem von der belangten Behörde zur sachverständigen Volljährigkeitsbeurteilung beauftragten Gutachten von Ass. Prof. XXXX , Zentrum für Anatomie und Zellbiologie, Medizinische Universität Wien, vom 29.12.2015.
Den im Gutachten enthaltenen Beschreibungen der zugrunde gelegten Einzelgutachten lässt sich entnehmen, dass bei Altersanamnese und körperlichen Untersuchung keine Ausschlusskriterien für eine Beurteilung hinsichtlich einer Minder- vs. Volljährigkeit festgestellt werden können (Gutachten S. 3, AS 41).
Aus dem Handwurzelröntgen vom 21.10.2015 mit dem Ergebnis "GP 31, Schmeling 4" zeige sich ein Skelettalter von 18. Minimal- und Maximalwerte sind nicht angegeben. Eine Unterscheidung Minder- vs. Volljährigkeit könne anhand des vorliegenden Ausprägungsgrades nicht mit dem maximal möglichen Beweismaß getroffen werden (Gutachten S. 3, AS 41).
Aus dem Zahnpanorama ergebe sich aus der Wurzelentwicklung der dritten Molaren im Oberkiefer das Stadium G, das einem Alter von
18.2 (+/- 1,91) Jahren mit einem Median von 17,92 Jahren (LQ bei 16,64 und UQ bei 19,43) entspreche. Für die dritten Molaren im Unterkiefer ergebe sich ebenfalls das Stadium G, das einem Alter von 18,3 (+/- 1,93) Jahren mit einem Median von 17.91 Jahren (LQ bei 16,89 und UQ bei 19,55) entspreche. Eine eindeutige Differenzierung hinsichtlich einer Grenze zur Volljährigkeit sei nicht möglich, da die Ausprägungsform in beiden Altersklassen auftreten könne, eine Minderjährigkeit könne nicht mit dem geforderten maximal möglichen Beweismaß ausgeschlossen werden.
Der Entwicklungsstand der Schlüsselbeine befinde sich im Stadium 3a, dies entspreche einem Alter mit dem Mittelwert von 19,0 (+/- 1,1), mit einem Min-max von 17,5-20,5, der Median liege bei 18,6 Jahren (LQ bei 18,4 und UQ bei 20,4) nach Kellinghaus bzw. einem Mittelwert von 19,6 (+/-1,5) Jahre, mit dem Min-max von 16,4-22,3, der Median liege bei 19,5 (LQ bei 18,5 bzw. UQ bei 20,8). Daraus ergebe sich für diese Entwicklungsstufe ein wahrscheinliches Alter (Median bzw. 50. Perzentile) von 18,6 Jahren. Es sei mit einfacher bzw. überwiegender Wahrscheinlichkeit Volljährigkeit anzunehmen, jedoch könne eine Minderjährigkeit nicht mit dem maximal möglichen Beweismaß ausgeschlossen werden (Min. bei 17,5 bzw. 16,4).
In der Beantwortung der Fragestellung laut Zuweisung wird ausgeführt, dass das höchstmögliche Mindestalter aus der vorliegenden Befundkonstellation mit einfacher Wahrscheinlichkeit zum Untersuchungszeitpunkt mit 18,3 Jahren anzunehmen sei. Das daraus errechnete "fiktive" Geburtsdatum laute XXXX . Es sei mit einfacher Wahrscheinlichkeit Volljährigkeit anzunehmen.
Aus den Einzelgutachten ergeben sich als Mindestwerte der Spannweite des Alters, in dem das beim Beschwerdeführer vorgefundene Erscheinungsbild auftreten kann, aus dem Zahnpanorama für das Oberkiefer 16,29 Jahre (Durchschnittswert [18,2] abzüglich Standardabweichung [1,91]), für das Unterkiefer 16,37 (Durchschnittswert [18,3] abzüglich Standardabweichung [1,93]) und aus dem Schlüsselbeinröntgen 16,4 Jahre.
Demnach ist trotz überwiegender Wahrscheinlichkeit eines Alters des Beschwerdeführers von 18,3 Jahren im Untersuchungszeitpunkt je nach Einzelbefund ein niedrigeres Alter möglich, wobei um mit maximal möglichem Beweismaß Minderjährigkeit ausschließen zu können, die jeweiligen Mindestwerte herangezogen werden müssen. Insbesondere ist dem hier für das wahrscheinliche Alter des Beschwerdeführers herangezogenen durchschnittlichen Alter für das beim Beschwerdeführer vorgefundene Entwicklungsstadium geradezu logisch und sprachlich immanent, dass auch darunter und darüber liegende Werte auftreten können. Aus einem wahrscheinlichen Mindestalter von 18,3 kann daher nicht - wie es die belangte Behörde tut - auf die Volljährigkeit des Beschwerdeführers geschlossen werden.
Aus einer Zusammenschau der jeweiligen Teilgutachten ergibt sich, dass der höchste Mindestwert, der das nach den beim Beschwerdeführer vorgefundenen Erscheinungsbild im Untersuchungszeitpunkt höchstmögliche Mindestalter mit höchstmöglichem Beweismaß angibt, bei 16,4 Jahren liegt. Dem entspricht das spätestmögliche Geburtsdatum XXXX (Untersuchungszeitpunkt abzüglich 16,4 Jahre bzw. 5990 Tage [gerundet], wobei ein Jahr mit 365,25 Tagen angenommen wurde [Gutachten S. 5, AS. 43]). Daraus ergibt sich, dass der Beschwerdeführer spätestens am XXXX volljährig geworden ist.
Damit ist zwar das vom Beschwerdeführer im Zuge der Erstbefragung angegebene Geburtsdatum XXXX (bzw. nach dem iranischen Kalender XXXX) nicht vereinbar. Eine Minderjährigkeit des Beschwerdeführers für den Zeitpunkt der Bescheidzustellung am 22.06.2017 kann jedoch anhand dieses Ergebnisses des Sachverständigengutachtens nicht mit höchstmöglichem Beweismaß ausgeschlossen werden. Damit bestehen allerdings begründete Zweifel an der Volljährigkeit des Beschwerdeführers im Zustellzeitpunkt, weswegen festgestellt wurde, dass eine Minderjährigkeit des Beschwerdeführers am 22.06.2017 nicht ausgeschlossen werden kann.
Dass eine Zustellung an einen gesetzlichen Vertreter nicht erfolgt ist, ergibt sich aus dem Akteninhalt: In der Zustellverfügung (AS 143) wird nur die Zustellung an die Verfahrenspartei verfügt. Auch Zustellnachweis (AS 291) und Bescheid (AS 147) führen jeweils lediglich Name und "Geburtsdatum" des Beschwerdeführers an.
II.3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A) Zurückweisung der Beschwerde
II.3.1. Zum Zweifelsgrundsatz des § 13 Abs. 3 letzter BFA-VG
Zur Beweiswürdigung ist zunächst auszuführen, dass nach § 13 Abs. 3 letzter Satz BFA-VG zu Gunsten des Fremden von seiner Minderjährigkeit auszugehen ist, wenn nach der Altersdiagnose weiterhin begründete Zweifel bestehen. Wie beweiswürdigend ausgeführt bestehen auch nach der Altersdiagnose noch begründete Zweifel, weil nicht mit dem höchstmöglichen Beweismaß von der Volljährigkeit des Beschwerdeführers auszugehen ist, auch wenn das vom Beschwerdeführer tatsächlich angegebene Alter mit dem jeweiligen Mindestalter für das Vorliegen der körperlichen Entwicklungsstadien, die sich im Zuge der Untersuchung beim Beschwerdeführer ergeben haben, nicht vereinbar ist. Aus den Erläuterungen zur Fremdenrechtsänderungsgesetz 2009 ergibt sich, dass als Beweisthema die "mit an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit" festgelegt ist (ErläutRV 330 BlgNR 24. GP zu § 2 Abs. 1 Z 25 sowie zu § 15 Abs. 1 Z 6 AsylG), wobei in den Erläuterungen zum Fremdenbehördenneustrukturierungsgesetz - FNG (BGBl. I Nr. 87/2012) zu § 13 Abs. 3 letzter Satz BFA-VG klargestellt wird, dass wenn nach dem Gutachten weiterhin ein Zweifelsfall vorliegt, zu Gunsten des Fremden von seiner Minderjährigkeit auszugehen ist ("in dubio pro minor"; Erläut RV 1803 BlgNR 24 GP zu § 13 Abs. 3 BFA-VG). Angesichts der beweiswürdigend referierten Ergebnisse des Sachverständigengutachtens liegen damit Zweifel im Sinne des Gesetzes vor und war zugunsten des Beschwerdeführers von seiner Minderjährigkeit auszugehen.
II.3.2. Zur Zurückweisung der Beschwerde
Nach § 9 AVG ist die persönliche Rechts- und Handlungsfähigkeit von Beteiligten, wenn in den Verwaltungsvorschriften nicht anderes bestimmt ist, nach den Vorschriften des bürgerlichen Rechts zu beurteilen. Gemäß § 10 Abs. 1 BFA-VG ist für den Eintritt der Handlungsfähigkeit in Verfahren unter anderem vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ungeachtet der Staatsangehörigkeit des Fremden österreichisches Recht maßgeblich.
Nach § 21 Abs. 2 ABGB sind Minderjährige Personen, die das achtzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet haben. Gemäß § 21 Abs. 1 ABGB stehen Minderjährige unter dem besonderen Schutz des Gesetzes.
§ 170 Abs. 1 ABGB normiert für ein minderjähriges Kind, dass es ohne ausdrückliche oder stillschweigende Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters rechtsgeschäftlich weder verfügen noch sich verpflichten kann.
Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ergibt sich daraus für minderjährige Fremde, die sich in einem der in der Bestimmung des § 10 Abs. 1 BFA-VG genannten Verfahren befinden, dass sie grundsätzlich geschäftsunfähig und damit auch prozessunfähig sind (VwGH 18.10.2017, Ra 2016/19/0351).
Die Frage des Alters ist im Berufungsverfahren (nunmehr Beschwerdeverfahren) nach der Rechtsprechung dann relevant, wenn der Asylwerber unter Zugrundelegung des von ihm angegebenen Geburtsdatums zum Zeitpunkt der Zustellung des Bescheides noch minderjährig gewesen ist. In diesem Fall habe die Zustellung des Bescheides an den Asylwerber persönlich keine Rechtswirkung entfaltet, was zur Folge hat, dass der Bescheid rechtlich nicht existent geworden sei (VwGH 21.01.2010, 2008/20/0042).
Wie sich aus dem festgestellten Sachverhalt ergibt, kann für den Zustellzeitpunkt eine Minderjährigkeit des Beschwerdeführers nicht ausgeschlossen werden, weswegen unter Berücksichtigung des Zweifelsgrundsatzes des § 13 Abs. 3 BFA-VG von der Minderjährigkeit des Beschwerdeführers auszugehen ist. Dem festgestellten Sachverhalt lässt sich auch entnehmen, dass eine Zustellung an einen gesetzlichen Vertreter unterblieben ist. Damit ist der angefochtene Bescheid nach der oben zitierten Judikatur nicht existent geworden und eine Beschwerde dagegen kann nicht zulässig sein.
Nachdem ein nicht erlassener Bescheid keine Rechtswirkungen zu entfalten vermag und der Beschwerde schon deshalb der Mangel der Berechtigung zu ihrer Erhebung anhaftet, kann die Auseinandersetzung damit, ob der in diesem Zeitpunkt prozessunfähige Beschwerdeführer wirksam Vollmacht erteilen konnte, unterbleiben (Vgl. VwGH 25.03.1999, 96/20/0487).
Die Beschwerde war daher spruchgemäß zurückzuweisen.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision
Die Revision ist unzulässig, da keine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG vorliegt. Das Bundesverwaltungsgericht orientiert sich in seiner Beweiswürdigung zum Alter des Beschwerdeführers am klaren Gesetzeswortlaut des § 13 Abs. 3 letzter Satz BFA-VG und folgt in seiner rechtlichen Beurteilung der Konsequenzen einer persönlichen Zustellung eines Bescheides nur an den minderjährigen Asylwerber der zitierten klaren Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.
Schlagworte
Bescheiderlassung, Bescheidqualität, Bescheidwirkung, gesetzlicherEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2019:W102.2164224.1.00Zuletzt aktualisiert am
02.10.2019