TE Bvwg Erkenntnis 2019/4/16 W261 2169775-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 16.04.2019
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Entscheidungsdatum

16.04.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §2 Abs1 Z13
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1
FPG §55 Abs2

Spruch

W261 2169775-1/24E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch Dr. Gerhard MORY, Rechtsanwalt, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.08.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der nunmehrige Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben am 11.10.2015 in die Republik Österreich ein und stellte am selben Tag gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Bei der Erstbefragung am 11.10.2015 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari an, dass er Paschtune sei und aus der Provinz Paktika stamme. Er sei Analphabet und habe für die Regierung gearbeitet. Er hätte nicht mehr nach Hause fahren können, weil zwei seiner Cousins von den Taliban ermordet worden seien, da diese genauso, wie der BF auch, als Soldaten bei der Regierung gearbeitet hätten.

Am 12.07.2017 erfolgte die erste niederschriftliche Ersteinvernahme des BF vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg (in der Folge belangte Behörde) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu. Er gab an, er sei in der Provinz Paktika geboren, sei Paschtune, sunnitischer Moslem, ledig und kinderlos. Er leide unter Kopfschmerzen, ansonsten sei er gesund. Seine Familie lebe nach wie vor im Heimatdorf, sein Bruder sei Soldat in der Afghanischen National Armee und lebe in Mazar-e Sharif. Die Familie besitze ein Haus und Grundstücke. Er habe in Afghanistan als LKW-Fahrer und Mechaniker gearbeitet. Er habe Afghanistan verlassen, weil er als Lokalpolizist sein Heimatdorf gegen die Taliban verteidigt habe. Die Taliban hätten ihn bedroht, dass er mit seiner Arbeit aufhören solle. Die Taliban seien auch zu ihm nach Hause gekommen, und hätten ihn gesucht. Seine Mutter habe ihm gesagt, dass er so schnell wie möglich das Dorf verlassen müsse. Er sei zu einem Onkel eines Freundes nach Kabul geflohen, bei welchem er für sechs Monate als Mechaniker gearbeitet habe. Sein Freund habe in Kabul jemanden mit dem Messer verletzt und bestohlen. Bei diesem Vorfall sei auch der BF anwesend gewesen und sei von dem Mann beschuldigt worden, an dem Überfall beteiligt gewesen zu sein. Es habe sich herausgestellt, dass sein Freund an dieser Person Blutrache ausgeübt habe, weswegen nun auch dem BF Blutrache drohen würde, weil die Familie des Verletzten denken würde, dass auch der BF zur Familie seines Freundes gehöre. Der BF sei dann in weiterer Folge zu einem Bruder seines Chefs nach Mazar-e Sharif gezogen, der dort ein LKW-Geschäft betrieben habe. Dort habe der BF als LKW-Fahrer gearbeitet. Sein Freund sei zu einer Haftstrafe verurteilt worden. Die Familie der verletzten Person würde nach ihm suchen, dies sei eine sehr mächtige Familie, die ihn umbringen wolle, obwohl der BF unschuldig sei. Nachdem sein Freund entlassen worden sei, habe ihn die verletzte Person erstochen. Dann habe auch der BF Angst bekommen, sein Heimatdorf habe er wegen den Taliban verlassen und in Kabul drohe im Blutrache, obwohl er unschuldig sei.

Die belangte Behörde führte am 21.07.2017 neuerliche eine Einvernahme des BF durch, im Zuge derer der BF ergänzend zu seinem Fluchtvorbringen befragt wurde. Der BF legte eine Reihe von Integrationsunterlagen vor.

Mit nunmehr angefochtenem Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Gemäß § 57 AsylG 2005 erteilte die belangte Behörde dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen und erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt III.). Die belangte Behörde stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei. Weiters sprach die belangte Behörde aus, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV).

Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates bzw. zu der Situation im Falle einer Rückkehr stellte die belangte Behörde insbesondere fest, dass weder der BF noch seine Familie je persönlich von den Taliban bedroht worden seien. Er sei auch nicht aufgrund von Blutrache bedroht. Er werde in seinem Herkunftsstaat nicht aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Gesinnung von staatlicher Seite verfolgt. Sein Vorbringen sei nicht vollinhaltlich glaubhaft, und selbst bei unterstelltem Wahrheitsgehalt sei es nicht von Asylrelevanz. Der BF sei volljährig, gesund, arbeitsfähig und habe Kontakt mit seiner Familie. Er habe bereits in Kabul und in Mazar-e Sharif gelebt. Er sei bereits in der Vergangenheit in der Lage gewesen, für seinen eigenen Unterhalt aufzukommen. Ihm stehe mit den Städten Kabul und Mazar-e Sharif eine zumutbare innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Er liefe nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse nicht befriedigen zu können und in eine aussichtlose Lage zu geraten.

Der BF erhob mit Eingabe vom 22.08.2017, bevollmächtigt vertreten durch die Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen diesen Bescheid fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde und führte begründend aus, dass die belangte Behörde die Verfahrensvorschriften dadurch verletzt habe, dass sie ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren geführt habe. Der BF sei erkrankt, habe Probleme mit dem "Hirn" und laufe Gefahr, aus diesem Grund als psychisch Kranker in Afghanistan stigmatisiert zu werden. Er habe bei der Afghan Local Police gearbeitet, und sei deshalb laut den in der Beschwerde zitierten Länderinformationen in Gefahr, von den Taliban verfolgt zu werden. Die belangte Behörde habe es verabsäumt, Länderinformationen zu Blutrache einzuholen. Laut den zitierten UNHCR Richtlinien stelle Blutrache ein eigenes Risikoprofil dar. Die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan sei sehr schlecht, wie die zitierten Länderinformationen belegen würden. Die Beweiswürdigung der belangten Behörde sei ebenso mangelhaft geblieben. Im Falle seiner Rückkehr würde der BF in eine ausweglose Situation geraten. Kabul stehe als innerstaatliche Fluchtalternative nicht zur Verfügung. Es sei dem BF nicht zuzumuten, wieder nach Afghanistan zurückzukehren, wobei insbesondere auch seine gesundheitlichen Einschränkungen zu berücksichtigen seien. Es werde dem BF nicht möglich sein, Wohnraum und einen Arbeitsplatz zu finden. Rechtlich hätte die belangte Behörde nach richtiger Würdigung der Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens unter Einbeziehung der in der Beschwerde zitierten Länderinformationen zum Ergebnis kommen müssen, dass dem BF internationaler Schutz, jedenfalls jedoch subsidiärer Schutz zu gewähren sei. Der BF sei bemüht, sich in Österreich zu integrieren, weswegen er auch in seinen Rechten nach Art. 8 EMRK verletzt werde. Es werde die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung begehrt.

Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 05.09.2017 beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) ein.

Mit Eingabe vom 05.02.2018 gab Rechtsanwalt Dr. MORY bekannt, dass er den BF rechtsfreundlich vertrete.

Das BVwG führte am 27.02.2018 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der die belangte Behörde entschuldigt nicht teilnahm. Der BF wurde im Beisein seines Vertreters und einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu zu seinen Fluchtgründen und zu seiner Situation in Österreich befragt und wurde ihm Gelegenheit gegeben, zu den aktuellen Feststellungen zur Situation in Afghanistan Stellung zu nehmen. Der BF legte einen Ambulanzbericht der Uniklinik Salzburg und eine Reihe von Beipackzetteln von Medikamenten, die er einnehme, vor. Er nehme diese Medikamente wegen seiner psychischen Beschwerden und seiner Kopfschmerzen ein.

Das BVwG legte im Rahmen der Verhandlung die aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan, genauer das Länderinformationsblatt Afghanistan in der Fassung vom 30.01.2018, den Landinfo Report "Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne", einen Auszug aus der UNHCR Richtlinie vom 19.04.2016 und die ACCORD Anfragebeantwortung vom 05.10.2015 zur Behandlungsmöglichkeit für psychisch erkrankte/traumatisierte Personen in Kabul, vor und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu innerhalb einer Frist von drei Wochen eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.

Der BF, bevollmächtigt vertreten durchseinen Rechtsanwalt Dr. MORY, führte in seiner Stellungnahme vom 20.03.2018 im Wesentlichen aus, dass der BF als ehemaliges Mitglied der lokalen Polizei von den Taliban verfolgt werde, darüber hinaus sei sein Bruder bei der Nationalarmee tätig. Das Vorbringen des BF decke sich auch mit einem EASO Bericht über die Provinz Paktyia, wonach Aufständische in dieser Provinz tätig seien, und es der Regierung nie gelungen sei, die Kontrolle über diese Provinz zu erlangen. Aus dem vorgelegten Landinfobericht würden sich Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der BF auf einer schwarzen Liste stehe, und mit einer Verfolgung durch die Taliban zu rechnen habe. Zudem sei auch sein Bruder für die Nationalarmee tätig, woraus geschlossen werden könne, dass er auch als Familienangehöriger seines Bruders in Gefahr sei. Der BF habe weder in Kabul noch in Mazar-e Sharif offen gelebt, vielmehr habe er sich versteckt gehalten. Die Taliban hätten wiederholte Male zu Hause nach ihm gesucht. Er könne nicht in seine Herkunftsprovinz Paktyia zurückkehren. Eine innerstaatliche Fluchtalternative stehe für ihn nicht zur Verfügung. Ihm drohe auch eine Verfolgung durch den Staat, weil er verdächtigt werde, bei einem Messerstichangriff seines Freundes beteiligt gewesen zu sein. Der BF leide an massiven Kopfschmerzen und an einem posttraumatischen Belastungssyndrom. Er sei psychiatrisch dringend behandlungsbedürftig. Daher werde die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens beantragt, dass aufgrund seiner psychischen Erkrankung seine Arbeitsfähigkeit deutlich eingeschränkt sei. Allein schon aus diesem Grund scheide für den BF eine innerstaatliche Fluchtalternative aus. Der BF sei auch einer Gefährdung durch die von seinem Freund verletzte Person und dessen Familie ausgesetzt. Er wisse von einer Blutfehde zwischen der Familie seines Freundes und jener der von ihm verletzten Person. Zudem habe sich die sozioökonomische Situation für Rückkehrer in den letzten Jahren massiv verschärft. Der BF legte einen Ambulanzbericht, einen Überweisungsschein seines Hausarztes und einen Auszug aus den EASO Sicherheitsberichten vom Jänner 2015 und vom Dezember 2017 und einen Auszug aus den UNHCR Richtlinien vom April 2016 vor.

Die belangte Behörde gab keine Stellungnahme ab.

Der BF ersuchte um Fristerstreckung zur Abgabe einer weiteren Stellungnahme, die ihm das BVwG mit Schreiben vom 21.03.2018 gewährte.

Mit Eingabe vom 05.04.2018 gab der BF durch seinen anwaltlichen Vertreter eine weitere schriftliche Stellungnahme ab, worin er zu den bei ihm vorliegenden Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes ausführte, indem er über weite Strecken aus einem aktuellen Urteil des Französischen Nationalasylgerichtes zitierte, wonach ihm eine Rückkehr nach Kabul nicht zumutbar sei. Zudem sei nach Ansicht des BF im gesamten Staatsgebiet von Afghanistan davon auszugehen, dass ein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt im Sinne des Art. 15 c der EU-Status-RL vorliege.

Der BF gab, vertreten durch seinen Rechtsanwalt, mit Eingabe vom 05.04.2018 eine weitere schriftliche Stellungnahme ab, wonach er zu einer fehlenden innerstaatlichen Fluchtalternative, zur Unzumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative und zu seiner Gefährdung, sofern er gezwungen sei, nach Afghanistan zurückzukehren, umfassend unter Zitierung diverser Länderinformationen ausführte.

Mit Schreiben vom 27.02.2019 übermittelte das BVwG den Parteien des Verfahrens das aktuelle Länderinformationsblatt in der Fassung vom 31.01.2019, die aktuelle UNHCR Richtlinie vom 30.08.2018 und Auszüge aus der EASO Leitlinie zu Afghanistan vom Juni 2016 und räumte die Möglichkeit ein, hierzu eine Stellungnahme abzugeben. Gleichzeitig forderte das BvWG den BF auf, aktuelle medizinische Befunde des BF vorzulegen.

Der BF gab, vertreten durch seinen Rechtsanwalt, mit Eingabe vom 15.03.2019 eine weitere schriftliche Stellungnahme ab, wonach er neuerlich darauf verwies, dass dem BF in seinem Herkunftsstaat asylrelevante Verfolgung durch die Taliban drohe. Der BF sei psychisch krank, wobei auf die mit der Stellungnahme vorgelegten Befunde verwiesen werde. Der BF führte umfangreich unter Hinweis auf die vorgelegte, aber auch auf andere Länderinformationen aus, weswegen er über keine zumutbare innerstaatliche Flucht- und Schutzalternative verfüge. Es werde ausdrücklich neuerlich beantragt, den BF durch einen medizinischen Sachverständigen untersuchen zu lassen.

Die belangte Behörde übermittelte dem BVwG am 22.03.2019 einen Anlass-Bericht der Landespolizeidirektion XXXX , wonach der BF im Verdacht stehe, zwischen 04. und 08.03.2019, am 10.03.2019 und am 20.03.2019 einen afghanischen Staatsbürger und Mitbewohner in der Flüchtlingsunterkunft insgesamt drei Mal vergewaltigt zu haben. Der BF bestreite laut dem vorliegenden Bericht diese Vorwürfe, und gab an, dass das vermeintliche Opfer dies alles erfunden habe, um von der Unterkunft wegzukommen, und in die Stadt ziehen zu können.

Das BVwG übermittelte diesen Anlassbericht dem Rechtsanwalt des BF mit Schreiben vom 25.03.2019 zur Kenntnis.

Das BVwG führte am 16.04.2019 eine Abfrage im GVS System durch, wonach der BF seit 22.10.2015 Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung bezieht.

Aus dem vom BvWG am 16.04.2019 eingeholten Auszug aus dem Strafregister ist ersichtlich, dass der BF im Strafregister der Republik Österreich für den BF keine Verurteilungen aufscheinen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1 Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers

Der BF führt den Namen XXXX , geboren am XXXX , im Dorf XXXX , im Distrikt XXXX , in der Provinz XXXX , ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Paschtunen an, ist sunnitischer Moslem, gesund und ledig. Die Muttersprache des BF ist Paschtu, der BF spricht auch Dari. Der BF gehört dem Stamm der XXXX an. Der BF ist ledig und hat keine Kinder.

Der BF wuchs in seinem Heimatdorf auf, wo zwar keine Schule besuchte, jedoch seinem Vater in der familieneigenen Landwirtschaft half. Als der BF ca. 15 oder 16 Jahre alt war, wurde er von Aufständischen am Feld verprügelt und am Kopf verletzt. Er war in seinem Heimatdorf für ca. eineinhalb Jahre für die lokale Polizei, einer Art Bürgerwehr, tätig. Er verließ sodann seinen Heimatort und lebte für ca. sechs Monate in der Stadt Kabul, wo er in einer Mechaniker Werkstätte als Mechaniker Gehilfe tätig war. Nach ca. sechs Monaten zog er nach Mazar-e Sharif, wo er als LKW-Beifahrer arbeitete.

Der Vater des BF hieß XXXX , er verstarb im Jahr 2018. Seine Mutter heißt XXXX . Der BF hat Geschwister, einen Bruder, XXXX , er ist ca. 20 Jahre alt und Mitglied der National Armee, und eine Schwester, XXXX , sie ist ca. 18 Jahre alt. Der Vater des BF war als Landwirt tätig. Die Mutter des BF ist Hausfrau.

Die Familie des BF ist Eigentümerin eines Hauses und von Grundstücken im Heimatort des BF. Diese Grundstücke werden derzeit von den zwei Onkeln väterlicherseits des BF bewirtschaftet.

Der Bruder des BF lebt in Mazar-e Sharif, seine Mutter und seine Schwester leben mit großer Wahrscheinlichkeit nach wie vor in seinem Heimatdorf.

Der BF ist Zivilist, er beendete seinen Dienst bei der lokalen Polizei ca. ein Jahr vor seiner Ausreise.

Der BF hat zwei Onkel väterlicherseits und eine Tante mütterlicherseits, welche allesamt in der Provinz Paktia leben. Der BF hat Freunde in seiner Heimatregion.

Es ist nicht glaubhaft, dass der BF keinen Kontakt mit seiner Familie hat.

Der BF leidet an einer chronisch somatoformen Schmerzstörung (Kopfschmerzen) und an einer posttraumatischen Belastungsstörung. Er nimmt folgende Medikamente: Mirtabene 30 mg, ein Antidepressivum, in der Nacht, Sertralin 100 mg, ein Stimmungsaufheller, in der Früh und Dominal 80 mg, ein schlafanstoßendes und beruhigendes Medikament, in der Nacht. Der BF befindet sich nicht in laufender psychotherapeutischer Behandlung.

Der BF reiste im August 2015 aus Afghanistan aus und gelangte über Pakistan, den Iran, die Türkei über Griechenland und weitere Staaten nach Österreich, wo er am 11.10.2015 illegal einreiste und am selben einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.2 Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers

Das vom BF dargelegte Fluchtvorbringen betreffend die Gefahr, aufgrund seiner ehemaligen Tätigkeit als lokaler Polizist bzw. Mitglied der Bürgerwehr seines Heimatortes von den Taliban gesucht und bedroht zu werden, ist nicht glaubhaft.

Das vom BF dargelegte Fluchtvorbringen betreffend die Gefahr, aufgrund einer Blutfehde, in die er unschuldiger Weise verstrickt worden sei, von einer mächtigen Familie gesucht und bedroht zu werden, ist nicht glaubhaft.

Das vom BF dargelegte Fluchtvorbringen betreffend die Gefahr, aufgrund eines Überfalles durch seinen Freund auf eine andere Person, mit welcher dieser in eine Blutfehde verstrickt sei, und bei welchem der BF anwesend gewesen sei, von staatlichen Behörden gesucht zu werden, ist nicht glaubhaft.

Das vom BF dargelegte Fluchtvorbringen, aufgrund des Umstandes, dass sein Bruder für die Afghanische Nationalarmee tätig ist, in Afghanistan gesucht und bedroht zu werden, ist nicht glaubhaft.

Der BF war in seinem Heimatland Afghanistan keiner psychischen oder physischen Gewalt aus Gründen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ausgesetzt, noch hat er eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten.

Auch sonst haben sich keine Hinweise für eine dem BF in Afghanistan individuell drohende Verfolgung ergeben.

1.3 Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der BF befindet sich seit seiner Antragstellung im Oktober 2015 auf Grund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet. Er bezieht seit seiner Einreise Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung.

Der BF besuchte Deutschkurse, zuletzt auf Niveau A2/2, und verfügt über Kenntnisse der deutschen Sprache. Er machte beim BFI XXXX im Rahmen des Projektes Linie150 eine Ausbildung im Ausbildungsbereich Metallbearbeitung. Der BF nahm an Fußballturnieren für Flüchtlinge teil. Er besuchte am 12.05.2017 den Werte- und Orientierungskurs des Österreichischen Integrationsfonds. Er übernahm freiwillig kleinere Reparaturarbeiten in seiner Flüchtlingsunterkunft in XXXX . Er arbeitete gelegentlich freiwillig und unentgeltlich im Bereich der Landschaftspflege für die Gemeinde XXXX . Der BF hat in Österreich keine Familienangehörigen. Neben Freundschaften konnten keine weiteren substantiellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens des BF in Österreich festgestellt werden.

Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.4 Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Es kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden, dass dem BF bei einer Überstellung in seine Herkunftsprovinz Paktia aufgrund der volatilen Sicherheitslage und der dort stattfinden willkürlichen Gewalt im Rahmen von internen bewaffneten Konflikten ein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit drohen würde.

Dem BF steht als interstaatliche Flucht- und Schutzalternative eine Rückkehr in der Stadt Mazar-e Sharif zur Verfügung, wo es ihm möglich ist, ohne Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können bzw. in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten, zu leben. Dem BF droht bei seiner Rückkehr in diese Stadt mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit kein Eingriff in seine körperliche Unversehrtheit.

Der BF ist jung und trotz seiner psychischen Situation arbeitsfähig, wie seine Tätigkeit im Rahmen des Projektes des BFI XXXX belegt. Seine Existenz kann er in Mazar-e Sharif - zumindest anfänglich - mit Hilfs- und Gelegenheitsarbeiten sichern. Er ist auch in der Lage, eine einfache Unterkunft zu finden. Der BF hat auch die Möglichkeit, finanzielle Unterstützung in Form der Rückkehrhilfe in Anspruch zu nehmen, sodass er im Falle der Rückkehr - neben den eigenen Ressourcen - auf eine zusätzliche Unterstützung zur Existenzsicherung greifen kann. Diese Rückkehrhilfe umfasst jedenfalls auch die notwendigen Kosten der Rückreise. Er hat zwar keine Schulausbildung, hat jedoch bereits Berufserfahrung als Mechaniker Gehilfe, LKW-Beifahrer und nun in Österreich im Bereich der Metallverarbeitung gesammelt, die er auch in Mazar-e Sharif wird nutzen können. Der Bruder des BF lebt ebenfalls in Mazar-e Sharif. Der BF hat Verwandte in Afghanistan, er ist Mitglied eines paschtunischen Stammes und kann aufgrund des herrschenden Paschtunwali davon ausgehen, dass er von den Mitgliedern seines Stammes Unterstützung erhalten wird.

Der BF leidet an Kopfschmerzen und einer posttraumatischen Belastungsstörung. Der BF läuft im Falle der Rückkehr in eine nach Mazar-e Sharif dennoch nicht Gefahr, aufgrund seines derzeitigen Gesundheitszustandes in einen unmittelbar lebensbedrohlichen Zustand zu geraten, oder dass sich eine Erkrankung in einem lebensbedrohlichen Ausmaß verschlechtern wird. Es sind auch sonst keine objektivierten Hinweise hervorgekommen, dass allenfalls andere schwerwiegende körperliche oder psychische Erkrankungen einer Rückführung des BF in den Herkunftsstaat entgegenstehen würden.

1.5 Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Zur Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 29.06.2018 mit Stand vom 31.01.2019, in den UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018, den EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2018 und in der Arbeitsübersetzung Landinfo report "Afghanistan: Der Nachrichtendienst der Taliban und die Einschüchterungskampagne" vom 23.08.2017 vom enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:

1.5.1 Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren. Ausländische Streitkräfte und Regierungsvertreter sowie die als ihre Verbündeten angesehenen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Vertreter der afghanischen Regierung sind prioritäre Ziele der Aufständischen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. In einigen Teilen des Landes ist fehlende Sicherheit die größte Bewegungseinschränkung. In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht. Bewaffnete Aufständischengruppen betreiben illegale Checkpoints und erpressen Geld und Waren.

1.5.1.1 Herkunftsprovinz Paktia

Paktia ist eine gebirgige Provinz im südlichen Afghanistan. Sie grenzt an die Provinz Logar und an Pakistan im Norden, an Khost im Osten, an Paktika im Süden und an Ghazni im Osten. Die Provinz besteht aus folgenden Distrikten: Ahmadabad/Ahmad Abad, Sayed Karam/Mirzaka, Ahmadkhel/Lija Ahmad Khel/Laja Mangel. Zazi/ Alikhel/Jaji, Janikhel, Tsamkani/Chamkani, Dandaw Patan/Dand Wa Patan, Shwak/Shawak, Gerda Serai, Wuza Zadran/Zadran, Zurmat und Gardez; Gardez ist auch die Provinzhauptstadt. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 570.534 geschätzt. In der Provinz leben Tadschiken und verschiedene Teilstämme der Paschtunen.

Paktia zählt zu den unruhigen Gebieten Afghanistans. Aufständische sind in einigen Distrikten der Provinz aktiv. Paktia ist eine strategische Provinz Afghanistans und gilt als Hochburg der Taliban und des Haqqani-Netwerks; sie grenzt an Pakistan sowie auch an die Stammesgebiete unter pakistanischer Bundesverwaltung und gilt als Zutrittspunkt für aufständische Gruppierungen wie die Taliban, Mitglieder des Haqqani-Netzwerks oder al-Qaida. Im November 2017 erklärten sich die Dorfältesten der Provinz Paktia bereit, zwischen der afghanischen Regierung und dem Haqqani-Netzwerk zu vermitteln.

In der östlichen Provinz Paktia leben Paschtunen-Familien traditionellerweise in einem großen Familienverband, um ihre Sicherheit, Ehre und Eigentum zu beschützen. Solche großen Familien werden besonders respektiert, nicht zuletzt, weil feindliche Parteien seltener eine Gruppe angreifen, die viele Männer und damit potenzielle Kämpfer umfasst.

In Bezug auf Stammesdispute unterstrich der Gouverneur von Khost bei einem Besuch in Paktia die Notwendigkeit der Zusammenarbeit, um die Sicherheitslage zu verbessern und Stammesdispute zu lösen. Die Beseitigung von Stammesdisputen beider Provinzen würde die Sicherheitslage in der Region verbessern und das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung wiederherstellen. Sicherheits- und Verteidigungsbeamte, Mitglieder des Provinzrates, Stammesälteste und andere Beamte der Provinzen Khost und Paktia diskutierten über eine verbesserte Kooperation und Koordination bei der Bekämpfung von Verbrechen.

Es wurden zwei Angriffe in Gardez auf die afghanischen Sicherheitskräfte durch Aufständische der Provinz verübt, bei denen zahlreiche Menschen, auch Zivilisten, ums Leben gekommen bzw. verletzt worden sind.

Im Zeitraum 01.01.2017-30.04.2018 wurden in der Provinz 60 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Im gesamten Jahr 2017 wurden 491 zivile Opfer (116 getötete Zivilisten und 375 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Selbstmordanschläge, gefolgt von gezielten Tötungen und Bodenoffensiven. Dies bedeutet eine Steigerung von 154% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016.

In der Provinz werden Militäroperationen durchgeführt, um gewisse Gegenden von Aufständischen zu befreien; unter anderem in Form von Luftangriffen; dabei werden Aufständische getötet. Zusammenstöße zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften finden statt.

In der Provinz befindet sich ein afghanischer Militärstützpunkt, sowie die US-amerikanische Forward Operating Base (FOB) Gardez und die ebenfalls amerikanische "Advising Platform Lightning", wo die Task Force Southeast stationiert ist.

Aufständische sind in einigen Distrikten der Provinz aktiv. Zu den Aufständischen zählen Mitglieder der Taliban sowie der al-Qaida. Aber auch das Haqqani-Netzwerk operiert in Paktia; die Provinz gilt als Geburtsort des Haqqani-Netzwerks. Der Distrikt Janikhel galt Ende März 2018 als umkämpft; Der Distrikt Janikhel hat u.a. für das Haqqani Netzwerk eine besondere Bedeutung - aufgrund seiner geographischen Lage, bietet er jenen, die den Distrikt kontrollieren, strategische Vorteile. Der Distrikt selbst grenzt an die Provinz Khost und verbindet so diese beiden Provinzen mit einem Abschnitt der Khost- Gardez-Autobahn, die ebenso durch die Provinzhauptstadt Gardez verläuft.

Im Zeitraum 16.07.2017 - 31.01.2018 wurden an der Grenze zur Provinz Khost IS-bezogene Vorfälle (Gefechte) gemeldet.

Die Provinz Paktia zählt laut EASO zu jenen Provinzen Afghanistans, wo willkürliche Gewalt ein derart hohes Ausmaß erreicht, dass im Einzelfall nur minimale Teilvoraussetzungen erfüllt sein müssen, um berechtigten Grund für die Annahme zu liefern, dass Zivilisten, welche in die betreffende Provinz rückgebracht würden, eine reele Gefahr, ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie nehmen, zu gewärtigen hätten.

1.5.1.2 Provinz Balkh

Hingegen handelt es sich bei der Provinz Balkh, mit deren Hauptstadt Mazar-e Sharif, laut EASO um einen jener Landesteile, wo willkürliche Gewalt ein derart niedriges Ausmaß erreicht, dass für Zivilisten im Allgemeinen keine reelle Gefahr besteht, von willkürlicher Gewalt im Sinne von Art 15 (c) der Qualifizierungsrichtlinie persönlich betroffen zu sein.

Die Provinz Balkh ist nach wie vor eine der stabilsten Provinzen Afghanistans, sie zählt zu den relativ ruhigen Provinzen in Nordafghanistan. Balkh hat im Vergleich zu anderen Regionen weniger Aktivitäten von Aufständischen zu verzeichnen. Manchmal kommt es zu Zusammenstößen zwischen Aufständischen und den afghanischen Sicherheitskräften, oder auch zu Angriffen auf Einrichtungen der Sicherheitskräfte. Im Zeitraum 01.01.2017 - 30.4.2018 wurden in der Provinz 93 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert.

Im gesamten Jahr 2017 wurden 129 zivile Opfer (52 getötete Zivilisten und 77 Verletzte) registriert. Hauptursache waren IEDs, gefolgt von Bodenoffensiven und Blindgänger/Landminen. Dies bedeutet einen Rückgang von 68% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016. Zusammenstöße zwischen Aufständischen und Sicherheitskräften finden statt. Regierungsfeindliche Gruppierungen versuchen ihren Aufstand in der Provinz Balkh voranzutreiben.

1.5.2 Sichere Einreise

Die Stadt Mazar-e Sharif ist über den internationalen Flughafen sicher erreichbar.

Der Flughafen von Mazar-e Sharif (MRZ) liegt 9 km östlich der Stadt im Bezirk Marmul. Die Befahrung der Straßen von diesem Flughafen bis zur Stadt Mazar-e Sharif ist zur Tageszeit im Allgemeinen sicher.

1.5.3 Wirtschafts- und Versorgungslage

Zur Wirtschafts- und Versorgungslage ist festzuhalten, dass Afghanistan weiterhin ein Land mit hoher Armutsrate und Arbeitslosigkeit ist. Seit 2002 hat Afghanistan mit Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft wichtige Fortschritte beim Wiederaufbau seiner Wirtschaft erzielt. Nichtsdestotrotz bleiben bedeutende Herausforderungen bestehen, da das Land weiterhin von Konflikten betroffen, arm und von Hilfeleistungen abhängig ist. Während auf nationaler Ebene die Armutsrate in den letzten Jahren etwas gesunken ist, stieg sie in Nordostafghanistan in sehr hohem Maße. Im Norden und im Westen des Landes konnte sie hingegen reduziert werden. Angesichts des langsamen Wachstums, sicherheitsbedingter Versorgungsunterbrechungen und schwacher landwirtschaftlicher Leistungen, nimmt die Armut auch im Jahr 2018 weiterhin zu.

In den Jahren 2016-2017 wuchs die Arbeitslosenrate, die im Zeitraum 2013-2014 bei 22,6% gelegen hatte, um 1%. Die Arbeitslosigkeit betrifft hauptsächlich gering qualifizierte bildungsferne Personen; diese sind auch am meisten armutsgefährdet. Über 40% der erwerbstätigen Bevölkerung gelten im Jahr 2018 als arbeitslos oder unterbeschäftigt. Es müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neueinsteiger in den Arbeitsmarkt integrieren zu können.

Die afghanische Regierung hat Bemühungen zur Armutsreduktion gesetzt und unterstützt den Privatsektor weiterhin dabei, nachhaltige Jobs zu schaffen und das Wirtschaftswachstum voranzutreiben. Die Ausstellung von Gewerbeberechtigungen soll gesteigert, steuerliche Sanktionen abgeschafft und öffentlich-private Partnerschaften entwickelt werden; weitere Initiativen sind geplant.

1.5.3.1 Wirtschafts- und Versorgungslage der Provinz Paktia

In der Provinz Paktia werden verschiedene Projekte zum Ausbau der ANP-Infrastruktur implementiert, die im März 2019 beendet werden sollen. Der Machalgho Damm im Ahmadabad, dessen Bau im Jahr 2014 unterbrochen wurde, soll innerhalb der nächsten drei Jahre fertiggestellt werden. Der Damm soll 2.300 Hektar Land bewässern, 800 Kilowatt Elektrizität generieren und 900 Familien mit Trinkwasser versorgen. Auch soll mit dem Bau des Narai Khwli Damm in Ahmadkhelo Distrikt bald begonnen werden.

Paktia zählte im November 2017 zu den Opium-freien Provinzen Afghanistans.

1.5.3.2 Wirtschafts- und Versorgungslage der Stadt Mazar-e Sharif

Mazar-e Sharif ist ein Wirtschafts- und Verkehrsknotenpunkt in Nordafghanistan. Die Region entwickelt sich wirtschaftlich gut. Es entstehen neue Arbeitsplätze, Firmen siedeln sich an und auch der Dienstleistungsbereich wächst. Die Infrastruktur ist jedoch noch unzureichend und behindert die weitere Entwicklung der Region. In Mazar-e Sharif besteht laut EASO grundsätzlich die Möglichkeit, sicheren Wohnraum zu mieten. Als Alternative dazu stehen ferner günstige Unterkünfte in "Teehäusern" zur Verfügung. Generell besteht in Mazar-e Sharif laut EASO, trotz der im Umland herrschenden Dürre, keinerlei Lebensmittelknappheit. In Mazar-e Sharif haben die meisten Leute laut EASO Zugang zu erschlossenen Wasserquellen sowie auch zu besseren Sanitäreinrichtungen. Schulische Einrichtungen sind in Mazar-e Sharif vorhanden.

1.5.4 Medizinische Versorgung

Medizinische Versorgung ist in Afghanistan insbesondere in größeren Städten wie etwa auch in Mazar-e Sharif sowohl in staatlichen als auch privaten Krankenhäusern verfügbar. In Mazar-e Sharif zählt dazu das Alemi Krankenhaus. Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände - die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden - sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Spezifische Medikamente sind grundsätzlich verfügbar.

1.5.5 Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34,1 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht.

Schätzungen zufolge, sind: 40% Paschtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara, 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht. Diese weiteren in der Verfassung genannten Sprachen sind Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.

Ethnische Paschtunen sind die größte Ethnie Afghanistans. Sie sprechen Paschtu/Pasht. Die Paschtunen sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 44% in der Afghan National Army (ANA) und der Afghan National Police (ANP) repräsentiert.

Paschtunen siedeln in einem halbmondförmigen Gebiet, das sich von Nordwestafghanistan über den gesamten Süden und die Gebiete östlich von Kabul bis in den Nordwesten Pakistans erstreckt. Kleinere Gruppen sind über das gesamte Land verstreut, auch im Norden des Landes, wo Paschtunen Ende des 19. Jahrhunderts speziell angesiedelt wurden, und sich seitdem auch selbst angesiedelt haben.

Grundlage des paschtunischen Selbstverständnisses sind ihre genealogischen Überlieferungen und die darauf beruhende Stammesstruktur. Eng mit der Stammesstruktur verbunden ist ein komplexes System von Wertvorstellungen und Verhaltensrichtlinien, die häufig unter dem Namen Pashtunwali zusammengefasst werden und die besagen, dass es für einen Paschtunen nicht ausreicht, Paschtu zu sprechen, sondern dass man auch die Regeln dieses Ehren- und Verhaltenskodex befolgen muss. Die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stammlinienverband bedeutet viele Verpflichtungen, aber auch Rechte, weshalb sich solche Verbände als Solidaritätsgruppen verstehen lassen.

1.5.6 Religion

Etwa 99,7% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon zwischen 84,7 und 89,7% Sunniten,wie es auch der BF ist.

1.5.7 Rückkehrer

In der Zeit von 2012 bis 2017 sind 1.821.011 Personen nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei der Großteil der Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran kommen. Bis Juli 2017 kehrten aus Europa und der Türkei 41.803 Personen nach Afghanistan zurück. In der Provinz Balkh ließen sich von den insgesamt ca. 1,8 Millionen Rückkehrer/innen in der Zeit von 2012 bis 2017 109.845 Personen nieder.

Aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen besteht auch für zurückkehrende Flüchtlinge das Risiko, in die Armut abzurutschen. Sowohl das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations World Food Programme) als auch andere UN-Organisationen arbeiten mit der afghanischen Regierung zusammen, um die Kapazität humanitärer Hilfe zu verstärken, rasch Unterkünfte zur Verfügung zu stellen und Hygiene- und Nahrungsbedürfnisse zu stillen.

Die afghanische Regierung kooperierte mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung vulnerable Personen zu unterstützen, einschließlich Rückkehrer/innen aus Pakistan und dem Iran, bleibt begrenzt und ist weiterhin auf die Hilfe der internationalen Gemeinschaft angewiesen. Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen.

Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig (BFA Staatendokumentation 4.2018). Außerdem erhalten Rückkehrer/innen Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) (z. B. IPSO und AMASO). Nichtsdestotrotz scheint das Sozialkapital die wichtigste Ressource zu sein, die Rückkehrer/innen zur Verfügung steht, da keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer existieren und familiäre Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrer/innen daher als die zuverlässigste und sicherste Möglichkeit erachtet werden. So kehrt der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Für jene, die diese Möglichkeit nicht haben sollten, stellen die Regierung und IOM eine temporäre Unterkunft zur Verfügung. Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer/innen und IDPs wurden von unterschiedlichen afghanischen Behörden, dem Ministerium für Flüchtlinge und Repatriierung (MoRR) und internationalen Organisationen geschaffen und sind im Dezember 2016 in Kraft getreten. Diese Rahmenbedingungen gelten sowohl für Rückkehrer/innen aus der Region (Iran und Pakistan), als auch für jene, die aus Europa zurückkommen oder IDPs sind. Soweit dies möglich ist, sieht dieser mehrdimensionale Ansatz der Integration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der "whole of community" vor. Demnach sollen Unterstützungen nicht nur Einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen die Grundstücksvergabe als entscheidend für den Erfolg anhaltender Lösungen. Hinsichtlich der Grundstücksvergabe wird es als besonders wichtig erachtet, das derzeitige Gesetz zu ändern, da es als anfällig für Korruption und Missmanagement gilt. Auch wenn nicht bekannt ist, wie viele Rückkehrer/innen aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben - und zu welchen Bedingungen - sehen Experten dies als möglichen Anreiz für jene Menschen, die Afghanistan schon vor langer Zeit verlassen haben und deren Zukunftsplanung von der Entscheidung europäischer Staaten über ihre Abschiebungen abhängig ist.

Die Großfamilie ist für Zurückkehrende die zentrale soziale Institution in Afghanistan und bildet das wichtigste soziale Sicherheitsnetz der Afghanen. Alle Familienmitglieder sind Teil des familiären Netzes. Die Großfamilie trägt zu Schutz, Betreuung und Versorgung ihrer Mitglieder bei. Sie bildet auch eine wirtschaftliche Einheit; die Männer der Familie sind verpflichtet, die Mitglieder der Großfamilie zu unterstützen und die Familie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren. Auslandsafghanen pflegen zumeist enge Kontakte mit ihren Verwandten in Afghanistan. Quellen zufolge verlieren nur sehr wenige Afghanen in Europa den Kontakt zu ihrer Familie. Die Qualität des Kontakts mit der Familie hängt möglicherweise auch davon ab, wie lange die betreffende Person im Ausland war bzw. wie lange sie tatsächlich in Afghanistan lebte, bevor sie nach Europa migrierte. Der Faktor geographische Nähe verliert durch technologische Entwicklungen sogar an Wichtigkeit. Der Besitz von Mobiltelefonen ist mittlerweile "universell" geworden und digitale Kommunikation wird eine zunehmende Selbstverständlichkeit, vor allem in den Städten. Ein fehlendes familiäres Netzwerk stellt eine Herausforderung für die Reintegration von Migrant/innen in Afghanistan dar. Quellen zufolge haben aber alleinstehende afghanische Männer, egal ob sie sich kürzer oder länger außerhalb der Landesgrenzen aufhielten, sehr wahrscheinlich eine Familie in Afghanistan, zu der sie zurückkehren können. Eine Ausnahme stellen möglicherweise jene Fälle dar, deren familiäre Netze in den Nachbarstaaten Iran oder Pakistan liegen. Quellen zufolge halten Familien in Afghanistan in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren.

Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere, wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen "professionellen" Netzwerken (Kolleg/innen, Kommilitonen etc.) sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind einige Rückkehrer/innen auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer/innen dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer/innen besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden.

1.5.8 Terroristische und aufständische Gruppierungen

Terroristische und aufständische Gruppierungen stellen Afghanistan und die Koalitionskräfte grundsätzlich vor erhebliche Herausforderungen. Derzeit sind rund 20 terroristische Organisationen in Afghanistan zu finden: das von außen unterstützte Haqqani-Netzwerk stellt nach wie vor die größte Gefährdung für afghanische und internationale Kräfte dar. Die Verflechtung von Taliban und Haqqani-Netzwerk ist so intensiv, dass diese beiden Gruppierungen als Fraktionen ein und derselben Gruppe angesehen werden. Wenn auch die Taliban öffentlich verkündet haben, sie würden zivile Opfer einschränken, so führt das Haqqani-Netzwerk auch weiterhin Angriffe in bevölkerungsreichen Gegenden aus. Schätzungen von SIGAR zufolge kontrollierten im Oktober 2017 und im Jänner 2018 die Taliban 14% der Distrikte Afghanistans. Die Taliban selbst verlautbarten im März 2017, dass sie beinahe 10% der afghanischen Distrikte kontrollierten.

Die Taliban haben eine Vielzahl von Personen ins Visier genommen, die sich ihrer Meinung nach "fehlverhalten", unter anderem Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte jeden Ranges. Die Taliban bieten diesen Personen grundsätzlich die Möglichkeit an, Reue und den Willen zur Wiedergutmachung zu zeigen. Die Chance zu bereuen, ist ein wesentlicher Aspekt der Einschüchterungstaktik der Taliban und dahinter steht hauptsächlich der folgende Gedanke: das Funktionieren der Kabuler Regierung ohne übermäßiges Blutvergießen zu unterminieren und Personen durch Kooperationen an die Taliban zu binden. Diese Personen können einer "Verurteilung" durch die Taliban entgehen, indem sie ihre vermeintlich "feindseligen" Tätigkeiten nach einer Verwarnung einstellen.

1.5.9 Blutrache und Blutfehde

Gemäß althergebrachter Verhaltens- und Ehrvorstellungen töten bei einer Blutfehde die Mitglieder einer Familie als Vergeltungsakte die Mitglieder einer anderen Familie. In Afghanistan sind Blutfehden in erster Linie eine Tradition der Paschtunen und im paschtunischen Gewohnheitsrechtssystem Paschtunwali verwurzelt, kommen jedoch Berichten zufolge auch unter anderen ethnischen Gruppen vor. Blutfehden können durch Morde ausgelöst werden, aber auch durch andere Taten wie die Zufügung dauerhafter, ernsthafter Verletzungen, Entführung oder Vergewaltigung verheirateter Frauen oder ungelöster Streitigkeiten um Land, Zugang zu Wasser oder Eigentum. Blutfehden können zu langanhaltenden Kreisläufen aus Gewalt und Vergeltung führen. Nach dem Paschtunwali muss die Rache sich grundsätzlich gegen den Täter selbst richten, unter bestimmten Umständen kann aber auch der Bruder des Täters oder ein anderer Verwandter, der aus der väterlichen Linie stammt, zum Ziel der Rache werden. Im Allgemeinen werden Berichten zufolge Racheakte nicht an Frauen und Kindern verübt, doch soll der Brauch baad, eine stammesübliche Form der Streitbeilegung, in der die Familie des Täters der Familie, der Unrecht geschah, ein Mädchen zur Heirat anbietet, vor allem im ländlichen Raum praktiziert werden, um eine Blutfehde beizulegen. Wenn die Familie, der Unrecht geschah, nicht in der Lage ist, sich zu rächen, dann kann, wie aus Berichten hervorgeht, die Blutfehde erliegen, bis die Familie des Opfers sich für fähig hält, Racheakte auszuüben. Daher kann sich die Rache Jahre oder sogar Generationen nach dem eigentlichen Vergehen ereignen. Die Bestrafung des Täters im Rahmen des formalen Rechtssystems schließt gewaltsame Racheakte durch die Familie des Opfers nicht notwendigerweise aus. Sofern die Blutfehde nicht durch eine Einigung mit Hilfe traditioneller Streitbeilegungsmechanismen beendet wurde, kann Berichten zufolge davon ausgegangen werden, dass die Familie des Opfers auch dann noch Rache gegen den Täter verüben wird, wenn dieser seine offizielle Strafe bereits verbüßt hat.

2. Beweiswürdigung:

2.1 Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers

Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit, Herkunft, ethnischen und religiösen Zugehörigkeit sowie zu den Aufenthaltsorten, Familienangehörigen, Sprachkenntnissen, der Schulbildung und Berufserfahrung des BF beruhen auf dessen plausiblen, im Wesentlichen gleichbleibenden Angaben im Laufe des Asylverfahrens. Die Angaben dienen zur Identifizierung im Asylverfahren.

An dieser Stelle sei angemerkt, dass es im gesamten Akt immer wieder unterschiedliche Angaben zur Herkunftsprovinz des BF gibt, welche jedoch auf Übersetzungsfehler zurückzuführen sein dürften. Nachdem der BF im gesamten Verfahren durchgängig glaubhaft angab, aus dem Distrikt XXXX , der sich in der Provinz Paktia und nicht in der Provinz Paktika befindet, geht das BVwG davon aus, dass die Herkunftsprovinz des BF die Provinz Paktia ist.

2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers

Der BF brachte im Wesentlichen verkürzt als Fluchtgründe vor, dass er einerseits von den Taliban in seiner Herkunftsprovinz aufgrund seiner Tätigkeit als Lokalpolizist bedroht werde. Zudem sei er unschuldigerweise in einen Kreislauf der Blutrache gelangt, da er in Kabul Zeuge eines Vorfalles gewesen sei, bei welchem sein Freund eine Person verletzt habe, um Blutrache zu üben. Schließlich laufe er auch Gefahr, von staatlicher Seite gesucht zu werden, weil er in den letztgenannten Vorfall verwickelt gewesen sei. Schließlich sei sein Bruder als Soldat bei der Afghanischen Nationalarmee tätig, weswegen der BF auch ins Visier der Taliban geraten sei.

Bereits die belangte Behörde wertete das Vorbringen des BF betreffend eine asylrelevante Verfolgungsgefahr aufgrund vager und unplausibler Angaben sowie aufgrund von Widersprüchen, Ungereimtheiten und Lücken in der Abfolge der vorgebrachten Ereignisse als unglaubhaft. Im Laufe des Rechtsmittelverfahrens verstärkte sich der Eindruck der Unglaubwürdigkeit des BF noch, da sich im Rahmen der mündlichen Verhandlung weitere Ungereimtheiten im Vorbringen ergaben, welche der BF nicht schlüssig zu erklären vermochte.

Zu den einzelnen Fluchtgründen:

2.2.1 Bedrohung durch die Taliban aufgrund der Tätigkeit als Lokalpolizist

Der BF gab zu seinen Fluchtgründen befragt bei seiner Erstbefragung am 11.10.2015 Folgendes an: "Da ich für die Regierung gearbeitet habe, konnte ich nicht mehr nach Hause fahren, weil dort meine 2 Cousins von den Taliban ermordet wurden, da sie genauso wie ich als Soldat bei der Regierung gedient haben." (vgl. AS 11).

Gemäß § 19 Abs. 1 AsylG 2005 dient die Erstbefragung zwar "insbesondere" der Ermittlung der Identität und der Reiseroute eines Fremden und hat sich nicht auf die "näheren" Fluchtgründe zu beziehen (vgl. hierzu auch VfGH 27.06.2012, U 98/12), ein Beweisverwertungsverbot ist damit jedoch nicht normiert; die Verwaltungsbehörde bzw. das BVwG können in ihrer Beweiswürdigung also durchaus - entgegen der Ansicht des BF - die Ergebnisse der Erstbefragung in ihre Beurteilung miteinbeziehen.

Es wird im vorliegenden Fall zwar nicht verkannt, dass sich die Erstbefragung des BF nicht in erster Linie auf seine Fluchtgründe bezog, und diese daher nur in aller Kürze angegeben und protokolliert wurden. Dennoch fällt auf, dass der BF im gesamten weiteren Verfahren nicht ein einziges Mal erwähnt, dass er Soldat gewesen sei, und dass er nicht habe in sein Heimatdorf zurückkehren können, weil bereits zwei seiner Cousins, die ebenfalls Soldaten gewesen seien, von den Taliban getötet worden seien. Darauf von der erkennenden Richterin bei der mündlichen Beschwerdeverhandlung angesprochen gab der BF an, dass der Dolmetscher damals ein Iraner gewesen sei, er selbst nur wenig Dari spreche, und er den Dolmetscher nicht verstanden habe. Es sei nur protokolliert worden, woher er stamme, und dass er aus Angst vor den Taliban geflüchtet sei (vgl. S 17 der Niederschrift der Beschwerdeverhandlung). Dem ist entgegen zu halten, dass beispielsweise der Fluchtweg des BF auch in seiner Erstbefragung in etwa gleichlautend protokolliert wurde, wie er diesen auch vor der belangten Behörde schilderte, was nicht dafürspricht, dass der Dolmetscher den BF nicht verstanden hat. Zudem ist in dieser Niederschrift der Erstbefragung ausdrücklich festgehalten, dass der es keine Verständigungsprobleme gab (vgl. AS 13).

Der BF schildert somit erstmals bei seiner Ersteinvernahme vor der belangten Behörde am 12.07.2017, dass er als lokaler Polizist tätig gewesen sei. Er habe das Dorf vor den Taliban verteidigt. Die Taliban hätten ihn bedroht, dass er mit seiner Arbeit aufhören solle. Er habe diese Drohungen nicht ernst genommen. Als er bei einer Hochzeit eines Freundes gewesen sei, seien die Taliban zu ihm nach Hause gekommen, hätten seine Mutter verletzt und nach ihm gefragt. Daraufhin habe seine Mutter ihm gesagt, dass er nicht mehr nach Hause kommen könne, weswegen der BF über Vermittlung eines Freundes nach Kabul gekommen sei (vgl. AS 239).

Diese Angaben sind, wie die belangte Behörde auch richtig ausführte, vage und unbestimmt und vermitteln nicht den Eindruck, dass der BF die geschilderten Vorfälle tatsächlich erlebte. Es ist nicht unplausibel, dass sich der BF der lokalen Polizei anschloss, die als eine Art Bürgerwehr ohne Uniform in seinem Heimatdorf tätig war. Er besaß eine eigene Kalaschnikow, der er hierfür benutzte (vgl. AS 241). Allein diese Tätigkeit per se bedingt noch nicht, dass der BF auch tatsächlich als Person ins Visier der Taliban geriet, und diese tatsächlich ein Interesse daran hätten, ihn als Person zu bedrohen. Hinsichtlich des Ausmaßes seiner Tätigkeiten für die lokale Polizei übersteigerte der BF diese bei der mündlichen Beschwerdeverhandlung vor dem BVwG insoweit, als er über Befragung seines Rechtsvertreters erstmal behauptete: "Ich war aktiv. Ich war bei jeder Operation dabei. Ich war bei Militäreinsätzen dabei, deshalb haben die Taliban sich auf mich fixiert" (vgl. S 16 der Niederschrift der Beschwerdeverhandlung)

Diese vorgebliche Fixierung der Taliban auf die Person des BF passt jedoch nicht damit zusammen, dass der BF selbst mehrfach angibt, dass er persönlich nie von den Taliban bedroht wurde, beispielsweise bei seiner Ersteinvernahme vor der belangten Behörde am 12.07.2017:

LA: Wurden Sie jemals persönlich von den Taliban bedroht?

VP: Nein. Wenn sie mich persönlich treffen, werden sie mich töten.

LA: Wurde Ihre Familie von den Taliban bedroht?

VP: Nein. Aber die Taliban haben meiner Familie gesagt, dass sie mich töten werden. (vgl. AS 241)

Auch vor dem BVwG führte er über Befragen der erkennenden Richterin in der mündlichen Beschwerdeverhandlung aus:

RI: Verstehe ich das richtig, Sie hatten außer dem einen Vorfall, bei welchen sie von den Taliban geschlagen wurden, nie persönlichen Kontakt mit den Taliban?

BF: Nein, sie haben ihre Leute geschickt, die haben mich ermahnt. Die Taliban sind aber ständig in meiner Heimatregion gewesen (vgl. S 14 der Niederschrift der Beschwerdeverhandlung).

Offensichtlich wurde dem BF im Laufe des Verfahrens die Unglaubhaftigkeit seines Vorbringens hinsichtlich einer Bedrohung durch die Taliban bewusst, so dass er bei der mündlichen Beschwerdeverhandlung sein diesbezügliches Vorbringen insoweit übersteigerte, als er erstmals vorbrachte, dass er von den Taliban ermahnt worden sei, indem ihm diese Leute geschickt hätten, die ihm mitgeteilt hätten, dass er seine Arbeit aufgeben solle. Falls er dies nicht tun sollte, werde er getötet. Er habe versucht diesen Boten zu verfolgen. Während der Verfolgung sei diese Person plötzlich verschwunden und mit dem Auto weggefahren. Er habe versucht, diese Person zu verfolgen, habe aber diese Person nicht mehr finden können. Diese Person sei plötzlich verschwunden (vgl. S 14f der Niederschrift der Beschwerdeverhandlung). Ganz abgesehen davon, dass es sich bei diesem Vorbringen, wie schon ausgeführt, um eine Übersteigerung handelt, ist es unglaubhaft und unplausibel. Es ist nicht nachvollziehb

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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