TE Vfgh Erkenntnis 1996/11/26 G205/96, G206/96

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Veröffentlicht am 26.11.1996
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Index

L3 Finanzrecht
L3400 Abgabenordnung

Norm

B-VG Art18 Abs1
Nö AbgabenO 1977 §198

Leitsatz

Verstoß des Ausschlusses der Hemmung der Einbringlichkeit einer Abgabe durch die Berufung in einer Abgabenordnung gegen die bundesverfassungsrechtlichen Vorschriften über den Rechtsschutz aufgrund einseitiger Belastung des Rechtsschutzsuchenden mit allen Folgen einer potentiell rechtswidrigen behördlichen Entscheidung

Spruch

§198 der Niederösterreichischen Abgabenordnung 1977, LGBl. 3400-0, wird als verfassungswidrig aufgehoben.

Die Aufhebung tritt mit Ablauf des 30. Juni 1997 in Kraft.

Frühere gesetzliche Bestimmungen treten nicht wieder in Wirksamkeit.

Der Niederösterreichische Landeshauptmann ist zur unverzüglichen Kundmachung dieser Aussprüche im Landesgesetzblatt verpflichtet.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Mit Bescheid der Niederösterreichischen Landesregierung vom 16. September 1994 (B2235/94) und vom 2. Oktober 1995 (B3520/95) wurden die Vorstellungen der zu B2235/94 und B3520/95 erstbeschwerdeführenden Gesellschaft gegen die Berufungsbescheide des Gemeinderates der Stadtgemeinde Fischamend betreffend Vorschreibung der Standortabgabe sowie betreffend Anträge auf Aufschiebung der Abgabeneinhebung gemäß §198 Niederösterreichische Abgabenordnung 1977, LGBl. 3400-0, (im folgenden: NÖ AO 1977), als unbegründet abgewiesen.

§198 NÖ AO 1977 lautet:

"Durch Einbringung einer Berufung wird die Wirksamkeit des angefochtenen Bescheides nicht gehemmt, insbesondere die Einhebung und zwangsweise Einbringung einer Abgabe nicht aufgehalten."

2. Aus Anlaß dieser Verfahren hat der Verfassungsgerichtshof mit Beschluß vom 28. Juni 1996, B2235/94 ua., von Amts wegen ein Verfahren zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des §198 NÖ AO 1977 eingeleitet.

Der Verfassungsgerichtshof hegte gegen §198 NÖ AO 1977 die gleichen verfassungsrechtlichen Bedenken, die im Verfahren VfSlg. 11196/1986 zur Aufhebung des mit §198 NÖ AO 1977 wörtlich übereinstimmenden §254 Bundesabgabenordnung führten. Er entnahm dem rechtsstaatlichen Prinzip, daß ein System von Rechtsschutzeinrichtungen die Rechtmäßigkeit von Staatsakten gewährleisten muß, so zwar, daß diese Rechtsschutzeinrichtungen ihrer Zweckbestimmung nach ein bestimmtes Mindestmaß an faktischer Effizienz für den Rechtsschutzwerber aufweisen müssen und dieser daher bis zur Erledigung seines Rechtsschutzgesuches nicht einseitig mit den Folgen einer potentiell rechtswidrigen behördlichen Entscheidung belastet werden darf.

Der Gerichtshof nahm an, daß §198 NÖ AO 1977 eine derartige Belastung bewirken dürfte, zumal die NÖ AO 1977 auch keine andere Bestimmung über die Möglichkeit der Aussetzung der Einhebung einer Abgabe, deren Höhe von der Erledigung einer Berufung abhängt, aufweist, und die bloße Aussetzung der Einbringung allfälliger Abgaben nach §179 NÖ AO 1977 die gebotene Berücksichtigung der Interessenposition des Abgabenschuldners als Rechtsmittelwerber nicht ermöglicht.

3. Die Niederösterreichische Landesregierung teilte in einem Schriftsatz vom 8. Oktober 1996 mit, daß sie im Hinblick auf das Erkenntnis VfSlg. 11196/1986 "von der Abgabe einer inhaltlichen Stellungnahme Abstand" nimmt und beantragte für den Fall der Aufhebung des §198 NÖ AO 1977 für die Durchführung der legistischen Vorkehrungen eine Frist von sechs Monaten.

II. 1. Die Prozeßvoraussetzungen des eingeleiteten Gesetzesprüfungsverfahrens sind gegeben. Der Verfassungsgerichtshof hat nämlich bei seiner Kontrolle der bei ihm angefochtenen Bescheide betreffend Anträge auf Aufschiebung der Abgabeneinhebung selbst §198 NÖ AO 1977 anzuwenden.

2. Auch die verfassungsrechtlichen Bedenken erweisen sich als begründet. Der Verfassungsgerichtshof bleibt auf dem Standpunkt, den er in seinem Erkenntnis VfSlg. 11196/1986 (sowie in weiterer Folge zu ähnlichen Regelungen in VfSlg. 13305/1992 und VfGH 1.12.1995, G1306/95) eingenommen hat. §198 NÖ AO 1977, der den Rechtsschutzsuchenden generell einseitig mit allen Folgen einer potentiell rechtswidrigen behördlichen Entscheidung so lange belastet, bis sein Rechtsschutzgesuch endgültig erledigt ist, widerspricht den bundesverfassungsrechtlichen Vorschriften über den Rechtsschutz insgesamt.

3. §198 NÖ AO 1977 war daher als verfassungswidrig aufzuheben.

Die Bestimmung einer Frist zur Durchführung legistischer Vorkehrungen für das Außerkrafttreten der aufgehobenen Gesetzesstelle gründet sich auf Art140 Abs5 dritter und vierter Satz B-VG.

Die Verpflichtung des Niederösterreichischen Landeshauptmannes zur unverzüglichen Kundmachung der Aussprüche erfließt aus Art140 Abs5 zweiter Satz B-VG.

Diese Entscheidung konnte gemäß 19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne vorangegangene öffentliche mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.

Schlagworte

Rechtsstaatsprinzip, Rechtsschutz, Finanzverfahren, Einhebung (Abgabe), Vollstreckbarkeit (Finanzverfahren), Wirkung aufschiebende

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1996:G205.1996

Dokumentnummer

JFT_10038874_96G00205_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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