Entscheidungsdatum
25.04.2019Norm
AVG §37Spruch
L529 2217593-1/5E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. M. EGGINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , vertreten RA Dr. Gerhard MORY, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.11.2018, Zl. XXXX , beschlossen:
A) In Erledigung der Beschwerde wird der bekämpfte Bescheid behoben
und die Angelegenheit gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG zur Erlassung eines neuen Bescheides an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
BEGRÜNDUNG:
I. Verfahrenshergang
I.1. Der Beschwerdeführer (nachfolgend auch "BF") ist türkischer Staatsangehöriger. Mit im Spruch genannten Bescheid der belangten Behörde (nachfolgend auch "bB") wurde über den BF gemäß § 67 Abs. 1 und 2 FPG ein für die Dauer von 6 Jahren befristetes Aufenthaltsverbot erlassen (Spruchpunkt I.), gemäß § 70 Abs. 3 FPG dem BF ein Durchsetzungsaufschub nicht erteilt (Spruchpunkt II.) und gemäß § 18 Abs. 3 BFA-VG einer Beschwerde gegen dieses Aufenthaltsverbot die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt III.).
I.2. Am 11.01.2019 wurden dem BF über Auftrag des BFA, RD OÖ, von Organen der PI XXXX seine beiden türkischen Reisepässe XXXX abgenommen und sichergestellt.
I.3. Mit Schriftsatz vom 25.01.2019 erstattete die rechtsfreundliche Vertretung des BF 1) Stellungnahme zur Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme der bB vom 10.08.2018, 2) Wiedereinsetzungsantrag gemäß § 71 AVG hinsichtlich des Parteiengehörs zum behördlichen Schreiben vom 10.08.2018, 3) Beschwerde gegen die Spruchpunkte I., II., und III. des Bescheides vom 06.11.2018, 4) Wiedereinsetzungsantrag gemäß § 33 VwGVG betreffend Versäumung der Frist zur Erhebung einer Beschwerde gegen den "Aufenthaltsverbotsbescheid"; gleichzeitig wurde angeregt, 5) das Aufenthaltsverbot gemäß § 68 Abs. 2 AVG aufzuheben.
Mit ergänzendem Schriftsatz vom 25.03.2019 wurde die Aufhebung der Anordnung der Sicherstellung und die Ausfolgung des Reisepasses beantragt.
I.4. Mit Bescheid des BFA, RD OÖ, Außenstelle Linz, vom 05.04.2019 wurde dem Antrag des BF auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Versäumung der Beschwerdefrist Gemäß § 33 Abs. 1 VwGVG stattgegeben.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
II.1. Feststellungen:
II.1.1. Der BF ist jedenfalls seit 19.03.2001 im Bundesgebiet gemeldet. Er ist verheiratet und wohnt mit der Ehefrau und den Kindern XXXX , XXXX geb., XXXX , XXXX geb., XXXX , XXXX geb. und XXXX , XXXX geb., in einer Wohnung in XXXX Die Identität des BF steht fest.
II.1.2. Mit Schreiben vom 10.08.2018 richtete die bB ein Schreiben "Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme" an den BF. Darin wurde als Ergebnis der Beweisaufnahme im Wesentlichen aufgelistet, dass über den BF 6 rechtskräftige Verurteilungen wegen diverser Delikte (§§ 269, 15, 297 StGB; § 83 StGB; § 50 WaffG; §§ 83, 297, 88, 288 StGB; § 83 StGB; § 60 MarkenschutzG) im Strafregister aufscheinen, sowie 13 Anzeigen wegen verschiedener Delikte vorliegen.
Angeschlossen wurde ein Fragenkatalog (bestehend aus 24 Fragen) und der BF um Beantwortung, sowie um Vorlage von Urkunden, ersucht.
Ein Antwortschreiben des BF auf dieses Ersuchen findet sich im vorliegenden Verwaltungsakt nicht.
II.1.3. Zum Privat- und Familienleben des BF stellte die bB fest:
Lt. ZMR sind Sie seit 19.03.2001 mit Hauptwohnsitz in Österreich gemeldet. Lt. ZMR sind Sie verheiratet und haben 4 Kinder, Sie wohnen gemeinsam mit Ihrer Familie in XXXX .
Darüber hinaus konnte kein Familienleben in Österreich festgestellt werden. Betreffend Ihre Person konnte kein exzeptionelles Privatleben festgestellt werden. Es konnte nicht festgestellt werden, dass Sie nachhaltig am österreichischen Arbeitsmarkt Fuß fassen konnten. Es konnte nicht festgestellt werden, dass durch die ggstl. Maßnahme ungerechtfertigt in ihr Recht auf Privat- und Familienleben eingegriffen wird. Sie sind strafrechtlich bescholten.
II.1.4. Zu den Gründen für die Erlassung des Aufenthaltsverbots stellte die bB fest:
Sie missachten die österreichische und europäische Rechtsordnung. Sie zeigen kein Interesse, sich an gesetzliche Bestimmungen des Verwaltungs- oder Strafrechtes zu halten. Sie zeigen kein Interesse, an den behördlichen Verfahren mitzuwirken. Sie stellen aufgrund Ihres strafbaren Verhaltens in Österreich eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit dar.
II.1.5. Das BFA sammelte offenbar Mitteilungen anderer Behörden bzw. von zur Strafverfolgung berufenen Organen und forderte auch Urteile zu den angeführten Verurteilungen an.
Zielführende Ermittlungen zum Familienleben des BF und zu seinem Privatleben sind aus den vorliegenden Verwaltungsakten nicht erkennbar. Die Ermittlungen zu den den strafrechtlichen Verurteilungen zugrunde liegenden strafbaren Handlungen sind mangelhaft. Ermittlungen zu verwaltungsstrafrechtlichen Vormerkungen des BF fehlen völlig, gleiches gilt für Ermittlungen im Hinblick auf § 38a SPG sowie Ermittlungen zur gewerberechtlichen Zuverlässigkeit bei der Gewerbebehörde.
Ohne den entscheidungsrelevanten Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, leitete die bB aus der Nichtbeantwortung der "Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme" vom 10.08.2018 großteils die unter II.1.3. und II.1.4. angeführten Feststellungen ab. Ohne entsprechende Ermittlungsschritte erweisen sich diese aber insoweit als Spekulation. Warum die belangte Behörde die ursprünglich als notwendig erachteten Fragen (vgl. den Fragenkatalog von 24 Fragen im Schreiben vom 10.08.2018) später im Verfahren als nicht mehr notwendig erachtete, führte die bB nicht aus.
II.1.6. Der entscheidungserhebliche Sachverhalt steht nicht fest; das Ermittlungsverfahren ist grob mangelhaft. Eine Sanierung binnen Wochenfrist ist nicht durchführbar.
II.1.7. Dem Antrag des BF auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand hinsichtlich der Versäumung der Beschwerdefrist wurde mit Bescheid des BFA, RD OÖ, Außenstelle Linz, vom 05.04.2019 gemäß § 33 Abs. 1 VwGVG stattgegeben. Die Beschwerde wurde gleichzeitig mit dem Antrag auf Wiedereinsetzung eingebracht und erweist sich demnach als rechtzeitig.
II.2. Beweiswürdigung:
ie Feststellungen zum maßgeblichen Sachverhalt ergeben sich aus dem Verwaltungsakt, dem Verfahren vor der belangten Behörde und der Beschwerde.
Die Feststellungen zum maßgeblichen Sachverhalt ergeben sich aus dem Verwaltungsakt und der Beschwerde.
II.3. Rechtliche Beurteilung
Zu A)
II.3.1. Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist.
Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG das Verwaltungsgericht dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Gemäß § 28 Abs. 3 hat, wenn die Voraussetzungen des Abs. 2 leg. cit nicht vorliegen, das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hierbei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgeht.
Gemäß § 31 Abs. 1 VwGVG erfolgen die Entscheidungen und Anordnungen durch Beschluss, soweit nicht ein Erkenntnis zu fällen ist.
II.3.2. Zur Zurückverweisung gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG
Gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen, wenn die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen hat.
Das Modell der Aufhebung des Bescheids und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, setzt im Unterschied dazu aber nicht auch die Notwendigkeit der Durchführung oder Wiederholung einer mündlichen Verhandlung voraus. Voraussetzung für eine Aufhebung und Zurückverweisung ist allgemein (nur) das Fehlen behördlicher Ermittlungsschritte. Sonstige Mängel, abseits jener der Sachverhaltsfeststellung, legitimieren nicht zur Behebung auf Grundlage von § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG (vgl. VwGH 19.11.2009, 2008/07/0167: "Tatsachenbereich") (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren (2013), Anm. 11 zu § 28 VwGVG).
Angesichts des in § 28 VwGVG insgesamt verankerten Systems stellt die nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG 2014 bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit eine Ausnahme von der grundsätzlichen meritorischen Entscheidungszuständigkeit der Verwaltungsgerichte dar und soll von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen bzw. besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden.
Eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen wird daher im Lichte der oa. Ausführungen insbesondere dann in Betracht kommen,
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wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat,
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wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder
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bloß ansatzweise ermittelt hat.
-
Gleiches gilt, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden (VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063).
Ergänzend zu obigen Ausführungen ist aber auch die jüngste Judikatur des EuGH zu erwähnen, der in seinem Urteil vom 14.6.2017, C-685 EU:C:2017:452 sich ua. mit der Frage, ob nationale Bestimmungen, welche dem Verwaltungsgericht die amtswegige Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts (anstelle der Behörde) - bei entsprechender Untätigkeit der Behörde - der in der europarechtlichen Judikatur geforderten Objektivität bzw. Unparteilichkeit und Unvoreingenommenheit des Gerichts entgegenstehen.
Nach seiner Ansicht können die Gerichte nach den nationalen Verfahrensregeln zwar verpflichtet sein, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Vorlage solcher Beweise zu fördern, doch können sie nicht verpflichtet sein, anstelle der genannten Behörden die Rechtfertigungsgründe vorzubringen, die nach dem Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C 390/12, EU:C:2014:281) diese Behörden vorzubringen haben. Werden diese Rechtfertigungsgründe wegen der Abwesenheit oder der Passivität dieser Behörden nicht vorgebracht, müssen die nationalen Gerichte alle Konsequenzen ziehen dürfen, die sich aus einem solchen Mangel ergeben.
Der EuGH führte weiter aus, dass die Art. 49 und 56 AEUV, wie sie insbesondere im Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C 390/12, EU:C:2014:281), ausgelegt wurden, im Licht des Art. 47 der Charta dahin zu interpretieren sind, dass sie einer nationalen Verfahrensregelung, nach der in Verwaltungsverfahren das Gericht, bei der Prüfung des maßgeblichen Sachverhalts die Umstände der bei ihm anhängigen Rechtssache von Amts wegen zu ermitteln hat, nicht entgegenstehen, sofern diese Regelung nicht zur Folge hat, dass das Gericht an die Stelle der zuständigen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats zu treten hat, denen es obliegt, die Beweise vorzulegen, die erforderlich sind, damit das Gericht eine entsprechende Prüfung durchführen kann. Hinsichtlich des Rechts nach Art. 47 Abs. 2 der Charta auf ein unabhängiges und unparteiisches Gericht umfasst der Begriff der "Unabhängigkeit", die der Aufgabe des Richters innewohnt, nämlich zwei Aspekte. Der erste, externe, Aspekt setzt voraus, dass die Stelle vor Interventionen oder Druck von außen geschützt ist, die die Unabhängigkeit des Urteilens ihrer Mitglieder im Hinblick auf die ihnen unterbreiteten Rechtsstreite gefährden könnten (Urteil vom 9. Oktober 2014, TDC, C-222/13, EU:C:2014:2265, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). Der zweite, interne, Aspekt steht mit dem Begriff der "Unparteilichkeit" in Zusammenhang und bezieht sich darauf, dass hinsichtlich der Parteien des Rechtsstreits und ihren jeweiligen Interessen an dessen Gegenstand ein gleicher Abstand gewahrt wird. Dieser Aspekt verlangt, dass Sachlichkeit obwaltet und neben der strikten Anwendung der Rechtsnormen keinerlei Interesse am Ausgang des Rechtsstreits besteht (Urteil vom 9. Oktober 2014, TDC, C-222/13, EU:C:2014:2265, Rn. 31 und die dort angeführte Rechtsprechung).
Was das Zusammenspiel zwischen der den nationalen Gerichten nach dem nationalen Recht obliegenden Pflicht, in den bei ihnen anhängigen Rechtssachen den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln, und dem Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C-390/12, EU:C:2014:281), anbelangt, ist in den Rn. 50 bis 52 des vorliegenden Urteils darauf hingewiesen worden, dass die nationalen Gerichte nach dem Unionsrecht eine Gesamtwürdigung der Umstände, unter denen eine restriktive Regelung erlassen worden ist und durchgeführt wird, auf der Grundlage der Beweise vornehmen müssen, die die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats vorgelegt haben.
Diese Gerichte können nach den nationalen Verfahrensregeln zwar verpflichtet sein, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Vorlage solcher Beweise zu fördern, doch können sie - wie die Generalanwältin in den Nrn. 51 bis 56 und 68 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat - nicht verpflichtet sein, anstelle der genannten Behörden die Rechtfertigungsgründe vorzubringen, die nach dem Urteil vom 30. April 2014, Pfleger u. a. (C-390/12, EU:C:2014:281), diese Behörden vorzubringen haben. Werden diese Rechtfertigungsgründe wegen der Abwesenheit oder der Passivität dieser Behörden nicht vorgebracht, müssen die nationalen Gerichte alle Konsequenzen ziehen dürfen, die sich aus einem solchen Mangel ergeben.
Die Ausführungen des EuGH beziehen sich zwar auf ein Verwaltungsstrafverfahren, sie sind nach ho. Ansicht in ihren sich daraus ergebenden Grundsätzen zu der Rolle des Verwaltungsgerichtes im Verhältnis zu jener der ermittelnden Behörde jedoch auch im gegenständlichen Fall anwendbar.
Im Lichte einer GRC-konformen Interpretation der verfassungsrechtlichen Bestimmungen, wonach das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden hat, finden diese demnach jedenfalls dort ihre Grenze, wenn das Gericht an die Stelle der zuständigen belangten Behörde zu treten hätte, der es eigentlich obliegt, dem Gericht die Beweise, iSd Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts, vorzulegen. Wird diese Grenze überschritten, ist das Gericht ermächtigt - wenn nicht sogar iS obiger, vom EuGH aufgezeigter Grundsätze verpflichtet - eine kassatorische Entscheidung iSd § 28 Abs. 3 VwGVG zu treffen.
II.3.3. Zur Anwendung des § 28 Abs. 3 VwGVG im gegenständlichen Fall:
II.3.3.1. Soweit des BFA anführt, dass der BF seit 19.03.2001 im Bundesgebiet gemeldet ist, ist dieses Datum zwar richtig, die Feststellungen zum Wohnsitz des BF in Österreich aber unzureichend. Es fehlen Ermittlungen zu früheren Wohnsitzen.
Das BFA führt weiters an, dass der BF über einen unbefristeten Aufenthaltstitel verfügt, ohne diesen aber konkret zu bezeichnen.
Die im Strafregister der Republik Österreich aufscheinenden Verurteilungen sind zwar richtig angeführt, die dazu geführten Erhebungen aber unzureichend. Bei den von der bB angeforderten Urteilen handelt es sich zum Teil um gekürzte Urteilsausfertigungen, zum Teil auch um Abwesenheitsurteile, aus denen jedoch nicht alle relevanten - hier aber wesentlichen - Tatumstände hervorgehen. Beispielsweise fehlt zumeist der Alkoholisierungsgrad, besondere Bedeutung hätte dieser Umstand bei der Verurteilung nach dem Waffengesetz.
Das BFA traf, wie dargelegt, in Bezug auf das dem BF zur Last gelegte und den Grund für die Erlassung eines Aufenthaltsverbotes bildende Fehlverhalten nur unzureichende Feststellungen. Eine derartige "Kurzdarstellung" von Verurteilungen reicht allerdings für eine nachvollziehbare Gefährdungsprognose nicht aus. Vielmehr wären konkrete Feststellungen zu den einzelnen Straftaten des BF erforderlich gewesen (vgl. VwGH v. 24.01.2019, RA 2018/21/0234-6).
Bei der Erstellung der für jedes Aufenthaltsverbot zu treffenden Gefährdungsprognose ist das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die jeweils anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache der Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen. Bei der nach § 67 Abs. 1 FPG zu erstellenden Gefährdungsprognose geht schon aus dem Gesetzeswortlaut klar hervor, dass auf das "persönliche Verhalten" des Fremden abzustellen ist und strafrechtliche Verurteilungen allein nicht ohne weiteres ein Aufenthaltsverbot begründen können (vgl. etwa VwGH 19.5.2015, Ra 2014/21/0057, mwN, oder VwGH 15.3.2018, Ra 2018/21/0007, Rn. 6).
Soweit das BFA die gegen den BF erstatteten Anzeigen - die nicht zu einer Verurteilung geführt haben - auflistet, ist unklar, welchen Beweiswert die Behörde diesen Dokumenten zumisst. Falsch ist in diesem Zusammenhang jedenfalls, dass der BF nach § 943 Waffengesetz angezeigt wurde - eine solche Norm ist nicht existent.
Soweit das BFA die Feststellung trifft, der BF zeige kein Interesse an den gesetzlichen Bestimmungen des Verwaltungsrechtes, so ist diese Annahme spekulativ, fehlen doch entsprechende Ermittlungen bei der zuständigen Behörde, insbesondere hinsichtlich solcher über gegen den BF verhängte Verwaltungsstrafen. Gleichfalls fehlen ausreichende Ermittlungen bei der Gewerbebehörde hinsichtlich der gewerberechtlichen Zuverlässigkeit des BF sowie solche Ermittlungen im Hinblick auf § 38a SPG.
II.3.3.2. Ohne den BF (weder mit einfacher Ladung, noch mit Ladungsbeschluss) bzw. die Ehegattin oder die gemeinsamen Kinder einzuvernehmen bzw. zu befragen (Einvernahmen bzw. Befragungen wurden nicht einmal versucht) stellt das BFA fest, dass der BF verheiratet sei und 4 Kinder habe, er wohne gemeinsam mit seiner Familie in XXXX , darüberhinausgehend habe kein Familienleben in Österreich festgestellt werden können. Beweiswürdigend führte das BFA dazu aus, dies ergebe sich aus der Aktenlage und fehlender gegenteiliger Angaben. Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung führte das BFA dazu aus, dass man einem der Urteile entnehmen könne, dass der BF bereits gewalttätig gegenüber seiner Frau geworden sei und sie dabei geschlagen habe. Ein intaktes Familienleben könne sohin nicht festgestellt werden, im Lichte dessen könne von keinem intensiven Familienleben ausgegangen werden. Ohne aber die zuvor eingangs erwähnten Einvernahmen erweisen sich diese Feststellungen und Annahmen als reine Spekulation.
Die Ermittlungen der belangten Behörde erschöpfen sich insoweit in einem Schreiben "Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme" vom 10.08.2018, das den BF nicht erreicht hat [was aus der Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (auch) zu schließen ist].
Daraus folgt, dass die belangte Behörde zum Aspekt des Familienlebens nicht einmal ansatzweise ermittelt hat.
Indem die belangte Behörde die ursprünglich als notwendig erachteten Fragen (vgl. den Fragenkatalog von 24 Fragen im Schreiben vom 10.08.2018) später im Verfahren als nicht mehr notwendig erachtete, weil sie diese nicht weiterverfolgte, sondern aus der Nichtbeantwortung der Fragen auf fehlendes intaktes Familienleben schloss, ist die Annahme berechtigt, dass das BFA die diesbezüglich notwendigen aufwändigen Ermittlungen an das BVwG delegieren wollte.
II.3.3.3. Beweiswürdigend führte die Behörde aus, dass sich aus dem Sozialversicherungsdatenauszug vom 31.10.2018 sowie der Mitteilung des AMS ergebe, dass der BF insgesamt während seines gesamten Aufenthaltes in Österreich rund vier Jahre einer Beschäftigung nachgegangen sei, ansonsten jedoch durchwegs Arbeitslosenunterstützung oder Notstandshilfe bezogen habe, eine nachhaltige Anstellung am österreichischen Arbeitsmarkt habe somit nicht festgestellt werden können; mangels Einbringung einer Stellungnahme habe auch kein Abhängigkeitsverhältnis zu in Österreich lebenden Personen festgestellt werden können.
Weder ein solcher Sozialversicherungsdatenauszug vom 31.10.2018 noch eine derartige Mittteilung des AMS sind im vorliegenden Verwaltungsakt auffindbar.
Die Behauptung widerstreitet auch der Auskunft des AMS vom 31.10.2018 (AS 247) wonach der BF seit Beginn seiner Erwerbskarriere im Jahr 1995 mehr als vier Jahre ordnungsgemäß beschäftigt war, sowie dem mit der Beschwerde vorgelegten Sozialversicherungsdatenauszug vom 22.01.2019.
Die Behauptung des BFA zur fehlenden nachhaltigen Anstellung ist insoweit nicht nur spekulativ, sondern auch falsch.
II.3.3.4. Wenn die belangte Behörde anführt, der BF sei seit 19.03.2001 im Bundesgebiet gemeldet, so hätte schon die Auskunft des AMS vom 31.10.2018 (Erwerbskarriere seit 1995 - vgl. AS 247) zu ergänzenden Ermittlungen führen müssen. Tatsächlich befindet sich der BF also nicht erst seit 2001 im Bundesgebiet sondern schon wesentlich länger, in der Beschwerde wurde dargelegt, seit seinem 8. Lebensjahr. In der Beschwerde wurde weiter dargelegt, dass der BF über einen Aufenthaltstitel aus dem Jahr 1987 verfügt und nicht nur seine gesamte Schulpflicht, sondern auch sein gesamtes Berufsleben hier absolviert hat.
Angesichts dessen erweist sich die Feststellung, dass hinsichtlich des BF kein exzeptionelles Privatleben festgestellt werden konnte, zum einen als - wie angeführt - falsch und zum anderen als reine Spekulation.
II.3.3.5. In den Feststellungen des Bescheides führte die bB aus, dass der BF aufgrund seines strafbaren Verhaltens in Österreich eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. Im Rahmen der rechtlichen Beurteilung führte die bB aus, dass das Verhalten des BF eine tatsächliche gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstelle. Unklar ist daher, von welchem Gefährdungsmaßstab im Sinne des § 67 Abs. 1 FPG die bB ausgeht.
II.3.3.6. Nach § 39 Abs. 2 hat die Behörde das Ermittlungsverfahren amtswegig zu führen. Pflicht der Behörde wäre es daher gewesen, den gegenständlich relevanten Sachverhalt von sich aus zu ermitteln. Dazu verfügt die Behörde (auch) über eingreifende Mittel, die allerdings nicht in Betracht gezogen wurden.
Das gegenständliche Vorgehen der belangten Behörde führt aber dazu, dass nahezu das gesamte Ermittlungsverfahren auf die Beschwerdeinstanz übergewälzt bzw. delegiert würde.
II.3.3.7. In diesem Zusammenhang ist auch darauf zu verweisen, dass Bescheide iSd § 58 AVG zu begründen sind. Im Sinne des § 60 AVG sind in der Begründung die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens, die für die Beweiswürdigung maßgeblichen Erwägungen, sowie die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammenzufassen. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (VwGH 20.03.2014, 2012/08/0024, und 21.12.2010, 2007/05/0231, beide mwH) erfordert dies in einem ersten Schritt die eindeutige, eine Rechtsverfolgung durch die Partei ermöglichende und einer nachprüfenden Kontrolle durch die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts zugängliche konkrete Feststellung des der Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalts, in einem zweiten Schritt die Angabe jener Gründe, welche die Behörde im Falle des Vorliegens widerstreitender Beweisergebnisse in Ausübung der freien Beweiswürdigung dazu bewogen haben, gerade jenen Sachverhalt festzustellen, und in einem dritten Schritt die Darstellung der rechtlichen Erwägungen, deren Ergebnisse zum Spruch des Bescheides geführt haben (VwGH 21.10.2014, Ro 2014/03/0076).
II.3.3.8. Im vorliegenden Fall wurde der maßgebliche Sachverhalt dermaßen qualifiziert mangelhaft ermittelt, dass von einem gänzlichen Ausbleiben der zur Entscheidungsfindung notwendigen Ermittlungen über weite Strecken iSd Erk. d. VwGH 26.06.2014, Ro 2014/03/0063 gesprochen werden muss. Daran anknüpfend ist auch nach derzeitigem Stand nicht zu beurteilen, ob das BFA überhaupt rechtlich die richtigen Schlüsse gezogen hat. Das BVwG hätte hier nicht bloß Ergänzungen dazu vorzunehmen, sondern wäre vielmehr die erste Instanz, welche diese Ermittlungen vollinhaltlich vornimmt und kann erst nach dieser eine Beurteilung der Rechtsfrage stattfinden. Das ho. Gericht hätte iSd Urteils des EuGH vom 14.6.2017, C-685 EU:C:2017:452 somit in einem wesentlichen Teil des Ermittlungsverfahrens "an die Stelle" der zuständigen belangten Behörde zu treten, der es eigentlich obliegt, dem Gericht die Beweise iSd Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts vorzulegen.
Trotz der Einrichtung von Außenstellen des BVwG ist auszuführen, dass aufgrund des organisatorischen Aufbaues des BVwG und des BFA eine Weiterführung des Verfahrens durch das BVwG im Sinne des § 28 Abs. 2 u 3 VwGVG nicht mit einer Ersparnis an Zeit und Kosten verbunden ist bzw. zu keiner wesentlichen Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens führt. So ergäbe sich etwa für das BVwG, dass die gegenständlichen Ermittlungen nur im Zuge einer Verhandlung durchgeführt werden könnten, dies zudem in einem Mehrparteienverfahren. Schon daraus ergibt sich ein wesentlicher Mehraufwand gegenüber einem Verfahren vor dem Bundesamt in einem Einparteienverfahren. Das Bundesamt verfügt auch hinsichtlich der Anzahl von Entscheidern über wesentlich höhere personelle Ressourcen als das BVwG.
Eine vorweg per se angenommene Verlängerung des Verfahrens durch die Zurückverweisung und eine nochmalige Beschwerdeerhebung wäre rein spekulativ, zumal die Statistiken zeigen, dass nicht gegen jegliche Entscheidung des BFA Beschwerde erhoben wird. Insbesondere, wenn nunmehr ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren und darauf basierend eine nachvollziehbare Beweiswürdigung und rechtsrichtige Beurteilung des Antrages vorgenommen wird, kann den Erfahrungen nach von einer höheren Akzeptanz durch die Partei ausgegangen werden.
II.3.3.9. Das Vorgehen der belangten Behörde - Durchführung marginaler Ermittlungsschritte und dann die Bescheiderlassung unter Miteinbeziehung falscher Fakten und spekulativer Annahmen in zentralen Bereichen unter gleichzeitigem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde - kann nur so interpretiert werden, dass damit nicht unerhebliche Ermittlungsschritte auf die Beschwerdeinstanz übergewälzt werden sollten. Angesichts der mit dem Ausschluss der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde de facto verbundenen verkürzten einwöchigen Entscheidungsfrist bleibt in erster Linie nur die Behebung und Zurückverweisung als Sanierungsmöglichkeit.
Das BFA wird daher im fortgesetzten Verfahren die oben aufgelisteten fehlenden Ermittlungen (vgl. oben die Punkte II.3.3.1., II.3.3.2, II.3.3.3. und II.3.3.4.) durchzuführen haben.
II.3.4. Von diesen Überlegungen ausgehend, ist daher im gegenständlichen Fall das dem Bundesverwaltungsgericht gemäß § 28 Abs. 3 Satz 2 VwGVG eingeräumte Ermessen im Sinne einer kassatorischen Entscheidung auszuüben und das Verfahren spruchgemäß an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zur neuerlichen Entscheidung zurückzuverweisen.
Dass gegebenenfalls die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist, ist angesichts des Mehrparteienverfahrens beim BVwG nicht erkennbar.
II.4. Gemäß § 24 Abs. 2 Z 1 VwGVG konnte eine mündliche Verhandlung unterbleiben, weil bereits auf Grund der Aktenlage feststand, dass der Beschwerde stattzugeben bzw. der angefochtene Bescheid zu beheben war.
II.5. Angesichts dieser Entscheidung binnen Wochenfrist sowie der gänzlichen Behebung des angefochtenen Bescheides erübrigen sich weitere Ausführungen zum Ausschluss der aufschiebenden Wirkung.
II.6. Vor dem Hintergrund der Beschwerdeausführungen, dass der BF seine gesamte Schulpflicht in Österreich absolviert hat und Deutsch auf muttersprachlichem Niveau beherrscht, entfällt gemäß § 12 Abs. 1 BFA-VG die Übersetzung von Spruch und Rechtsmittelbelehrung in die türkische Sprache.
II.7. Der Antrag des BF auf Ausfolgung der Reisepässe vom 25.03.2019 war an das BFA gerichtet. Soweit dieser Antrag mit der gegenständlichen Beschwerde dem BVwG vorgelegt wurde, so erfolgt insoweit eine Verweisung an das BFA gemäß § 6 AVG.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Weder weicht die gegenständliche Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab, noch fehlt es an einer Rechtsprechung, weiters ist die vorliegende Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes auch nicht als uneinheitlich zu beurteilen. Auch liegen keine sonstigen Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vor.
Aufgrund der oa. Ausführungen war die Revision nicht zuzulassen.
Schlagworte
Aufenthaltsverbot, aufschiebende Wirkung - Entfall, Behebung derEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2019:L529.2217593.1.00Zuletzt aktualisiert am
02.10.2019