TE Bvwg Erkenntnis 2019/4/26 L526 2171089-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 26.04.2019
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Entscheidungsdatum

26.04.2019

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §34
B-VG Art. 133 Abs4
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

L526 2171086-1/16E

L526 2171089-1/10E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

I. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina SCHREY, LL.M., als Einzelrichterin über die Beschwerde von

XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH als Mitglied der ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.08.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.03.2019 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Petra Martina SCHREY, LL.M., als Einzelrichterin über die Beschwerde von

XXXX , geb. XXXX , StA. Irak, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gemeinnützige GmbH als Mitglied der ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 23.8.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 14.3.2019 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang

1.1. Die Beschwerdeführer (nachfolgend auch "BF" oder "BF 1 bis BF2" genannt) sind irakischer Staatsbürger und stellten am 20.7.2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. BF1 ist die Mutter des BF2 und vertritt diesen auch im Verfahren.

BF1 wurde am 21.7.2015 von einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt und führte dabei aus, dass IS-Kämpfer schon sehr nahe bei ihrem Dorf seien. Der Ex-Mann hätte helfen wollen, dass sie und ihr Sohn in Sicherheit kommen. Auf dem Weg zu ihnen sei er verloren gegangen und sie wisse nicht, wo er jetzt sei. Sein Bruder habe ihr dann geholfen zu fliehen. Die IS Kämpfer hätten wollen, dass ihr Vater für sie arbeitet. Dieser montiere Sendemasten und dergleichen und sei auch sofort geflohen, als sie weg waren. Jetzt sei er in der Türkei.

1.2. Am 29.5.2017 wurde BF1 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, der nunmehr belangten Behörde (im Weiteren kurz: "BFA" oder "bB" genannt) niederschriftlich einvernommen. Dabei brachte BF1 im Wesentlichen vor, sie habe ihr Heimatland am 16.6.2014 verlassen. Sie sei mit ihrem Sohn von Erbil nach Bagdad geflogen und anschließend von Bagdad in die Türkei. Dann sei sie über Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn nach Österreich gereist. Den Schlepper habe der Bruder ihres ehemaligen Mannes organisiert. Einer ihrer Brüder lebe noch in Bagdad. Aufgrund ihres Religionsbekenntnisses habe sie keine Probleme gehabt und sie sei auch nicht politisch tätig gewesen.

Die Befragung zu den Gründen für ihre Ausreise gestaltete sich wie folgt (auszugsweise Wiedergabe der Niederschrift der bB vom 29.5.2017):

" ... F.: Wann genau haben Sie sich entschlossen, dass Sie Ihr

Heimatland verlassen?

A.: Im Juni 2014.

F.: Wann haben Sie Ihr Heimatland tatsächlich verlassen?

A.: 17.06.2014.

F.: Wo haben Sie die letzte Nacht vor der Ausreise verbracht?

A.: In Bagdad, bei einer Freundin.

F.: Schildern Sie kurz Ihre Ausreise.

A.: Mit meinem Sohn bin ich mit dem Flugzeug von Erbil nach Bagdad. Anschließend von Bagdad in die Türkei geflogen. Dann reiste ich über Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn nach Österreich.

F: Wer hat den Schlepper organisiert?

A: Der Bruder meines ehemaligen Mannes.

F: Wie viel haben Sie für den Schlepper bezahlt?

A: Er hat 2.000,- Dollar bezahlt. Meine Mutter und meine Schwester reisten auch mit mir von der Türkei gemeinsam nach Österreich. Diese kehrten aber wieder in die Türkei zurück.

F.: Können Sie bitte einen kurzen Lebenslauf bezüglich Ihrer Person schildern? Z.B.: Wo sind Sie aufgewachsen, welche Schulausbildung haben Sie absolviert, welchen Beruf haben Sie ausgeübt etc.?

A.: Ich wurde in XXXX geboren und wuchs dort auf. Die Schule besuchte ich von 1995 bis 2004. Nach der Schule habe ich meinen Mann geheiratet und lebte mit ihm in XXXX bis 2011. Ab 2011 lebte ich wieder bei meinen Eltern in XXXX bis zu meiner Ausreise. Im Jahr 2013 wurde ich geschieden.

F.: Welche Verwandten leben noch in Ihrem Herkunftsstaat? (Name, Geburtsdatum, Wohnort, was arbeiten diese, Staatsangehörigkeit)

A.: Ein Bruder ist noch in Bagdad.

F.: Geben Sie chronologisch und lückenlos die Aufenthaltsorte der letzten 3 Jahre bis zur Ausreise an.

A.: In XXXX , im Haus meiner Eltern.

F.: Führten Sie irgendwann einmal einen anderen Namen?

A.: Nein.

F.: Beantworten Sie die nachstehenden Fragen mit "Ja" oder "Nein". Sie haben später noch die Gelegenheit, sich ausführlich zu diesen Fragen zu äußern:

F.: Sind Sie vorbestraft oder waren Sie in Ihrem Heimatland inhaftiert oder hatten Sie Probleme mit den Behörden in der Heimat?

A.: Dreimal nein.

F.: Bestehen gegen Sie aktuelle staatliche Fahndungsmaßnahmen wie Haftbefehl, Strafanzeige, Steckbrief, etc?

A.: Nein.

F.: Sind oder waren Sie politisch tätig?

A.: Nein.

F.: Sind oder waren Sie Mitglied einer politischen Partei?

A.: Nein.

F.: Hatten Sie in ihrem Herkunftsstaat aufgrund Ihres Religionsbekenntnisses irgendwelche Probleme?

A.: Nein.

F.: Hatten Sie in ihrem Herkunftsstaat aufgrund Ihrer Volksgruppenzugehörigkeit irgendwelche Probleme?

A.: Nein.

F.: Hatten Sie gröbere Probleme mit Privatpersonen (Blutfehden, Racheakte etc.)?

A.: Ja, mit einem Offizier in XXXX .

F.: Schildern Sie nochmals die Gründe, warum Sie Ihr Heimatland verlassen und einen Asylantrag gestellt haben, von sich aus vollständig und wahrheitsgemäß.

...

A: Als ich 16 Jahre alt war, wurde ich von meiner Familie gezwungen, meinen Cousin zu heiraten. Er hat mich schlecht behandelt und machte Probleme, weil ich keine Kinder zur Welt bringen konnte. Der Grund dafür lag aber bei ihm. Ich habe dann ein Kind bekommen, mein Sohn ist jedoch auf einem Auge sehbehindert. Dann hat er mir Vorwürfe gemacht, warum unser Sohn nicht gesund ist und im Jahr 2013 mit der Unterstützung meiner Schwester, hatte ich die Scheidung. Ich habe mich dann für ein freies Studium angemeldet, und ging nur zur Prüfung. Bei diesen Prüfungen habe ich eine Frau namens XXXX kennengelernt. Diese hat mich mit dem Offizier bekannt gemacht. Nachgefragt, der Mann heißt XXXX . Er hat mich belästigt und einmal hat er und ein Freund mich mitgenommen und mich vergewaltigt.

ANMERKUNG: AW wird darauf aufmerksam, dass aufgrund der geschilderten Umstände (Vergewaltigung) die Einvernahme unterbrochen wird und von einer weiblichen Referentin und Dolmetscherin fortgesetzt wird. XXXX gibt zur Antwort, dass sie darauf besteht, dass die Einvernahme fortgesetzt wird und Sie kein Problem mit dem Referenten und dem Dolmetscher hat.

Sie führt weiter aus: die Vergewaltigung war im Jahr 2013. Er hat mich nach diesem Vorfall weiter belästigt und wollte noch sexuellen Handlungen mit mehr. Er teilte mir auch mit, dass er von mir Fotos habe. Ich konnte das auch meiner Familie nicht erzählen, sonst hätten sie mich getötet. Im Juni 2014 habe ich zwei Prüfungen gemacht und am 10.06. kam der IS in die Stadt XXXX . Ich bin dann mit meinem Sohn geflüchtet und hatte auch Angst, wenn der IS die Sache mit der Vergewaltigung herausbekommt, dass ich getötet werde. Nachgefragt, die Vergewaltigung habe ich nicht angezeigt, weil der Offizier selbst bei der Polizei beschäftigt ist. Er ist Leutnant.

F.: Möchten Sie von sich aus noch etwas zu Ihrem Fluchtgrund angeben?

A.: Nein.

F.: Haben Sie sämtliche Gründe, warum Sie die Heimat verlassen haben, vollständig geschildert?

A: Ja, das habe ich. Ab 2013 wollte meine Familie, dass ich das Kind beim Vater lassen soll. Sie wollten das Kind nicht mehr, behandelten es schlecht und wurde mein Sohn von meinem Vater geschlagen. Meine Mutter und meine Schwester reisten mit mir nach Österreich. Meine Mutter hat mich beschimpft, weil ich kein Kopftuch mehr trage. Ich wollte frei leben. Sie kehrten dann wieder in den Irak zurück, anschließend fuhren sie wieder in die Türkei.

...

F: Sie haben am Anfang der Einvernahme mitgeteilt, dass Sie zwei Sachen von der Erstbefragung heute richtig stellen werden. Der Fluchtgrund war nicht dabei. Was sagen Sie dazu?

A: Ich habe schon gesagt, dass Fehler aufgetreten sind.

F: Nochmals, Sie gaben an, dass das Stadtviertel und die Schuljahre nicht richtig waren. Jetzt stimmt auch der Fluchtgrund nicht?

A: Ich weiß es nicht, ich bin nicht über alles informiert.

F: Der Vorfall war im Jahr 2013. Ist Ihnen bis zu Ihrer Ausreise noch etwas zugestoßen?

A: Nein.

F: Trafen Sie sich weiterhin mit diesem Offizier?

A: Ja, er hat mir nichts mehr getan. Er hat mich nicht mehr berührt...(Pause)...er hat mich doch weiter vergewaltigt.

F: Warum haben Sie eben gesagt, dass Ihnen nicht mehr passiert ist?

A: (lächelt), er hat schon mit mir gesprochen, aber ich wollte auch sagen, dass er mich vergewaltigt hat. Nachgefragt, er hat mich aber nicht mehr dazu gezwungen, er stellte es mir frei, dass ich selber zu ihm kommen kann.

F: Als Sie XXXX verlassen haben, ist Ihnen etwas passiert.

A: Nein, aber ich ging zu Fuß. Nachgefragt, ich ging zwei Tage.

F: Hatten Sie Probleme auf den Flughäfen Erbil und Bagdad?

A: Nein. Nachgefragt, auch nicht bei der Ausreise von Bagdad in die Türkei. Mein Cousin hat mir geholfen, nach Erbil zu kommen. Er ist auch Offizier für die Sicherheit am Flughafen in Bagdad.

F.: Haben Sie den Dolmetscher während der gesamten Einvernahme einwandfrei verstanden?

A.: Ja, natürlich.

F.: Es wird Ihnen nunmehr die Niederschrift rückübersetzt und Sie haben danach die Möglichkeit noch etwas richtig zu stellen oder hinzuzufügen.

F.: Haben Sie nun nach wiederholter Rückübersetzung Einwendungen gegen die Niederschrift selbst, wurde Ihre Einvernahme richtig und vollständig protokolliert?

A.: Es ist soweit alles in Ordnung. Ich habe das Heimatland nicht am 17.06.2014, sondern am 16.06.2014 verlassen. Der Offizier sagte damals, dass er Aufnahmen von mir hat, ich meine damit Videoaufnahmen. 2000 US Dollar wurden nur für mich und meinen Sohn bezahlt und gesamt haben wir 5000 US Dollar für mich und meine Mutter und meine Schwester bezahlt. Ich ging dann weiter freiwillig zu diesem Offizier, weil ich Angst hatte. Auch diesen Fluchtgrund habe ich bei der Erstbefragung nicht gesagt, weil meine Mutter dabei war.

F: War Ihre Mutter bei der Erstbefragung anwesend?

A: Nein.

F.: Wünschen Sie eine Ausfolgung der Kopie der Niederschrift?

A.: Ja.

F.: Bestätigen Sie nunmehr bitte durch Ihre Unterschrift die Richtigkeit und Vollständigkeit der Niederschrift und die Rückübersetzung.

... "

BF1 legte Bestätigungen über Deutschkurse für das Niveau A1 bis A2 sowie die "Fachsprache Wirtschaft", eine Arbeitsbestätigung über Leistungen für die Gemeinde XXXX , mehrere Empfehlungsschreiben sowie mehrere Dokumente und Unterlagen in arabischer Sprache vor, welche im Verfahren der bB auch berücksichtig wurden. Der von der bB beauftragten Übersetzung zufolge handelt es sich bei den arabischen Dokumenten um einen Reisepass, Personalausweise, ein Staatsbürgerschaftsausweis, eine Heiratsurkunde und ein Scheidungsbeschluss.

I.3. Die Anträge der BF1 und des BF2 auf internationalen Schutz wurden jeweils mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 23.08.2017, Zl.:

XXXX (BF 1) und Zl. XXXX (BF 2) gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG (BF 1) bzw. § 8 Abs. 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG (BF2) wurde den BF der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt und ihnen eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis 23.8.2018 erteilt.

Die bB begründete die abweisende Entscheidung im Wesentlichen damit, dass den Angaben der BF1 mangels Glaubwürdigkeit nicht zu folgen gewesen sei. Die relevanten Passagen des Bescheides für BF1 gestalten sich dabei wie folgt:

" [...] Es wird demzufolge festgestellt, dass Ihre Fluchtgründe inhaltlich stark divergieren und in der Einvernahme vor dem BFA zudem gesteigert vorgetragen wurden. Ihr Fluchtgrund in der Erstbefragung hat ausschließlich die Angst vor dem IS zum Inhalt. In der Einvernahme bringen Sie dann erstmals vor, dass Sie von einem Offizier der Polizei vergewaltigt worden wären. So schrecklich ein derartiger Vorfall selbstverständlich ist, so fragwürdig bleibt dann jedoch, warum Sie diese Vergewaltigung nicht bereits in der Erstbefragung erwähnten. Eine Vergewaltigung zählt natürlich zu den schlimmsten Ereignissen, die einer Frau wiederfahren können. Schon alleine aus diesem Grund ist es nicht nachvollziehbar, dass dieser Vorfall von Ihnen nicht bereits bei der Erstbefragung vorgetragen wurde. In der Einvernahme vor dem BFA geben Sie zwar zum Grund des Verschweigens bekannt, dass Ihre Mutter bei der Erstbefragung dabei war. Gleichzeitig lautete jedoch Ihre Antwort auf die konkrete Frage, ob Ihre Mutter bei der Erstbefragung dabei war, nein. Wenn Ihre Mutter bei der Erstbefragung nicht dabei war, hätten Sie von der Vergewaltigung mühelos erzählen können. Zudem wurde die Erstbefragung auf der PI Schärding von einer weiblichen Exekutivbeamtin durchgeführt. Im Zuge unzähliger Nachfragen konnten zudem Widersprüche festgestellt werden. So geben Sie auf die explizite Frage, ob Sie sich noch mit dem Offizier getroffen hätten zuerst an, dass dies der Fall gewesen wäre, er hätte Ihnen nichts mehr getan. Dann bringen Sie vor, dass er Sie nicht mehr berührt hätte und nach einer kurzen Pause teilen Sie mit, dass er Sie weiterhin vergewaltigt hätte. Mit einem Lächeln wird die nächste Nachfrage beantwortet, die zum Inhalt hatte, warum Sie gesagt hätten, dass nichts mehr passiert sei, wenn dies jedoch laut Ihren Angaben so gewesen sei. Sie antworteten, dass der Offizier schon mit Ihnen gesprochen hätte und Sie sagen wollten, dass er Sie vergewaltigt hätte. Nochmals nachgefragt, er hätte Sie aber nicht dazu gezwungen, er stellte es Ihnen frei. Auch beim Grund für die weiteren Treffen teilen Sie bei den ersten Nachfragen mit, dass dieser Offizier Fotos von Ihnen hätte. Am Ende der Nachfragen, nach der Rückübersetzung bringen Sie jedoch ein, dass er Videoaufnahmen, demnach keine Fotos, hätte.

Merkwürdig ist auch Ihre Antwort, warum Sie zwei inhaltlich komplett andere Fluchtgeschichten erzählen, wenn Ihre Antwort lautet, dass Sie müde waren und Sie der Dolmetscher nicht verstanden hätte, weil er ägyptisch gesprochen habe.

Letztendlich befürchten Sie bei einer Rückkehr, dass Sie von IS Kämpfern überfallen und getötet werden könnten.

Die aufgezeigten Widersprüche, aber vor allem die Steigerung Ihres Vorbringens sprechen dafür, dass es sich bei Ihren Angaben um ein konstruiertes Vorbringen handelt, dem die Glaubwürdigkeit abzusprechen ist.

[...]

Sie konnten somit keine nachvollziehbare und glaubhafte Bedrohung oder Verfolgung Ihrer Person bekannt geben, die die zur Gewährung von Asyl erforderliche Intensität erreicht hätte.

Festzuhalten bleibt aus diesem Grund, dass es sich bei Ihren Ausführungen um ein nicht plausibles Vorbringen handelt, dem die Glaubwürdigkeit abgesprochen wird.

Zusammenfassend ergibt sich, dass Ihre damalige Ausreise aus zwar möglicherweise subjektiv empfundener Furcht herrührte, doch aufgrund der bis dato vergangen Zeitdauer wohl von keiner aktuellen Verfolgungsgefährdung mehr die Rede sein kann.

Dass Sie in Ihrem Heimatstaat nicht politisch aktiv und kein Mitglied einer politischen Partei waren, ergibt sich aus dem Umstand, dass Sie am 29.05.2017 nachdrücklich nach diesen Punkten gefragt wurden und Sie Entsprechendes oder Probleme verneinten. Weiter hatten Sie keine Probleme aufgrund der Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit. Es bestanden keine staatlichen Fahndungsmaßnahmen und Sie hatten keine Probleme mit den Behörden. Probleme mit Privatpersonen liegen in der behaupteten Vergewaltigung durch einen Offizier der Polizei.

Auch aus Ihren übrigen Ausführungen wären etwaige Verfolgungsszenarien dahingehend nicht ansatzweise erkennbar.

[...]"

Des Weiteren traf die bB umfassende herkunftsstaatsbezogene Feststellungen zur allgemeinen Lage im Irak.

I.4. Mit Schreiben vom 23.8.2017 wurden BF1 die im Original übergebenen Dokumente rückgemittelt.

I.5. Mit Verfahrensanordnungen der bB vom 24.08.2017 wurde den BF gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG jeweils amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

I.6. Der Bescheid der bB wurde den Beschwerdeführern am 31.08.2017 ordnungsgemäß zugestellt, wogegen am 13.09.2017 fristgerecht Beschwerde erhoben wurde.

I.7. Der Bescheid wurde hinsichtlich Spruchpunkt I wegen unrichtiger rechtlicher Beurteilung und Mangelhaftigkeit des Verfahrens bekämpft.

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass - sofern BF1 ein gesteigertes Vorbingen und die Tatsache, dass diese anlässlich der Erstbefragung nichts von einer Vergewaltigung erzählt habe vorgeworfen werde - der Dolmetscher, welcher der Erstbefragung beigezogen wurde, ein Mann gewesen sei. Wiewohl die Mutter der BF1 nicht zusammen mit dieser einvernommen worden sei, so habe BF1 doch Angst gehabt, dass diese etwas von ihrer Aussage erfahren könne und sei sie zudem sehr erschöpft gewesen. Der geschiedene Gatte sei selbstverständlich nicht mit der Ausreise aus dem Irak einverstanden gewesen, sondern habe er sie innerhalb des Irak in Sicherheit bringen wollen. Die Eltern der BF1 befänden sich in der Türkei und würden wollen, dass BF1 dorthin kommt und den Sohn zu ihrem geschiedenen Ehemann gibt. Die Mutter habe BF1 auch beschimpft, da diese kein Kopftuch mehr trägt. Der Vater der BF sei wütend über ihre Scheidung und wolle auch, dass sie den Sohn - dieser sei sehbehindert und stelle damit eine Belastung für die Familie dar - zum ehemaligen Gatten gebe.

Zu den Widersprüchen im Hinblick auf die Begegnungen mit dem Offizier wird im Wesentlichen vorgebracht, dass BF1 vergewaltigt worden sei, da sie nicht freiwillig mit ihm habe schlafen wollen. Danach sei sie immer wieder von diesem angerufen worden und habe sich auch tatsächlich immer wieder zum Offizier begeben und mit ihm geschlafen, wobei jedoch von Freiwilligkeit keine Rede sein könne. Dies habe BF1 nur getan, da der Offizier ein Video über den Beischlaf aufgenommen und ihr mitgeteilt habe, dass er dieses ihren Eltern zeigen werde und diese sie dann umbringen würden. Da der Offizier bei der Polizei war, habe sie keine Anzeige gegen ihn machen können.

Circa drei Monate vor der Flucht der BF habe es einen Anschlag auf die Polizei gegeben, weshalb sich BF1 bis zur ihrer Ausreise dann nicht mehr mit dem Offizier getroffen habe.

Als der IS nach XXXX kam, sei die BF aus dem Irak geflohen.

Der Offizier habe sie allerdings auch angerufen, als sie sich bereits in der Türkei befunden habe und sie bedroht und ihr auf Facebook geschrieben. Lediglich die Schwester wüsste über die Vorfälle mit dem Offizier bescheid.

Unter Anführung verschiedener Länderberichte wurde ferner bemängelt, dass die Behörde keine Recherchen zur Lage von Frauen in der besonderen Situation der BF getätigt habe. Aus den Länderfeststellungen gehe zudem hervor, dass Kinder von bewaffneten Gruppen rekrutiert würden und die Stellung der Frau sich im Vergleich zum Saddam-Regime deutlich verschlechtert habe.

Die bB habe es auch unterlassen, sich mit der Judikatur des Bundesverwaltungsgerichtes hinsichtlich der Lage der alleinstehenden Frauen im Irak zu beschäftigen.

Zudem wurde ausgeführt, dass die BF aufgrund der Ehrenverletzung mit ihrer Ermordung zu rechnen hätte, wenn die Treffen mit dem Offizier bekannt würden. Verstärkt werde das Problem noch durch die westliche Einstellung der BF1. Sie gehöre der sozialen Gruppe jener an, denen "eine Verfolgung aufgrund eines Ehrenmordes" drohe. Ebenso gehöre sie zur Gruppe der alleinstehenden Frauen im Irak, die aufgrund erhöhter Vulnerabilität von sexueller Verfolgung bedroht sind. Der irakische Staat sei nicht willens und auch nicht fähig, die BF vor Verfolgung zu schützen.

I.8. Am 14.02.2019 wurden den BF aktuelle länderkundliche Informationen zur Lage im Irak vom 20.11.2018 zusammen mit der Einladung zu einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht übermittelt und wurden die BF eingeladen, eine schriftliche Stellungnahme zu den übergebenen länderkundlichen Informationen bis zur mündlichen Verhandlung oder eine mündliche Stellungnahme in der Verhandlung abzugeben.

I.9. Am 14.3.2019 führte das Bundesverwaltungsgericht in der Sache der BF eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein ihrer Rechtsvertreterin sowie einer Dolmetscherin und einer Vertreterin der bB durch. Anlässlich der Verhandlung wurde BF1 die Gelegenheit gegeben, neuerlich ihre Ausreisemotivation umfassend darzulegen. Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurden ihr nachfolgende Länderfeststellungen genannt und - mit Ausnahme der bereits übermittelten länderkundlichen Informationen - übergeben, deren Inhalt erörtert und als Beilage zur Verhandlungsschrift genommen:

-

Aktuelle länderkundliche Informationen zur Lage im Irak auf der Basis des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation vom 20.11.2018

-

Ein Artikel über Frauen in XXXX (https://de.euronews.com/2017/07frauen-in- XXXX -endlich-wieder-farbe)

-

Ein Artikel von iMMAP-IHF, "Humanitarian Access Response, Monthly security incidents situation report"

-

Ein Artikel von ACCORD - Austrian Center for Country of Origin and Asylum Research and Documentation, "Anfragebeantwortung zum Irak:

Lage in XXXX bzw. Provinz Ninewa: Sicherheitslage, humanitäre Lage für Familien mit Kindern, Fluchtbewegungen und Rückkehr"

Den BF wurde auch die Gelegenheit gegeben, sich binnen einer Frist von einer Woche zu den ins Verfahren eingebrachten Erkenntnisquellen zu äußern.

I.10. Mit Schreiben vom 21.03.2019 legten die BF ein weiteres Dokument in arabischer Sprache vor und nahmen zu den zuvor genannten Erkenntnisquellen Stellung. In dieser Stellungnahme wurde zusammengefasst ausgeführt, dass BF1, wie aus den Länderfeststellungen hervorginge, keinen hinreichenden Schutz vor Gewalt durch ihre Familie und sexueller Gewalt durch XXXX habe. Es gebe keine offiziellen Schutzeinrichtungen und auch die Familienschutzeinheiten im Innenministerium würden den BF nicht helfen. BF1 wäre bei einer Rückkehr in den Irak auch von Zwangsheirat bedroht und sei für sie auch schon ein Mann ausgesucht worden. Zudem würden Ehrenverbrechen, zu welchen sogar Vergewaltigungen zählen würden, von Polizei und Behörden als "Familiensache" gesehen; käme es doch zu einer Verhandlung, würden Täter oft freigesprochen. Als geschiedene Frau unterliege BF1 im Irak einer starken sozialen Stigmatisierung. Der geschiedene Ehemann der BF habe ein Gerichtsverfahren angestrengt, um ihr den gemeinsamen Sohn wegzunehmen. BF1 könne sich dagegen nicht wehren. Auch der westliche bzw. nicht konservative Lebensstil würde zu einer Verfolgung, bis hin zu einer Ermordung, führen. Die ausgehändigten Artikel würden sich nicht auf die spezielle Situation der BF beziehen. In diesem Zusammenhang wurde auf eine Anfragebeantwortung zum Irak vom 6.2.2019 verwiesen, wonach viele Frauen in Flüchtlingslagern leben müssten und häufig sexueller Missbrauch und Ausbeutung gemeldet würden. Ferner wurde auf eine Schnellrecherche der Schweizerischen Flüchtlingshilfe zur Zwangsheirat im Irak und einen Artikel von ACCORD zur Lage von alleinstehenden Frauen mit westlicher Gesinnung nach Rückkehr aus dem westlichen Ausland und Asylantragstellung vom 25.2.2019 verwiesen, woraus ebenso ersichtlich sei, dass es im Irak keine funktionierenden Frauenhäuser gäbe und die Bewegungsfreiheit durch rechtliche Einschränkungen, aus kulturellen Gründen und durch religiöse Normen begrenzt sei. Als geschiedene Frau würde BF1 mit erheblicher Diskriminierung von offizieller und gesellschaftlicher Seite konfrontiert.

I.11. Das übermittelte Dokument in arabischer Sprache wurde im Auftrag des Bundesverwaltungsgerichtes übersetzt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

II. 1. Sachverhalt:

1.1. Feststellungen zur Person

Die Identität der BF steht fest. Die BF sind Staatsangehöriger des Irak und Angehörige der arabischen Volksgruppe. Sie gehören der sunnitischen Glaubensrichtung an.

BF1 wurde am 18.2.1989 in XXXX geboren und wuchs dort auf. Sie ist dort insgesamt neun Jahre in die Schule gegangen und hat auch ein Jahr lang die Handelsschule besucht, welche sie jedoch nicht abschließen konnte, da XXXX zu dieser Zeit in die Hände des IS fiel. BF1 lebte nach ihrer Verehelichung mit ihrem Ehemann in Bagdad, ehe sie sich im Jahr 2011 von ihrem Ehemann trennte und zusammen mit ihrer Schwiegermutter nach XXXX zurückkehrte, um dort zusammen mit dieser im Haus ihrer Eltern zu wohnen. Im Jahr 2013 wurde die Ehe der BF1 auf ihr Betreiben hin geschieden. Aus der Ehe mit dem nunmehr geschiedenen Mann entstammt BF2.

Im Sommer 2014 reiste BF1 zusammen mit ihrem Sohn von XXXX nach Erbil und flog von dort aus nach Bagdad und anschließend von Bagdad in die Türkei, von wo aus sie weiter mit ihrer Mutter und ihrer Schwester nach Österreich reiste, wo BF1 für sich und ihren Sohn einen Antrag auf internationalen Schutz stellte. Die Mutter und die Schwester der BF1 reisten nach einem etwa sechs monatigen Aufenthalt in Österreich freiwillig zurück in den Irak und von dort aus wieder in die Türkei. Die Eltern der BF1 sowie deren Geschwister leben, bis auf eine Schwester, augenblicklich wieder in XXXX .

Den BF wurde mit Bescheiden vom 23.8.2017 subsidiärer Schutz zuerkannt und verfügen sie in Österreich über eine befristete Aufenthaltsberechtigung.

In Österreich haben die Beschwerdeführer keine weiteren Verwandten.

Die BF bezogen bis 31.12.2017 Leistungen aus der Grundversorgung für Asylwerber; BF1 geht nunmehr einer unselbständigen Arbeit nach.

Die BF sind in Österreich strafrechtlich unbescholten.

BF1 nahm an mehreren Deutschkursen teil und verfügt über ein Sprach-Zertifikat der Einstufung B1.

BF1 und BF2 sind gesund, stehen nicht in ärztlicher Therapie und benötigen auch keine Medikamente. BF2 leidet seit seiner Geburt unter einer Hornhauttrübung und erhielt dafür eine Brille. Eine "visusverbessernde" Therapie für sein rechtes Auge existiert nicht. Vor der mündlichen Verhandlung wurde BF2 von einem Hund gebissen und wurde deshalb ärztlich behandelt. Eine ernsthafte Bedrohung der Gesundheit resultiert daraus jedoch nicht.

1.2. Länderfeststellungen

1.2.1. Hinsichtlich der asyl- und abschiebungsrelevanten Lage im Irak legt das erkennende Gericht seiner Entscheidung die länderkundlichen Informationen zur Lage in der Republik Irak vom 20.11.2018, ein Artikel von iMMAP-IHF, "Humanitarian Access Response, Monthly security incidents situation report", eine Anfragebeantwortung zur Lage im Irak von ACCORD - Austrian Center for Country of Origin and Asylum Research and Documentation: "Lage in Mosul bzw. Provinz Ninewa: Sicherheitslage, humanitäre Lage für Familien mit Kindern, Fluchtbewegungen und Rückkehr" zugrunde.

Auszugsweise werden aus den herangezogenen Länderfeststellungen insbesondere folgende Feststellungen explizit angeführt (die Quellen wurden den BF gegenüber offengelegt):

1. Politische Lage

Die politische Landschaft des Irak hat sich seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 enorm verändert (KAS 2.5.2018). Gemäß der Verfassung ist der Irak ein demokratischer, föderaler und parlamentarisch-republikanischer Staat (AA 12.2.2018), der aus 18 Provinzen (muhafazät) besteht (Fanack 27.9.2018). Artikel 47 der Verfassung sieht eine Gewaltenteilung zwischen Exekutive, Legislative und Judikative vor (RoI 15.10.2005). Die Autonome Region Kurdistan ist Teil der Bundesrepublik Irak und besteht aus den drei nördlichen Provinzen Dohuk, Erbil und Sulaymaniya. Sie wird von einer Regionalverwaltung, der kurdischen Regionalregierung, verwaltet und verfügt über eigene Streitkräfte (Fanack 27.9.2018).

An der Spitze der Exekutive steht der irakische Präsident, der auch das Staatsoberhaupt ist. Der Präsident wird mit einer Zweidrittelmehrheit des irakischen Parlaments (majlis al-nuwwab, engl.: Council of Representatives, dt.: Repräsentantenrat), für eine Amtszeit von vier Jahren gewählt und genehmigt Gesetze, die vom Parlament verabschiedet werden. Der Präsident wird von zwei Vizepräsidenten unterstützt. Zusammen bilden sie den Präsidialrat (Fanack 27.9.2018).

Teil der Exekutive ist auch der Ministerrat, der sich aus dem Premierminister und anderen Ministern der jeweiligen Bundesregierung zusammensetzt (Fanack 27.9.2018; vgl. RoI 15.10.2005). Der Premierminister wird vom Präsidenten designiert und vom Parlament bestätigt (RoI 15.10.2005).

Am 2.10.2018 wählte das neu zusammengetretene irakische Parlament den moderaten kurdischen Politiker Barham Salih zum Präsidenten des Irak (DW 2.10.2018). Dieser wiederum ernannte den schiitischen Politik-Veteranen Adel Abd al-Mahdi zum Premierminister und beauftragte ihn mit der Regierungsbildung (BBC 3.10.2018). Abd al-Mahdi ist seit 2005 der erste Premier, der nicht die Linie der schiitischen Da'wa-Partei vertritt, die seit dem Ende des Krieges eine zentrale Rolle in der Geschichte Landes übernommen hat. Er unterhält gute Beziehungen zu den USA. Der Iran hat sich seiner Ernennung nicht entgegengestellt (Guardian 3.10.2018).

Der Premierminister führt den Vorsitz im Ministerrat und leitet damit die tägliche Politik (Fanack

27.9.2018) .Im Gegensatz zum Präsidenten, dessen Rolle weitgehend zeremoniell ist, liegt beim Premierminister damit die eigentliche Exekutivgewalt (Guardian 3.10.2018).Die gesetzgebende Gewalt, die Legislative, wird vom irakischen Repräsentantenrat (Parlament) ausgeübt (Fanack 27.9.2018). Er besteht aus 329 Abgeordneten (CIA 17.10.2018; vgl. IRIS).

Die konfessionell/ethnische Verteilung der politischen Spitzenposten ist nicht in der irakischen Verfassung festgeschrieben, aber seit 2005 üblich (Standard 3.10.2018). So ist der Parlamentspräsident gewöhnlich ein Sunnite, der Premierminister ist ein Schiite und der Präsident der Republik ein Kurde (Al Jazeera 15.9.2018).

In weiten Teilen der irakischen Bevölkerung herrscht erhebliche Desillusion gegenüber der politischen Führung (LSE 7.2018; vgl. IRIS 11.5.2018). Politikverdrossenheit ist weit verbreitet (Standard 13.5.2018). Dies hat sich auch in der niedrigen Wahlbeteiligung bei den Parlamentswahlen im Mai 2018 gezeigt (WZ 12.5.2018). Der Konfessionalismus und die sogennante "Muhassasa", das komplizierte Proporzsystem, nach dem bisher Macht und Geld unter den Religionsgruppen, Ethnien und wichtigsten Stämmen im Irak verteilt wurden, gelten als Grund für Bereicherung, überbordende Korruption und einen Staat, der seinen Bürgern kaum Dienstleistungen wie Strom- und Wasserversorgung, ein Gesundheitswesen oder ein Bildungssystem bereitstellt (TA 12.5.2018).

Viele sunnitische Iraker stehen der schiitischen Dominanz im politischen System kritisch gegenüber. Die Machtverteilungsarrangements zwischen Sunniten und Schiiten sowie Kurden festigen den Einfluss ethnisch-religiöser Identitäten und verhindern die Herausbildung eines politischen Prozesses, der auf die Bewältigung politischer Sachfragen abzielt (AA 12.2.2018).

Die Zeit des Wahlkampfs im Frühjahr 2018 war nichtsdestotrotz von einem Moment des verhaltenen Optimismus gekennzeichnet, nach dem Sieg über den sogenannten Islamischen Staat (IS) im Dezember 2017 (ICG 9.5.2018). Am 9.12.2017 hatte Haider al-Abadi, der damalige irakische Premierminister, das Ende des Krieges gegen den IS ausgerufen (BBC 9.12.2017). Irakische Sicherheitskräfte hatten zuvor die letzten IS-Hochburgen in den Provinzen Anbar, Salah al-Din und Ninewa unter ihre Kontrolle gebracht. (UNSC 17.1.2018).

Parteienlandschaft

Es gibt vier große schiitische politische Gruppierungen im Irak: die Islamische Da'wa-Partei, den Obersten Islamischen Rat im Irak (OIRI) (jetzt durch die Bildung der Hikma-Bewegung zersplittert), die Sadr-Bewegung und die Badr-Organisation. Diese Gruppen sind islamistischer Natur, sie halten die meisten Sitze im Parlament und stehen in Konkurrenz zueinander - eine Konkurrenz, die sich, trotz des gemeinsamen konfessionellen Hintergrunds und der gemeinsamen Geschichte im Kampf gegen Saddam Hussein, bisweilen auch in Gewalt niedergeschlagen hat (KAS

2.5.2018) .

Die meisten politischen Parteien verfügen über einen bewaffneten Flügel oder werden einer Miliz zugeordnet (Niqash 7.7.2016; vgl. BP 17.12.2017) obwohl dies gemäß dem Parteiengesetz von 2015 verboten ist (Niqash 7.7.2016; vgl. WI 12.10.2015). Milizen streben jedoch danach, politische Parteien zu gründen (CGP 4.2018) und haben sich zu einer einflussreichen politischen Kraft entwickelt (Niqash 5.4.2018; vgl. Guardian 12.5.2018).

Die sunnitische politische Szene im Irak ist durch anhaltende Fragmentierung und Konflikt gekennzeichnet, zwischen Kräften, die auf Provinz-Ebene agieren, und solchen, die auf

Bundesebene agieren. Lokale sunnitische Kräfte haben sich als langlebiger erwiesen als nationale (KAS 2.5.2018)

Die politische Landschaft der Autonomen Region Kurdistan ist historisch von zwei großen Parteien geprägt: der Demokratischen Partei Kurdistans (KDP) und der Patriotischen Union Kurdistans (PUK). Dazu kommen Gorran ("Wandel"), eine 2009 gegründete Bewegung, die sich auf den Kampf gegen Korruption und Nepotismus konzentriert, sowie eine Reihe kleinere islamistische Parteien (KAS 2.5.2018).

Abgesehen von den großen konfessionell bzw. ethnisch dominierten Parteien des Irak, gibt es auch nennenswerte überkonfessionelle politische Gruppierungen. Unter diesen ist vor allem die Iraqiyya/Wataniyya Bewegung des Ayad Allawi von Bedeutung (KAS 2.5.2018).

Die folgende Grafik veranschaulicht die Sitzverteilung im neu gewählten irakischen Parlament. Sairoon, unter der Führung des schiitischen Geistlichen Muqtada al-Sadrs, ist mit 54 Sitzen die größte im Parlament vertretene Gruppe, gefolgt von der Fath-Bewegung des Milizenführers Hadi al-Amiri und Haider al-Abadi's Nasr ("Victory")-Allianz (LSE 7.2018).

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Protestbewegung

Die Protestbewegung, die es schon seit 2014 gibt, gewinnt derzeit an Bedeutung. Zumeist junge Leute gehen in Scharen auf die Straße, fordern bessere Lebensbedingungen, Arbeitsplätze, Reformen, einen effektiven Kampf gegen Korruption und die Abkehr vom religiösen Fundamentalismus (WZ 9.10.2018). Im Juli 2018 brachen im Süden des Landes, in Basra, nahe den Ölfeldern West Qurna und Zubayr Proteste aus. Diese eskalierten, nachdem die Polizei in West Qurna auf Demonstranten schoss (ICG 31.7.2018). Reich an Ölvorkommen, liefert die Provinz Basra 80 Prozent der Staatseinnahmen des Irak. Unter den Einwohnern der Provinz wächst jedoch das Bewusstsein des Gegensatzes zwischen dem enormem Reichtum und ihrer eigenen täglichen Realität von Armut, Vernachlässigung, einer maroden Infrastruktur, Strom- und Trinkwasserknappheit (Carnegie 19.9.2018; vgl. NPR 27.9.2018).

Die Proteste im Juli weiteten sich schnell auf andere Städte und Provinzen im Süd- und Zentralirak aus (DW 15.7.2018; vgl. Presse 15.7.2018, CNN 17.7.2018, Daily Star 19.7.2018). So gingen tausende Menschen in Dhi Qar, Maysan, Najaf und Karbala auf die Straße, um gegen steigende Arbeitslosigkeit, Korruption und eine schlechte Regierungsführung, sowie die iranische Einmischung in die irakische Politik zu protestieren (Al Jazeera 22.7.2018). Die Proteste erreichten auch die Hauptstadt Bagdad (Joel Wing 25.7.2018; vgl. Joel Wing 17.7.2018). Am 20.7. wurden Proteste in 10 Provinzen verzeichnet (Joel Wing 21.7.2018). Demonstranten setzten die Bürogebäude der Da'wa-Partei, der Badr-Organisation und des Obersten Islamischen Rats in Brand; praktisch jede politische Partei wurde angegriffen (Al Jazeera 22.7.2018). Es kam zu Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften, sowie zu Todesfällen (Kurier 15.7.2018; vgl. CNN 17.7.2018, HRW 24.7.2018). Ende August war ein Nachlassen der Demonstrationen zu verzeichnen (Al Jazeera 3.8.2018). Im September flammten die Demonstrationen wieder auf. Dabei wurden in Basra Regierungsgebäude, die staatliche Fernsehstation, das iranische Konsulat, sowie die Hauptquartiere fast aller Milizen, die vom Iran unterstützt werden, angegriffen. Mindestens 12 Demonstranten wurden getötet (Vox 8.9.2018; vgl. NPR 27.9.2018).

2. Sicherheitslage

Im Dezember 2017 erklärte die irakische Regierung den militärischen Sieg über den Islamischen Staat (IS). Die Sicherheitslage hat sich. seitdem die territoriale Kontrolle des IS gebrochen wurde. verbessert (CRS 4.10.2018; vgl. MIGRI 6.2.2018). IS-Kämpfer sind jedoch weiterhin in manchen Gebieten aktiv. die Sicherheitslage ist veränderlich (CRS 4.10.2018).

Derzeit ist es staatlichen Stellen nicht möglich. das Gewaltmonopol des Staates sicherzustellen. Insbesondere schiitische Milizen. aber auch sunnitische Stammesmilizen handeln eigenmächtig. Die im Kampf gegen den IS mobilisierten. zum Teil vom Iran unterstützten Milizen sind nur eingeschränkt durch die Regierung kontrollierbar und stellen eine potenziell erhebliche Bedrohung für die Bevölkerung dar. Durch die teilweise Einbindung der Milizen in staatliche Strukturen (zumindest formaler Oberbefehl des Ministerpräsidenten. Besoldung aus dem Staatshaushalt) verschwimmt die Unterscheidung zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren (AA 12.2.2018)

In der Wirtschaftsmetropole Basra im Süden des Landes können sich die staatlichen Ordnungskräfte häufig nicht gegen mächtige Stammesmilizen mit Verbindungen zur Organisierten Kriminalität durchsetzen. Auch in anderen Landesteilen ist eine Vielzahl von Gewalttaten mit rein kriminellem Hintergrund zu beobachten (AA 12.2.2018). Insbesondere in Bagdad kommt es zu Entführungen durch kriminelle Gruppen. die Lösegeld für die Freilassung ihrer Opfer fordern (MIGRI 6.2.2018).

Islamischer Staat (IS)

Seitdem der IS Ende 2017 das letzte Stück irakischen Territoriums verlor. hat er drei Phasen durchlaufen: Zunächst kam es für einige Monate zu einer Phase remanenter Gewalt; dann gab es einen klaren taktischen Wandel, weg von der üblichen Kombination aus Bombenanschlägen und Schießereien, zu einem Fokus auf die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes. Die Kämpfer formierten sich neu und im Zuge dessen kam es zu einem starken Rückgang an Angriffen. Jetzt versucht der IS, die Kontrolle über die ländlichen Gebiete im Zentrum des Landes und über Grenzgebiete zurückzuerlangen. Gleichzeitig verstärkt er die direkte Konfrontation mit den Sicherheitskräften (Joel Wing 3.7.2018). Im September 2018 fanden die IS-Angriffe wieder vermehrt in Bagdad statt und es ist eine Rückkehr zu Selbstmordanschlägen und Autobomben feststellbar (Joel Wing 6.10.2018).

Mit Stand Oktober 2018 waren Einsätze der irakischen Sicherheitskräfte gegen IS-Kämpfer in den Provinzen Anbar, Ninewa, Diyala und Salah al-Din im Gang. Ziel war es, den IS daran zu hindern sich wieder zu etablieren und ihn von Bevölkerungszentren fernzuhalten. Irakische Beamte warnen vor Bemühungen des IS, Rückzugsorte in Syrien für die Infiltration des Irak zu nutzen. Presseberichte und Berichte der US-Regierung sprechen von anhaltenden IS-Angriffen, insbesondere in ländlichen Gebieten von Provinzen, die vormals vom IS kontrolliert wurden (CRS 4.10.2018; vgl. ISW 2.10.2018, Atlantic 31.8.2018, Jamestown 28.7.2018, Niqash 12.7.2018). In diesen Gebieten oder in Gebieten, in denen irakische Sicherheitskräfte abwesend sind, kommt es zu Drohungen, Einschüchterungen und Tötungen durch IS-Kämpfer, vor allem nachts (CRS 4.10.2018).

Es gibt immer häufiger Berichte über Menschen, die aus Dörfern in ländlichen Gebieten, wie dem Bezirk Khanaqin im Nordosten Diyalas, fliehen. Ortschaften werden angegriffen und Steuern vom IS erhoben. Es gibt Gebiete, die in der Nacht No-go-Areas für die Sicherheitskräfte sind und IS-Kämpfer, die sich tagsüber offen zeigen. Dies geschieht trotz ständiger Razzien durch die Sicherheitskräfte, die jedoch weitgehend wirkungslos sind (Joel Wing 6.10.2018)

Die Extremisten richten auch falsche Checkpoints ein, an denen sie sich als Soldaten ausgeben, Autos anhalten und deren Insassen entführen, töten oder berauben (Niqash 12.7.2018; vgl. WP 17.7.2018)

Das Hauptproblem besteht darin, dass es in vielen dieser ländlichen Gebiete wenig staatliche Präsenz gibt und die Bevölkerung eingeschüchtert wird (Joel Wing 6.10.2018). Sie kooperiert aus Angst nicht mit den Sicherheitskräften. Im vergangenen Jahr hat sich der IS verteilt und in der Zivilbevölkerung verborgen. Kämpfer verstecken sich an den unzugänglichsten Orten: in Höhlen, Bergen und Flussdeltas. Der IS ist auch zu jenen Taktiken zurückgekehrt, die ihn 2012 und 2013 zu einer Kraft gemacht haben: Angriffe, Attentate und Einschüchterungen, besonders nachts. In den überwiegend sunnitischen Provinzen, in denen der IS einst dominant war (Diyala, Salah al-Din und Anbar), führt die Gruppe nun wieder Angriffe von großer Wirkung durch (Atlantic 31.8.2018).

Sicherheitsrelevante Vorfälle, Opferzahlen

Der Irak verzeichnet derzeit die niedrigste Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen seit dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 (Joel Wing 5.4.2018). Die Sicherheitslage ist in verschiedenen Teilen des Landes sehr unterschiedlich, insgesamt hat sich die Lage jedoch verbessert (MIGRI 6.2.2018)

So wurden beispielsweise im September 2018 vom Irak-Experten Joel Wing 210 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 195 Todesopfern im Irak verzeichnet. Dem standen im September des Jahres 2017 noch 306 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 728 Todesopfern gegenüber. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen im September 2018 waren Bagdad mit 65 Vorfällen, Diyala mit 36, Kirkuk mit 31, Salah al-Din mit 21, Ninewa mit 18 und Anbar mit 17 Vorfällen (Joel Wing 6.10.2018).

Die folgende Grafik von ACCORD zeigt, im linken Bild, die Anzahl sicherheitsrelevanter Vorfälle mit mindestens einem Todesopfer im zweiten Quartal 2018, nach Provinzen aufgeschlüsselt. Auf der rechten Karte ist die Zahl der Todesopfer im Irak, im zweiten Quartal 2018, nach Provinzen aufgeschlüsselt, dargestellt (ACCORD 5.9.2018).

AK, 2. QUARTAL 2018:

Kurzübersicht über Vorfälle aus dem Armed Conflict Location & Event Data Project (ACLED) zusammengestellt von ACCORD, 5. September 2018

Anzahl der berichteten Vorfälle mit Bild kann nicht dargestellt werden

mindestens einem Todesopfer

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Quelle: ACCORD (5.9.2018): Irak, 2. Quartal 2018: Kurzübersicht über Vorfälle aus ACLED, https:// www.ecoi.net/en/file/local/1442566/1930 1536217374 2018a2iraa-de.pdf. Zugriff 29.10.2018

Laut Angaben von UNAMI. der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen im Irak. wurden im September 2018 im Irak insgesamt 75 irakische Zivilisten durch Terroranschläge. Gewalt und bewaffnete Konflikte getötet und weitere 179 verletzt (UNAMI 1.10.2018). Insgesamt verzeichnete UNAMI im Jahr 2017 3.298 getötete und 4.781 verwundete Zivilisten. Nicht mit einbezogen in diesen Zahlen waren zivile Opfer aus der Provinz Anbar im November und Dezember 2017. für die keine Angaben verfügbar sind. Laut UNAMI handelt es sich bei den Zahlen um absolute Mindestangaben. da die Unterstützungsmission bei der Überprüfung von Opferzahlen in bestimmten Gebieten eingeschränkt ist (UNAMI 2.1.2018). Im Jahr 2016 betrug die Zahl getöteter Zivilisten laut UNAMI noch 6.878 bzw. die verwundeter Zivilisten 12.388. Auch diese Zahlen beinhalten keine zivilen Opfer aus Anbar für die Monate Mai. Juli. August und Dezember (UNAMI 3.1.2017)

Die folgenden Grafiken von Iraq Body Count (IBC) stellen die von IBC im Irak dokumentierten zivilen Todesopfer dar. Seit Februar 2017 sind nur vorläufige Zahlen (in grau) verfügbar. Das erste Diagramm stellt die von IBC dokumentierten zivilen Todesopfer im Irak seit 2003 dar (pro Monat jeweils ein Balken). Die zweite Tabelle gibt die Zahlen selbst an. Laut Tabelle. dokumentierte IBC im September 2018 241 zivile Todesopfer im Irak. Im September 2017 betrug die Zahl von IBC dokumentierter ziviler Todesopfer im Irak 490; im September 2016

935. Insgesamt dokumentierte IBC von Januar bis September 2018 2.699 getötete Zivilisten im Irak. Im Jahr 2017 dokumentierte IBC 13.178 zivile Todesopfer im Irak; im Jahr 2016 betrug diese Zahl 16.393 (IBC 9.2018).

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Quelle: IBC - Iraq Body Count (9.2018): Database - Documented civilian deaths from violence,

https://www.iraqbodycount.org/database/. Zugriff 31.10.2018

Monthly civilian deaths from violence, 2003 onwards

 

Jan

Feb

Mar

Apr

May

Jun

Jul

Aug

Sep

Oct

Nov

Dec

 

2003

3

2

3977

3438

545

597

646

833

566

515

487

524

12,133

2004

610

663

1004

1303

655

909

834

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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