TE Vwgh Erkenntnis 2019/8/28 Ra 2018/14/0374

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Veröffentlicht am 28.08.2019
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Index

E1P
19/05 Menschenrechte
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §8
BFA-VG 2014 §21 Abs7
MRK Art6
12010P/TXT Grundrechte Charta Art47

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätin Mag. Rossmeisel, den Hofrat Dr. Faber und die Hofrätin Mag. Schindler als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Schweinzer, über die Revision des X Y, vertreten durch Dr. Thomas Herzka, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Stubenring 14/3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. November 2018, I406 1232035-2/7E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird im Umfang der Abweisung der Beschwerde gegen die Spruchpunkte II., IV. und V. des bekämpften Bescheides wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Nigeria, stellte am 16. Dezember 2013 den gegenständlichen dritten Antrag auf internationalen Schutz. Begründend brachte er vor, seine bisherigen Fluchtgründe - Verfolgung durch seinen Onkel auf Grund von Erbschaftsstreitigkeiten - seien weiterhin aufrecht. Überdies sei er seit dem Jahr 2010 psychisch krank und benötige zum Überleben regelmäßige medizinische, insbesondere medikamentöse Behandlung, die er in Nigeria nicht bekomme. Er habe dort niemand, der sich um ihn kümmern und für die Behandlung bezahlen würde. 2 Mit Bescheid vom 13. September 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) den Antrag des Revisionswerbers sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab (Spruchpunkt II.), erteilte ihm keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 (Spruchpunkt III.), erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV.), stellte fest, dass seine Abschiebung nach Nigeria zulässig sei (Spruchpunkt V.), sprach aus, dass keine Frist für die freiwillige Ausreise bestehe (Spruchpunkt VI.), erkannte einer Beschwerde gegen die Entscheidung über den Antrag auf internationalen Schutz die aufschiebende Wirkung ab (Spruchpunkt VII.) und erließ gegen den Revisionswerber ein befristetes Einreiseverbot (Spruchpunkt VIII.).

3 Zur medizinischen Versorgung im Herkunftsstaat stellte das BFA unter Heranziehung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation fest, es gebe in Nigeria eine näher genannte Zahl von Psychiatern und psychiatrischen Krankenhäusern und Kliniken. Es existiere "kein mit deutschen Standards vergleichbares Psychiatriewesen, sondern allenfalls Verwahreinrichtungen auf sehr niedrigem Niveau, in denen Menschen mit psychischen Erkrankungen oft gegen ihren Willen untergebracht werden, aber nicht adäquat behandelt werden können". Rückkehrer fänden in den Großstädten eine medizinische Grundversorgung vor. Es gebe eine allgemeine Krankenversicherung, die jedoch nur für Beschäftigte im formellen Sektor gelte. Leistungen der Krankenversicherung kämen schätzungsweise nur zehn Prozent der Bevölkerung zugute. Medikamente seien verfügbar, könnten aber je nach Art teuer sein. Die staatliche Gesundheitsversorgung gewährleiste keine kostenfreie Medikamentenversorgung. Jeder Patient müsse - auch im Krankenhaus - Medikamente selbst besorgen bzw. dafür selbst aufkommen. Hilfsorganisationen, die für notleidende Patienten die Kosten übernähmen, seien nicht bekannt. 4 Einer Anfragebeantwortung der Staatendokumentation über die in Nigeria vorhandene und übliche Behandlungsweise für psychische Erkrankungen und die dazugehörige Medikation sei zu entnehmen, dass für den Revisionswerber adäquate Behandlung zu erhalten sei. In Nigeria seien "alle angefragten Wirkstoffe" verfügbar. In Lagos bzw. Abuja seien stationäre und ambulante Behandlung durch einen Psychiater, stationäre Dauerunterbringung für chronisch psychisch Kranke sowie Zwangseinweisung bei Notwendigkeit, stationäre Behandlung in einer geschlossenen Anstalt und klinische Langzeitbehandlung durch einen Psychiater verfügbar. Der Revisionswerber sei arbeitsfähig und arbeitswillig. Es sei daher davon auszugehen, dass er im Fall einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat nicht in eine die Existenz bedrohende Notlage geraten würde.

5 In der dagegen erhobenen Beschwerde bestritt der Revisionswerber die Verfügbarkeit und den faktischen Zugang zu den für ihn notwendigen Medikamenten. Die im Bescheid des BFA herangezogene Anfragebeantwortung der Staatendokumentation sei nur auszugsweise abgedruckt. Es fehlten Quellenangaben und Informationen über die Kosten der Medikamente. Es sei auch nicht nachvollziehbar, auf welchen Zeitraum sich diese Informationen beziehen würden. Unter Anführung von Länderinformationen wurde in der Beschwerde weiter vorgebracht, die Länderfeststellungen zur Behandlung psychischer Erkrankungen in Nigeria seien mangelhaft bzw. unvollständig. Für den Revisionswerber wäre es auf Grund seiner psychischen Erkrankung nur schwer möglich, eine regelmäßige Arbeit aufzunehmen und ausreichend Geld zu verdienen, um sich die notwendigen Medikamente leisten zu können. Er verfüge auch nicht im ausreichenden Ausmaß über ein unterstützendes soziales Netzwerk und wäre daher faktisch vom Zugang zu der von ihm benötigten Behandlung ausgeschlossen. Auf Grund seiner Erkrankung sei er nicht in der Lage, auf sich alleine gestellt für sich zu sorgen und hätte keinen Zugang zu grundlegender Versorgung wie Wohnraum, Erwerbsmöglichkeiten oder medizinischer Versorgung. 6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) der Beschwerde des Revisionswerbers hinsichtlich von Spruchpunkt VIII. des Bescheides des BFA (Erlassung eines Einreiseverbotes) statt und behob diesen Ausspruch. Im Übrigen wies es die Beschwerde - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet ab und sprach aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. 7 Das BVwG führte zur Lage im Herkunftsstaat aus, es seien keine entscheidungsmaßgeblichen Änderungen gegenüber dem Bescheid des BFA eingetreten. Das BVwG gab die Länderfeststellungen dieses Bescheides wieder und schloss sich diesen vollinhaltlich an. Zur Person des Revisionswerbers stellte das BVwG fest, dieser leide seit dem Jahr 2010 an einer psychischen Erkrankung, wobei von seinen behandelnden Fachstellen unterschiedliche, näher genannte Diagnosen gestellt worden seien. Eine ambulante und stationäre Behandlung sei in Nigeria möglich, auch die erforderlichen Medikamente seien dort erhältlich. Diese Feststellungen ergäben sich beweiswürdigend aus den Länderberichten der Staatendokumentation zu Nigeria sowie der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu Nigeria betreffend psychische Probleme. Die Feststellungen zur Verfügbarkeit der vom Revisionswerber benötigten Medikamente oder von Medikamenten, die sich als Ersatz eigneten, resultiere aus einem Abgleich dieser Anfragebeantwortung mit einer vom Revisionswerber vorgelegten Medikamentenliste. Der Revisionswerber sei trotz seiner Erkrankung arbeitswillig und arbeitsfähig. Er habe in seinen bisherigen Asylverfahren abweichende Angaben in Bezug auf in seiner Heimat vorhandene familiäre Anknüpfungspunkte gemacht. Festgestellt werde jedoch, dass er seinen Lebensunterhalt in Nigeria bis zu seiner Ausreise durch Zuwendungen seiner Familie bestritten habe.

8 In rechtlicher Hinsicht folgerte das BVwG, die Erkrankungen des Revisionswerbers ließen keine außergewöhnlichen Umstände im Sinne des Art. 3 EMRK erkennen, die eine Rückkehr in seinen Herkunftsstaat unzumutbar erscheinen ließen. Es ergäben sich auch keine Hinweise dafür, dass der grundsätzlich arbeitsfähige Revisionswerber nach einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat einer existenzbedrohenden Notlage ausgesetzt wäre. Er werde den notwendigen Lebensunterhalt in seiner Heimat durch die Aufnahme einer seinen Fähigkeiten entsprechenden Erwerbstätigkeit und gegebenenfalls auch durch Zuwendungen seiner Familie bestreiten können.

9 Gegen dieses Erkenntnis, insoweit damit die Beschwerde über die Nichtgewährung des Status des subsidiär Schutzberechtigten, die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und die Feststellung der Zulässigkeit der Abschiebung abgewiesen wurde, richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision. Der Verwaltungsgerichtshof hat darüber nach Einleitung des Vorverfahrens, in dem eine Revisionsbeantwortung nicht erstattet wurde, erwogen:

10 Die Revision bringt zu ihrer Zulässigkeit u.a. vor, das BVwG sei von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, weil es zu Unrecht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen habe. Der Revisionswerber habe den vom BFA festgestellten Sachverhalt substantiiert bestritten, sodass der Sachverhalt nicht als geklärt erachtet werden konnte. Das BVwG habe sich auch nicht mit den Auswirkungen einer Abschiebung auf den Gesundheitszustand des Revisionswerbers und den Folgen einer fehlenden bzw. mangelhaften Behandlung befasst. Die herangezogenen Länderberichte zeigten kein klares Bild von der tatsächlichen medizinischen Versorgung psychisch kranker Menschen in Nigeria und der realen Zugänglichkeit der vorhandenen Behandlungsmöglichkeiten. Das BVwG habe daher auch gegen seine Ermittlungspflicht verstoßen.

11 Die Revision ist zulässig und auch begründet.

12 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA-VG geklärt erscheint und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:

13 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 4.3.2019, Ra 2018/14/0289, mwN).

14 Diese Voraussetzungen lagen im gegenständlichen Fall nicht vor. Der Revisionswerber hat in seiner Beschwerde die Länderfeststellungen des BFA in Bezug auf die Gesundheitsversorgung von psychisch Kranken in Nigeria unter Zitierung von entgegenstehenden Länderberichten bestritten. Ebenso hat der Revisionswerber unter Hinweis auf seine psychische Erkrankung vorgebracht, dass er entgegen der Annahme des BFA nicht erwerbsfähig sei und in Nigeria auch über kein soziales Netzwerk verfüge, sodass er nicht in der Lage wäre, die für ihn notwendige Behandlung zu finanzieren.

15 Sohin lagen die Voraussetzungen für die Abstandnahme von der beantragten Verhandlung nicht vor. Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und - wie hier gegeben - des Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. VwGH 27.6.2019, Ra 2018/14/0303, mwN). 16 Das angefochtene Erkenntnis war daher im Umfang der Abweisung der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des bekämpften Bescheides (Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten) gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen einzugehen war. Damit verlieren der Ausspruch über die Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV. des bekämpften Bescheides) sowie der auf die Rückkehrentscheidung aufbauende Ausspruch über die Zulässigkeit der Abschiebung (Spruchpunkt V. des bekämpften Bescheides) - diese Aussprüche wurden ebenfalls in Revision gezogen - ihre Grundlage (vgl. VwGH 21.5.2019, Ro 2019/19/0006). Das angefochtene Erkenntnis war daher auch in diesem Umfang, also hinsichtlich der Abweisung der Beschwerde gegen die Spruchpunkte IV. und V., gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

17 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. 18 Von der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.

Wien, am 28. August 2019

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018140374.L01

Im RIS seit

03.10.2019

Zuletzt aktualisiert am

03.10.2019
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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