TE Vwgh Erkenntnis 2019/8/28 Ra 2018/14/0241

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Veröffentlicht am 28.08.2019
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Index

19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §8
AVG §68 Abs1
BFA-VG 2014 §21 Abs7
BFA-VG 2014 §9
MRK Art8

Beachte

Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ra 2018/14/0242Ra 2018/14/0243Ra 2018/14/0244Ra 2018/14/0245Ra 2018/14/0246Ra 2018/14/0247

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Präsident Dr. Thienel, den Hofrat Mag. Eder, die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Dr.in Lachmayer sowie den Hofrat Dr. Faber als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Schweinzer, über die Revisionen 1. der A B, 2. der C D, 3. des E F,

4. der G H, 5. des I J, 6. des K L, und 7. des M N, alle in X, alle vertreten durch Dr. Julia Hauswirth-Kleiber, Rechtsanwältin in 1190 Wien, Heiligenstädter Straße 28/3, gegen die Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts vom 16. Oktober 2018, Zlen. 1. W226 2203070-1/9E, 2. W226 2203072-1/8E, 3. W226 2203068- 1/8E, 4. W226 2203074-1/8E , 5. W226 2203075-1/8E, 6. W226 2203065- 1/8E und 7. W226 2203063-1/8E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl),

Spruch

I. zu Recht erkannt:

Die angefochtenen Erkenntnisse werden, soweit die Beschwerden der Revisionswerber in Bezug auf die gegen sie erlassenen Rückkehrentscheidungen, die Feststellung der Zulässigkeit ihrer Abschiebung in die Russische Föderation und die Verweigerung einer Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wurden, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat den Revisionswerbern Aufwendungen in der Höhe von jeweils EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

II. den Beschluss gefasst:

Im Übrigen werden die Revisionen zurückgewiesen.

Begründung

1 Die Erstrevisionswerberin ist Mutter der minderjährigen Zweit- bis Siebtrevisionswerber. Alle sind Staatsangehörige der Russischen Föderation.

2 Die Erstrevisionswerberin stellte für sich und die Zweit- und Drittrevisionswerber am 7. November 2009 sowie für die in Österreich geborene Viertrevisionswerberin am 8. Oktober 2012 einen Antrag auf internationalen Schutz. Mit Bescheiden des Bundesasylamtes vom 26. Juli 2010 (betreffend die Erst- bis Drittrevisionswerber) und vom 29. Oktober 2012 (betreffend die Viertrevisionswerberin) wurden diese Anträge abgewiesen und die Erst- bis Viertrevisionswerber aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen. 3 Mit Erkenntnissen des Asylgerichtshofes vom 8. Juli 2013 wurden die dagegen erhobenen Beschwerden der Erst- bis Viertrevisionswerber als unbegründet abgewiesen. Ein Antrag der Erstrevisionswerberin auf Wiederaufnahme des rechtskräftig abgeschlossenen Asylverfahrens wurde mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vom 7. Mai 2014 zurückgewiesen. 4 Für den im Oktober 2013 geborenen Fünftrevisionswerber wurde am 20. November 2013 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 17. März 2014 wurde dieser Antrag abgewiesen, kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung des Fünftrevisionswerbers in die Russische Föderation zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des BVwG vom 19. September 2014 als unbegründet abgewiesen.

5 Für den im Jahr 2014 geborenen Sechstrevisionswerber wurde am 11. November 2014 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

6 Am 20. Dezember 2014 stellte die Erstrevisionswerberin für sich und die Zweit- bis Fünftrevisionswerber Folgeanträge auf internationalen Schutz. Diese Asylverfahren wurden zugelassen. 7 Für den Siebtrevisionswerber, der im Dezember 2015 in Österreich geboren wurde, wurde am 20. Jänner 2016 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

8 Mit Bescheiden des BFA vom 21. Juni 2018 wurden die Folgeanträge der Erst- bis Fünftrevisionswerber sowohl hinsichtlich des Status der Asylberechtigten als auch hinsichtlich des Status der subsidiär Schutzberechtigten wegen entschiedener Sache gemäß § 68 Abs. 1 AVG zurückgewiesen. Es wurden keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen erteilt, Rückkehrentscheidungen erlassen und festgestellt, dass die Abschiebung der Revisionswerber in die Russische Föderation zulässig sei. Es bestehe keine Frist für die freiwillige Ausreise. 9 Mit Bescheiden ebenfalls vom 21. Juni 2018 wies das BFA die Anträge der Sechst- und Siebtrevisionswerber ab, erteilte keine Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ Rückkehrentscheidungen und stellte fest, dass die Abschiebung der Revisionswerber in die Russische Föderation zulässig sei. 10 Die dagegen erhobenen Beschwerden wurden mit den in Revision gezogenen Erkenntnissen des BVwG vom 16. Oktober 2018 - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - als unbegründet abgewiesen. Die Revisionen wurden gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG für nicht zulässig erklärt.

11 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die dagegen erhobenen Revisionen nach Vorlage derselben und der Verfahrensakten sowie nach Durchführung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - erwogen:

12 Die Revisionswerber bringen zur Zulässigkeit ihrer Revisionen - auf das Wesentliche zusammengefasst - vor, ihnen würde aufgrund der Sippenhaftung, der Unterstellung einer politisch-feindlichen Gesinnung, ihrer (zumindest unterstellten) politischen westlich-liberalen Gesinnung sowie aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der als verwestlicht wahrgenommenen Personen in Tschetschenien Verfolgung drohen. Insbesondere die Zweitrevisionswerberin habe "klar" ausgeführt, dass sie in Österreich ein selbstbestimmtes Leben führe und ihre "weitreichenden Grundrechte" in Anspruch nehmen wolle. Die Zweitbis Siebtrevisionswerber seien weder der tschetschenischen noch der russischen Sprache hinreichend mächtig und es würde diesen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden und weitreichende Diskriminierung drohen, weshalb ihnen zumindest subsidiärer Schutz zu gewähren sei. Die Entscheidungen des BVwG würden auf einer unschlüssigen Beweiswürdigung beruhen. Im Hinblick auf die Erst- bis Fünftrevisionswerber habe das BVwG verkannt, dass ein geänderter Sachverhalt im Sinn des § 68 AVG vorliege, dem Entscheidungsrelevanz zukomme. Das BVwG habe auch zu Unrecht von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen. In den Beschwerden sei ausdrücklich die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragt worden, deren Notwendigkeit sei hinreichend begründet sowie ein substantiiertes neues Sachverhaltsvorbringen erstattet worden. Der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen komme insbesondere auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK relevanten Umstände besondere Bedeutung zu. Das BVwG habe zudem durch die fehlende mündliche Verhandlung das Parteiengehör und den Unmittelbarkeitsgrundsatz verletzt. Bei Abwägung der Kriterien nach § 9 BFA-VG sei jedenfalls von einem Überwiegen der persönlichen Interessen der Revisionswerber auszugehen.

13 Mit dem oben wiedergegebenen, sich auf die Abweisung der Anträge auf internationalen Schutz beziehenden, aber bloß pauschalen Vorbringen, wird keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgezeigt.

14 Wenn sich die Revisionen in diesem Zusammenhang auch gegen die beweiswürdigenden Erwägungen des BVwG wenden, ist auf die ständige Rechtsprechung zu verweisen, wonach der Verwaltungsgerichtshof als Rechtsinstanz tätig und im Allgemeinen nicht zur Überprüfung der Beweiswürdigung im Einzelfall berufen ist. Im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung liegt eine Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung nur dann vor, wenn das Verwaltungsgericht die Beweiswürdigung in einer die Rechtssicherheit beeinträchtigenden, unvertretbaren Weise vorgenommen hat (vgl. etwa VwGH 28.2.2019, Ra 2018/14/0178, 0179, mwN). Eine solche Unvertretbarkeit der Beweiswürdigung vermögen die Revisionswerber nicht aufzuzeigen. Sowohl das BFA als auch das BVwG haben sich insbesondere mit der vorgebrachten "Verwestlichung" der Zweitrevisionswerberin auseinandergesetzt und kamen zu dem Ergebnis, dass diese aufgrund ihrer Lebensweise in ihrer Heimat nicht verfolgt werden würde. Dass die diesbezügliche Beweiswürdigung an einer vom Verwaltungsgerichtshof aufzugreifenden Mangelhaftigkeit leidet, wird nicht dargetan. 15 Der Beurteilung des BVwG, wonach in den Folgeanträgen kein neuer Sachverhalt behauptet worden sei, halten die Erst- bis Fünftrevisionswerber in Bezug auf die Gewährung von internationalem Schutz nichts Stichhaltiges entgegen. Somit wird auch mit diesem Vorbringen keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung aufgezeigt.

16 Die Revisionen waren daher, insoweit sie die Entscheidungen über den internationalen Schutz betreffen, gemäß § 34 Abs. 1 und Abs. 3 VwGG - in einem gemäß § 12 Abs. 2 VwGG gebildeten Senat - zurückzuweisen.

17 Die Revisionen erweisen sich allerdings im Hinblick auf die übrigen Aussprüche aus folgenden Erwägungen als zulässig und auch begründet:

18 Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn dieser Bestimmung "geklärt erscheint" folgende Kriterien beachtlich:

19 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht muss die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, sowie aus der folgenden Rechtsprechung etwa VwGH 28.2.2019, Ra 2018/14/0366, mwN).

20 Von einem geklärten Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA-VG kann bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht von ihm einen persönlichen Eindruck verschafft (vgl. etwa VwGH 21.5.2019, Ra 2018/19/0500, mwN). 21 Von einem solchen eindeutigen Fall kann im gegenständlichen Fall insbesondere im Hinblick auf den im Entscheidungszeitpunkt knapp dreizehnjährigen Drittrevisionswerber und die vierzehnjährige Zweitrevisionswerberin, die sich seit 1. November 2009, im Bundesgebiet aufhalten, allerdings nicht gesprochen werden. Die Revisionswerber erstatteten in der Beschwerde substantiiertes Vorbringen im Hinblick auf die im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigende Umstände. 22 Sohin lagen die Voraussetzungen für die Abstandnahme von der mündlichen Verhandlung nicht vor.

23 Die angefochtenen Erkenntnisse waren daher, soweit sie die Rückkehrentscheidungen und die rechtlich davon abhängenden Entscheidungen betreffen, gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG aufzuheben. 24 Von der Durchführung der von den Revisionswerbern beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden. 25 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 28. August 2019

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018140241.L00

Im RIS seit

10.10.2019

Zuletzt aktualisiert am

10.10.2019
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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