Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Kalivoda als Vorsitzende und die Hofrätinnen und Hofräte Hon.-Prof. Dr. Höllwerth, Dr. Solé, Mag. Malesich und MMag. Matzka als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei mj A***** S*****, geboren am ***** 2003, vertreten durch die Mutter M***** S*****, vertreten durch die Frysak & Frysak Rechtsanwalts-Partnerschaft in Wien, gegen die beklagte Partei P***** d.d., *****, Kroatien, vertreten durch die Hule Bachmayr-Heyda Nordberg Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen 5.195 EUR sA und Feststellung, über den Rekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Handelsgerichts Wien als Berufungsgericht vom 5. März 2019, GZ 1 R 376/18t-32, womit das Urteil des Bezirksgerichts für Handelssachen Wien vom 26. September 2018, GZ 11 C 345/17s-28, aufgehoben wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Rekurs wird nicht Folge gegeben.
Die Kosten des Rekursverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Die damals zwölf Jahre alte Klägerin entdeckte nach dem Öffnen einer von der Beklagten hergestellten Konservendose mit Hühner-Frühstücksfleisch darin ein etwa 1 x 1 cm großes Metallstück. Sie wurde durch den Metallteil, der sich schon in ihrem Mund befand, körperlich nicht verletzt, entwickelte seitdem aber eine krankheitswertige psychische Zwangsstörung (Kontrollzwang). Sie untersucht jede Mahlzeit, weil sie Angst hat, dass sich darin wieder ein Fremdkörper befinden könnte, und püriert die Nahrung vor dem Verzehr. Das Auffinden des Metallstücks ist in einem Ausmaß von 10 bis 15 % für die Entstehung ihrer Erkrankung verantwortlich.
Die Klägerin begehrt, gestützt auf das Produkthaftungsgesetz (PHG), von der Beklagten als Herstellerin Schmerzengeld, Behandlungskosten und die Feststellung der Haftung für künftige Schäden. Sie habe erst durch den Vorfall massive psychische Schäden erlitten.
Die Beklagte bestritt und brachte vor, die behauptete Verunreinigung könne produktions- und kontrollbedingt ausgeschlossen werden. Selbst wenn sich der Vorfall so wie behauptet ereignet hätte, sei die psychische Erkrankung nicht, jedenfalls nicht adäquat dadurch verursacht worden. Es sei naheliegender und wahrscheinlicher, dass eine Erkrankung der Klägerin andere Ursachen habe.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Der Vorfall sei zwar kausal für die Erkrankung der Klägerin, Adäquanz sei aber zu verneinen, weil ein gänzlich außerhalb der Lebenserfahrung liegender Kausalverlauf vorliege. Dazu, dass ein anderes Ereignis, etwa die Veranlagung, denselben Erfolg später herbeigeführt hätte, und demnach zu einem in der Vorverlagerung des Schadenseintritts liegenden Schaden geführt hätte, habe die Beklagte kein Vorbringen erstattet.
Das Berufungsgericht hob dieses Urteil auf und verwies die Sache zur Verfahrensergänzung zur Höhe des Klagebegehrens sowie zu allfälligen künftigen Folgen des Vorfalls und neuerlichen Entscheidung an das Erstgericht zurück. Es bejahte die Adäquanz, weil der Schädiger auch für die Folgen einer anlagebedingten, aber durch einen Vorfall ausgelösten Neurose hafte. Hier habe der Vorfall im Zusammenwirken mit einer persönlichen Prädisposition das Zustandsbild der Klägerin (mit-)ausgelöst. Auch wenn das auslösende Ereignis keine besondere traumatische Qualität aufweise, sei der Zustand doch eine adäquate Unfallfolge. Ein Vorbringen dahin, dass durch die Persönlichkeitsstruktur der Klägerin auch ohne den Vorfall in absehbarer Zeit der gleiche gesundheitliche Schaden herbeigeführt worden wäre, sei nicht erstattet worden.
Das Berufungsgericht ließ den Rekurs nach § 519 Abs 1 Z 2 ZPO zu, weil der Oberste Gerichtshof bislang mit einer solchen Fallkonstellation nicht befasst worden sei und die vorgefundenen Entscheidungen zur Haftung für die Folgen von anlagebedingten, aber durch den Unfall ausgelösten Neurosen bereits erhebliche Zeit zurücklägen.
Im Rekurs der Beklagten wird die Wiederherstellung des erstgerichtlichen Urteils beantragt.
Die Klägerin beantragt, den Rekurs zurückzuweisen, hilfsweise ihm nicht Folge zu geben.
Der Rekurs ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig; er ist jedoch nicht berechtigt.
Die Rekurswerberin macht geltend, das Berufungsverfahren sei iSd §§ 182 f ZPO mangelhaft geblieben, weil sie das Berufungsgericht mit ihrer Rechtsansicht zur überholenden Kausalität überrascht habe. Das Schadensereignis sei nicht in hohem Maße geeignet gewesen, die Krankheitsfolgen herbeizuführen. Die Verursachung der Krankheit der Klägerin durch den Vorfall liege außerhalb jeglicher Lebenserfahrung; dies festzustellen sei verabsäumt worden.
Rechtliche Beurteilung
Dazu wurde erwogen:
1.1. Für die Schadenszurechnung kommt es zunächst auf die nach der Äquivalenztheorie zu ermittelnde Kausalität an (vgl RS0109228). Nach dieser Theorie ist nach der Formel von der conditio sine qua non zu prüfen, ob der Schaden ohne das schädigende Ereignis nicht eingetreten wäre (2 Ob 78/07w mwN). Ob dieser natürliche Kausalzusammenhang gegeben ist, ist eine Tatsachenfeststellung (
vgl RS0022582).
1.2. Hier steht – von der Rekurswerberin in ihrer Berufungsbeantwortung nicht nur ungerügt, sondern ausdrücklich bekräftigt – fest, dass der auf den Produktfehler zurückzuführende Vorfall die Erkrankung der Klägerin in einem Ausmaß von 10 bis 15 % verursachte.
2.1. Die Beurteilung der Adäquanz eines an sich gegebenen Ursachenzusammenhangs ist dagegen ein Akt der rechtlichen Beurteilung (RS0022582 [T2, T15]).
2.2. Der im Rekurs gerügte rechtliche Feststellungsmangel liegt daher nicht vor.
3.1. Im Anwendungsbereich des PHG obliegt dem Kläger der Beweis des Produktfehlers und des Kausalzusammenhangs zwischen Produktfehler und Schaden; dabei genügt jedenfalls die nach allgemeinen Grundsätzen zu beurteilende adäquate Verursachung des Schadens durch das fehlerhafte Produkt (RS0117103 [insb T3]; Rabl, PHG [2016] § 1 Rz 223 f).
Ein Schaden ist schon dann adäquat verursacht, wenn die generelle Eignung der Ursache, den Schaden herbeizuführen, nicht außerhalb der allgemeinen menschlichen Erfahrung liegt (
RS0112489 [T1]). Bei der Beurteilung der adäquaten Kausalität ist eine wertende Betrachtung der Gesamtumstände im konkreten Einzelfall geboten (RS0081105).
3.2. Eine Verletzung iSd § 1325 ABGB ist jede Beeinträchtigung der körperlichen oder geistigen Gesundheit und Unversehrtheit. Dass äußerlich sichtbare Verletzungen eingetreten sind, ist nicht erforderlich; schon das (bloße) Verursachen von Schmerzen ist Körperverletzung, mag der Körper auch keine nachteiligen Veränderungen erleiden (RS0030792). Entgegen der Ansicht im Rekurs der Beklagten ist daher eine körperliche Verletzung nicht Voraussetzung für die Bejahung der Adäquanz.
Dass ein Ereignis wie hier eine krankheitswertige psychische Zwangsstörung (zumindest mit-)auslösen kann, liegt nicht außerhalb jedweder vorhersehbaren Erfahrung. Die Adäquanz ist daher hier zu bejahen.
4. Entgegen dem Rekursvorbringen kommt es nicht darauf an, ob die Verletzungshandlung typischerweise in hohem Maß geeignet erscheint, einen Schockschaden herbeizuführen, weil es hier nicht um Schadenersatzansprüche von Angehörigen geht (vgl RS0116866), sondern um Ansprüche einer direkt Geschädigten.
5.1. Das Risiko einer für den Schaden mitursächlichen Anlage des Geschädigten hat – mit der Grenze der (hier abschließend geklärten) Adäquanz – der schuldhaft und kausal handelnde Schädiger zu tragen (RS0022746 [T9]). Aus diesem Grund bleibt der Schädiger grundsätzlich für den gesamten Schadenserfolg verantwortlich, wenn zwei Umstände nur zusammen, beispielsweise eine unmittelbar durch den Unfall herbeigeführte Verletzung zusammen mit einer besonderen Veranlagung des Verletzten, die Schwere des Verletzungserfolgs bedingen (RS0022684). Der Unterschied zwischen der kumulativen und der überholenden Kausalität besteht allein im Zeitmoment. Während bei der kumulativen Kausalität beide Ereignisse den Schaden zur selben Zeit herbeigeführt hätten, löst bei der überholenden Kausalität das erste Ereignis den Schaden real aus, das andere Ereignis („Reserveursache“) hätte aber später denselben Schaden verursacht, wenn das erste Ereignis nicht zuvorgekommen wäre. Die Reserveursache entlastet den realen Schädiger für Zeiträume, die vor dem Eintritt des hypothetischen Ereignisses liegen, nicht (vgl RS0022684 [T10]). Krankheitserscheinungen, die durch einen Unfall nur deshalb ausgelöst wurden, weil die Anlage zur Krankheit beim Verletzten bereits vorhanden war, sind daher im Sinne der Adäquanz in vollem Umfang Unfallsfolge, sofern die krankhafte Anlage nicht auch ohne die Verletzung in absehbarer Zeit den gleichen gesundheitlichen Schaden herbeigeführt hätte (RS0022746 [T7]). Dafür muss aber feststehen, dass der gleiche Erfolg auch ohne das (reale) schädigende Ereignis zu einem bestimmten Zeitpunkt eingetreten wäre; die Behauptungs- und Beweislast dafür trägt der Schädiger (RS0022684 [T17]).
5.2. In erster Instanz bestritt die Beklagte nicht nur die Adäquanz, sondern auch den Vorfall an sich und dessen Kausalität; eine andere Ursache der Erkrankung der Klägerin sei naheliegender und wahrscheinlicher.
Dieses Vorbringen ist hier so zu verstehen, dass die Beklagte damit einen Ausschluss ihrer Haftung durch andere Schadensursachen behauptet, was eine Einschränkung der Haftung im Sinne der erörterten Grundsätze, auch der überholenden Kausalität, in sich schließt. Die Rechtsansicht der Vorinstanzen, die Beklagte habe kein erkennbares oder zumindest erörterungsbedürftiges Vorbringen in Ansehung einer Reserveursache erstattet, ist damit nicht zu teilen.
Im fortgesetzten Verfahren wird mit der Beklagten daher auch zu erörtern sein, welche konkreten Ursachen wann ihrem Vorbringen nach jedenfalls zur Erkrankung der Klägerin geführt hätten. Sollte die Beklagte diesbezüglich konkretes Vorbringen nachtragen, werden nicht nur zu den vom Berufungsgericht angesprochenen Umständen, sondern auch zu den dargelegten Kausalitätsfragen ergänzende Feststellungen nach Verfahrensergänzung zu treffen sein.
6. Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 zweiter Satz ZPO.
Textnummer
E126160European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2019:0070OB00103.19A.0828.000Im RIS seit
02.10.2019Zuletzt aktualisiert am
17.02.2021