TE Bvwg Erkenntnis 2019/4/3 L510 2214015-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 03.04.2019
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Entscheidungsdatum

03.04.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §55 Abs1 Z1
AsylG 2005 §55 Abs2
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs11
AsylG 2005 §58 Abs2
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art. 133 Abs4
EMRK Art. 8
FPG §46
FPG §50
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
VwGVG §24
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

L510 2214015-1/5E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. INDERLIETH als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. am XXXX , StA. Türkei, vertreten durch ARGE Rechtsberatung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 28.12.2018, Zl: XXXX , zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt IV. und V. des angefochtenen Bescheides stattgegeben und festgestellt, dass gemäß § 52 FPG 2005 iVm § 9 Abs. 3 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung auf Dauer unzulässig ist.

Gemäß § 55 Abs. 1 Z 1 iVm Abs. 2 AsylG 2005 wird Frau XXXX der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die beschwerdeführende Partei (bP) stellte nach nicht rechtmäßiger Einreise in das Bundesgebiet am 12.12.2016 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Die bP stellte dar, dass sie Staatsangehörige der Türkei mit muslimischen Glaubensbekenntnis sei und der Volksgruppe der Kurden angehöre.

Anlässlich der Erstbefragungen durch ein Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 12.12.2016 gab die bP zum Fluchtgrund an, dass sie schwanger sei und ihre Eltern in der Türkei davon nichts wissen würden. Das wäre ihr Todesurteil. Sie hätten heiraten wollen, aber die Dokumente hätten leider nicht geändert werden können.

Am XXXX wurde ihr Sohn, XXXX , in Wien geboren. Am XXXX wurde für diesen die österreichische Staatsbürgerschaft ausgestellt.

Am XXXX ehelichte die bP den Kindesvater Herrn XXXX , geboren am XXXX in XXXX , Türkei. Ihr Gatte hat seit 06.10.2005 die österreichische Staatsbürgerschaft inne.

In der Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 26.07.2018 brachte die bP im Wesentlichen folgend vor:

"...LA: Sie werden ausdrücklich darauf hingewiesen, dass Sie im Fall von

Verständigungsschwierigkeiten jederzeit rückfragen können. Ich möchte sicher sein können,

das alles, was Sie gesagt haben, auch so gemeint wurde. Wenn Bedarf besteht, machen wir

eine Pause.

VP: Ich habe verstanden.

LA: Wie verstehen Sie den anwesenden Dolmetscher?

VP: Sehr gut.

LA: Welche Sprachen sprechen Sie?

VP: Meine Muttersprache ist Kurdisch, aber da mein Vater kein kurdisch kann wird zu Hause

Türkisch gesprochen. Ich kann aber besser türkisch als kurdisch. Die Einvernahme möchte ich

auch in Türkisch abhalten. Ich kann noch kein Deutsch, da ich noch keinen Deutschkurs

besuchen darf

LA: Wie geht es Ihnen gesundheitlich? Sind Sie in ärztlicher Behandlung, nehmen Sie

irgendwelche Medikamente?

VP: Ich bin gesund. Ich nehme keine Medikamenten und ich bin nicht in ärztlicher Behandlung.

LA: Sind Sie derzeit schwanger?

VP: Nein.

LA: Fühlen Sie sich körperlich und geistig in der Lage, der Einvernahme zu folgen?

VP: Ja.

LA: Liegen Befangenheitsgründe oder sonstigen Einwände gegen die anwesenden Personen vor?

VP: Ich habe keine Einwände.

LA: Stimmen Ihre Angaben von der Erstbefragung aus dem Jahr 2016?

VP: Ja, sämtlich Angaben sind korrekt. Die Erstbefragung wurde mit rückübersetzt.

LA: Können Sie identitätsbezeugende Dokumente oder sonstige Beweismittel in Vorlage bringen?

Ja kann ich, ich habe alles mit:

Dokumente aus der Türkei:

-

Kopie türkischer Nüfus Nr. XXXX

Dokumente aus Österreich:

-

Geburtsurkunde des Sohnes XXXX , ausgestellt am XXXX Standesamt

XXXX

XXXX

-

Österreichischer Staatsbürgerschaftsnachweis des Sohnes

-

Österreichische Heiratsurkunde ausgestellt am XXXX Standesamt XXXX

Zahl: XXXX

-

Österreichischer Staatsbürgerschaftsnachweis des Gatten XXXX

-

Vollmacht der XXXX für die CARITAS der XXXX

-

Obsorgebeschluss der XXXX

-

Türkische Geburtsurkunde

LA: Hatten Sie einen Reisepass?

VP: Ich habe einen Reisepass, dieser ist noch gültig. Der Pass wurde in Wien ausgestellt.

LA: Geben Sie Ihren vollständigen Namen, Geburtstag und Geburtsort an!

VP: Mein Name lautet XXXX , Mädchenname XXXX ; geb. bin ich am XXXX im Bezirk XXXX in der Stadt XXXX ,Türkei.

LA: Nennen Sie bitte Ihre Staatsangehörigkeit

VP: Ich bin türkische Staatsangehörige.

LA: Welcher Volksgruppe gehören Sie an?

VP: Ich bin Kurdin.

LA: Welche Religion haben Sie?

VP: Moslemin

LA: Bitte geben Sie alle Wohnanschriften in der Türkei in chronologischer Reihenfolge von Ihrer

Geburt bis zu Ihrer Flucht an!

VP: Ich bin in XXXX XXXX , XXXX , XXXX , XXXX geboren und aufgewachsen. Ich bin von dort aus geflohen

LA: Nennen Sie mir bitte die Namen, das Alter und den Aufenthaltsort Ihrer nächsten

Familienangehörigen. Was machen Ihre Eltern beruflich?

Vater: XXXX , ca. 40 Jahre alt

Mutter: XXXX , ca. 40 Jahre alt

Brüder: XXXX , ca. 10 Jahre alt

XXXX , ca. 7 Jahre alt

XXXX , ca. 6 Jahre alt

XXXX , ca. 6 Jahre alt ( XXXX und XXXX sind Zwillinge)

Schwester: XXXX , ca. 19 Jahre alt

Alle leben in der Türkei, an der oben genannten Heimatadresse

LA: Sind Ihre Familienmitglieder im Besitz von Häusern? Haben Sie Grundbesitz?

VP: Wir haben kein Vermögen, die Wohnung in der die Familie lebt ist eine Mietwohnung

LA: Haben Sie noch weitere Verwandte in der Türkei?

VP: Mütterlicherseits lebt die Großmutter noch, Großvater ist verstorben. Väterlicherseits leben beide Großeltern noch

Väterlicherseits:1 Onkel und 1 Tante

Mütterlicherseits: 4 Onkel und 7 Tanten

100 bis 150 Cousins und Cousinen

LA: Haben Sie Verwandte in Österreich oder einem anderen Mitgliedsstaat der EU?

VP: In Österreich habe ich keine Verwandte, in Deutschland habe ich sehr weit entfernte

Verwandte welche ich auch namentlich nicht kenne.

LA: Wie ist Ihr Familienstand?

VP: Ich bin seit XXXX verheiratet

Anmerkung: Heiratsurkunde aus Österreich liegt im Akt

LA: Haben Sie Kinder?

VP: Ich habe einen Sohn (Anmerkung: Geburtsurkunde aus Österreich liegt im Akt)

LA: Haben Sie noch Kontakt zu Ihrer Familie in der Türkei? Wenn ja, wie häufig?

VP: Seitdem mein Kind auf der Welt ist, habe ich wieder Kontakt zu meiner Familie aufgenommen.

Wir haben uns wieder versöhnt und sie wollen das Enkelkind auch bald sehen

LA: Welche Schulbildung haben Sie?

VP: Ich habe 7 Jahre Grundschule besucht.

LA: Haben Sie einen Beruf erlernt?

VP: Ich habe als Friseurin gearbeitet. Und hier in Österreich möchte ich auch als Friseurin

arbeiten. Ich habe keine Ausbildung gemacht aufgrund der schlechten finanziellen Lage

meiner Eltern

LA: Haben Sie in der Türkei gearbeitet?

VP: Ich habe mit 12 Jahren als Friseurin zu arbeiten begonnen. Ich habe ca. 6 Jahre als Friseurin

gearbeitet.

LA: Wie würden Sie die finanzielle Situation Ihrer Familie in der Türkei beschreiben?

VP: Die finanzielle Situation war normal.

LA: Wer hat die Flucht organisiert?

VP: Der Freund von einer Freundin von mir.

LA: Wie hoch waren die Kosten für Ihre Flucht?

VP: Mein Mann hat mir 2.000 Euro geschickt. Ich habe damals ca. 7000 türkische Lira bezahlt

LA: Wann haben Sie den Entschluss gefasst, die Türkei zu verlassen?

VP: Ich habe mich dazu entschlossen als ich erfahren habe, dass ich schwanger war. Mein Bauch wurde immer größer und ich konnte es dann schon sehr schwer verstecken.

LA: Wann konkret haben Sie die Türkei verlassen? War die Ausreise legal oder illegal?

VP: Ich bin im Oktober nach Istanbul gefahren. Ende Oktober, Anfang November 2016.

LA: Wann sind Sie in Österreich angekommen?

VP: Im Dezember 2016

Anmerkung: Zeitpunkt der Antragstellung: 12.12.2016

LA: Waren Sie nach Ihrer Ausreise im November 2016 noch einmal in der Türkei?

VP: Nein.

LA: Haben Sie seit Ihrer Ankunft hier in Österreich das Land jemals verlassen?

VP: Nein.

LA: Haben Sie in einem weiteren Land um Asyl angesucht?

VP: Nein.

LA: Weiterhin alles verständlich? Den anwesenden Dolmetscher verstehen Sie gut?

VP: Ja, es passt alles, ich verstehe den Dolmetscher gut

FLUCHTGRUND

LA: Bitte nennen Sie Ihre Fluchtgründe? Warum haben Sie Ihr Herkunftsland verlassen und haben

in Österreich einen Asylantrag gestellt?

VP: Also mein Verlobter ist in die Türkei gekommen, dann bin ich von ihm Schwanger geworden.

Die Kurden sind sehr streng ist. Wenn meine Eltern mitbekommen hätten, dass ich vor der

Eheschließung schwanger geworden bin, hätten sie mich umgebracht. Ich hatte keine andere

Möglichkeit gehabt, ich musste fliehen. Ich wollte mein Kind auch nicht abtreiben, ich wollte es zur Welt bringen.

LA: Haben Sie noch weitere Fluchtgründe?

VP: Nein. Es war nur wegen der Schwangerschaft. Meine Familie war auch mit meinem Verlobten einverstanden. Das Problem war, dass ich so und so bis zu meiner Volljährigkeit in der Türkei auf das Visum hätte warten müssen, aber wegen der frühzeitigen Schwangerschaft konnte ich nicht warten.

LA: Wann haben Sie Ihre Familie dann über die Schwangerschaft bzw. das Kind informiert?

VP: Nach der Geburt meines Sohnes habe ich mich dann bei meiner Familie gemeldet. Wäre mein Kind nicht auf die Welt gekommen, wäre eine Versöhnung nie möglich gewesen.

LA: Wie und wo haben Sie Ihren jetzigen Ehemann kennengelernt?

VP: Wir haben uns bei einer Hochzeit in der Türkei kennengelernt

LA: Und Ihre Eltern waren mit dem jetzigen Ehemann einverstanden?

VP: Ja, sie sind mit ihm einverstanden, es gibt diesbezüglich keine Probleme. Meine Eltern wollen, dass wir sie so bald wie möglich besuchen

LA: Es war ursprünglich geplant gewesen, dass Sie mittels Visum nach Österreich zu Ihrem Mann ziehen, ist dies richtig?

VP: Ja, bei meiner Volljährigkeit wäre ich legal nach Österreich gekommen.

LA: Gibt es Rückkehrbefürchtungen welche Sie zu erwarten hätten, wenn Sie in die Türkei zurück müssten?

VP: Nein, wir haben uns versöhnt, es gibt keine Probleme.

LA: Hatten Sie jemals Probleme mit den Behörden Ihres Herkunftsstaates?

VP: Ich habe in der Türkei einmal versucht, mein Alter korrigieren zu lassen, aber dies wurde

abgewiesen. Sonst keine Probleme.

LA: Waren Sie jemals in Haft? Wurden Sie jemals festgenommen oder strafrechtlich verurteilt?

VP: Nein.

LA: Haben Sie jemals an Demonstrationen teilgenommen? Sowohl Türkei als auch Österreich!

VP: Nein.

LA: Wurden Sie jemals wegen Ihrer Religion oder Volksgruppenzugehörigkeit persönlich bedroht?

VP: Nein.

LA: Sind Sie Mitglied in einem Verein oder einer Organisation?

VP: Nein.

LA: Wie sieht Ihr Tagesablauf hier in Österreich aus?

VP: Momentan bin ich sehr beschäftigt mit dem Kind, ich gehe einkaufen. Natürlich will ich in

Zukunft auch arbeiten. Ich besuche auch die Familie von meinem Mann.

LA: Haben Sie bereits an Integrationsmaßnahmen teilgenommen?

VP: Nein. Ich will schon einen Deutschkurs besuchen, aber wegen dem kleinen Kind ist es nicht so einfach.

LA: Haben Sie in Österreich bereits Freundschaften geschlossen? Gibt es engere Beziehungen zu bestimmten Personen?

VP: Momentan bin ich mit meinem Kind sehr beschäftigt und ich unternehme viel mit meinem

Mann

LA: Ist Ihr Gatte berufstätig?

VP: Ja er arbeitet.

LA: Wie geht es Ihrem Sohn? Ist er gesund?

VP: Es geht ihm gut. Er ist gesund. Heute ist er bei der Schwiegermutter

LA: Wie würden Sie sich Ihre Zukunft hier in Österreich vorstellen?

VP: Ich will in Zukunft mit meinem Mann glücklich leben. Ich will in Zukunft auch wieder in meinem Beruf arbeiten. Ich wünsche mir für mein Kind ein sicheres und glückliches Leben

LA: Konnten Sie sich bei dieser Einvernahme konzentrieren? Haben Sie den anwesenden

Dolmetscher einwandfrei verstanden?

VP: Ja, ich habe ihn gut verstanden und ich konnte mich konzentrieren.

LA: Ihnen wird nun die Möglichkeit eingeräumt, in das vom BFA zur Beurteilung Ihres Falles

herangezogene Länderinformationsblatt zu Ihrem Heimatland samt den darin enthaltenen

Quellen Einsicht und gegebenenfalls schriftlich Stellung zu nehmen. Diese Quellen berufen

sich vorwiegend unter anderem auf Berichte von EU-Behörden von Behörde von EU-Ländern

aber auch Behörden anderer Länder, aber auch Quellen aus Ihrer Heimat wie auch

zahlreichen NGOs und auch Botschaftsberichten, die im Einzelnen auch eingesehen werden

können.

VP: Ich verzichte auf die Einsichtnahme in das Länderinformationsblatt und auf eine

Stellungnahme.

LA: Ich beende jetzt die Befragung! Möchten Sie noch irgendetwas angeben?

VP: Ich vermisse auch meine Familie, ich möchte sie so schnell wie möglich sehen. Die Eltern von meinem Mann sind auch in der Türkei. Ich kann nicht zu meinen Eltern. Ich habe meine Mutter sehr vermisst.

Frage an die gesetzliche Vertretung: Möchten Sie die anwesende Partei noch etwas Fragen oder möchten Sie noch etwas anmerken?

A: Nein, danke..."

Im Dezember 2018 teilte der Gatte der bP dem BFA telefonisch mit, dass die bP wieder schwanger sei.

2. Ihr Antrag auf internationalen Schutz vom 12.12.2016 wurde hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG wurde ihr Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf Ihren Herkunftsstaat Türkei abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde ihr gemäß § 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt III.). Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wurde gegen sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr 100/2005 (FPG) idgF, erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Absatz 1 bis 3 FPG betrage die Frist für ihre freiwillige Ausreise

14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt VI.).

3. Gegen die Spruchpunkte IV. und V. des o. a. Bescheides wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben. Im Wesentlichen wurde dargelegt, dass das BFA eine unrichtige Interessensabwägung vorgenommen habe. Völlig unberücksichtigt sei die Geburt des zweiten Kindes geblieben. Dies sei dem BFA durch den Ehegatten der bP mitgeteilt worden (siehe Bescheid, Seite 10). Richtigerweise habe das BFA ausgeführt, dass der Verfassungsgerichtshof es etwa für unzumutbar erachtete, dass ein neugeborenes Baby nur mit dem Vater und ohne (drittstaatsangehörige) Mutter in der Union verbleibe (VfGH 11.6.2012, U 128/12). Danach seien nicht nur wirtschaftliche, sondern auch biologische Bedürfnisse in die Beurteilung miteinzubeziehen, was auf den gegenständlichen Fall zutreffe. Zudem sei die besondere Beziehung zwischen einem neugeborenen Kind und seiner Mutter nicht genügend berücksichtigt worden. Der EUGH erkannte in der Rs Ruiz Zambrano, dass Art 20 AEUV, welcher Personen mit Staatsangehörigkeit eines MS den Status der Unionsbürgerschaft verleiht, nationalen Maßnahmen entgegenstehe, welche bewirken, dass jenen Unionsbürgerinnen der Genuss des Kernbestands ihrer durch die Unionsbürgerschaft verliehenen Rechte de facto verunmöglicht wird (EUGH 08.03.2011, C-34-09). Eine solche Auswirkung liege jedoch vor, wenn der bP als Drittstaatsangehöriger der Aufenthalt verwehrt werde, obwohl ihre mj Kinder, die den Status eines Unionsbürgers innehaben, gezwungen wären, das Gebiet der Union zu verlassen, um ihren Eltern zu folgen. Auch wenn die tatsächliche Sorge nicht alleine vom Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit wahrgenommen wird, sei zu klären, ob zwischen dem mj Unionsbürgerin und dem Elternteil mit Drittstaatsangehörigkeit ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis bestehe. Im Rahmen dieser Prüfung sei dem Recht auf Achtung des Familienlebens gem. Art 7 GRC zu entsprechen, welches in Zusammenschau mit der primärrechtlichen Verpflichtung der Berücksichtigung des Kindeswohls nach Art 24 Abs. 2 GRC (Zur Bedeutung und Tragweite des Kindeswohls als vorrangige Erwägung nach Art 24 Abs 2 GRC siehe Jarass, Charta der Grundrechte der Europäischen Union (2016) Art 24 GRC Rz 15 ff, mwN.) zu interpretieren sei. Weiters reiche es laut EuGH nicht aus, sich darauf zu berufen, dass der Elternteil, welcher Unionsbürger ist, die tatsächliche und tägliche Sorge für den mj Unionsbürger alleine wahrnehmen könne und wahrnehmen würde. Vielmehr bedürfe es im Interesse des Kindeswohls einer Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls, wozu insbesondere das Alter des Kindes, seine Entwicklung in körperlicher und emotionaler Hinsicht, die affektive Bindung zu beiden Elternteilen sowie das Risiko zählten, welches mit der Trennung vom drittstaatsangehörigen Elternteil einhergehen würde. (EuGH 10.5.2017, C-133/15, Chavez Vilchez ua Rz 70f.). Die bP habe bereits ihren zweiten Sohn zur Welt gebracht, welcher in einem starken biologischen Abhängigkeitsverhältnis zur bP stehe. Bei richtiger Abwägung der Interessen habe die belangte Behörde somit zu dem Ergebnis zu gelangen, dass die persönlichen Interessen an einem weiteren Verbleib in Österreich am Maßstab des Art 8 EMRK gegen das öffentliche Interesse einer Aufenthaltsbeendigung überwiegen würden.

Beigelegt wurde die Geburtsurkunde des am XXXX in Wien geborenen zweiten Sohnes, XXXX . Beigelegt wurde ebenfalls der Staatsbürgerschaftsnachweis dieses Sohnes, ausgestellt am XXXX .

4. Mit 05.02.2019 wurde die gegenständliche Rechtssache der GA L510 des BVwG zugewiesen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zur Person der bP:

Die Identität der bP steht fest. Die bP ist türkische Staatsangehörige, gehört der Volksgruppe der Kurden an und ist Muslimin. Ihr Name ist XXXX , sie ist am XXXX im Bezirk XXXX , Stadt XXXX , geboren. Sie besuchte 7 Jahre lang die Schule in der Türkei und hat Berufserfahrung als Friseurin. Die finanzielle Lage der Familie war normal. Sie spricht Kurdisch und Türkisch. Ihre Eltern, vier Brüder, eine Schwester und sonstige Verwandte leben in der Türkei.

In Österreich ist die bP mit XXXX verheiratet. Sie hat mit ihrem Gatten zwei Söhne, XXXX , geb. XXXX und XXXX , geb. am XXXX . Die Söhne und der Gatte sind österreichische Staatsbürger. Die Familie lebt in einem gemeinsamen Haushalt. Die bP absolvierte noch keinen Deutschkurs und hat abgesehen von ihrer Kernfamilie in Österreich keine sonstigen Verwandten oder besondere Bindungen zu anderen Personen. Die bP kümmert sich um ihre Kinder, der Ehemann geht einer Beschäftigung nach. Die bP ist gesund.

2. Beweiswürdigung:

Beweis erhoben wurde im gegenständlichen Beschwerdeverfahren durch Einsichtnahme in den Verfahrensakt des BFA unter zentraler Berücksichtigung der niederschriftlichen Angaben der bP, der von ihr vorgelegten Beweismittel, des bekämpften Bescheides und des Beschwerdeschriftsatzes.

2.1. Zur Person der bP:

Die Feststellungen zur Identität ergeben sich aus der Vorlage des türkischen Nüfus und der Geburtsurkunde im Original. Die sonstigen Feststellungen zur Person und ihrem Umfeld ergeben sich aus den Angaben im Zuge des Verfahrens vor dem BFA, sowie der vorgelegten Urkunden in Bezug auf ihre Familienangehörigen.

Das BFA ging von o. a. Feststellungen aus. Diese wurde im Verfahren auch durch die bP bzw. deren Vertretung nicht bestritten, weshalb der maßgebliche Sachverhalt geklärt ist.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zu A) Rückkehrentscheidung

3.1. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 ist eine Entscheidung nach diesem Bundesgesetz mit einer Rückkehrentscheidung oder einer Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß dem 8. Hauptstück des FPG zu verbinden, wenn der Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird und von Amts wegen kein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 erteilt wird.

Gegenständlich wurde der Antrag auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch in Bezug auf den Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen. Eine "Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz" wurde vom BFA nicht erteilt. Diese spruchpunkte erwuchsen in Rechtskraft.

3.2. Da sich die bP nach Abschluss des Verfahrens nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, nicht in den Anwendungsbereich des 6. Hauptstückes des FPG [Zurückweisung, Transitsicherung, Zurückschiebung und Durchbeförderung] fällt und ihr auch amtswegig kein Aufenthaltstitel gem. § 57 AsylG zu erteilen war, ist diese Entscheidung gem. § 10 Abs 2 AsylG mit einer Rückkehrentscheidung gem. dem 8. Hauptstück des FPG [Aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen Fremde] zu verbinden.

Dem zur Folge hat das BFA gemäß § 52 Abs. 1 FPG [Rückkehrentscheidung] gegen einen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn er sich nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält (Z1) oder nicht rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und das Rückkehrentscheidungsverfahren binnen sechs Wochen ab Ausreise eingeleitet wurde (Z2).

Gemäß Abs. 2 leg cit hat das Bundesamt gegen einen Drittstaatsangehörigen unter einem (§ 10 AsylG 2005) mit Bescheid eine Rückkehrentscheidung zu erlassen, wenn dessen Antrag auf internationalen Schutz sowohl bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten abgewiesen wird (Z2) und ihm kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zukommt. Dies gilt nicht für begünstigte Drittstaatsangehörige.

3.3. Die bP ist Staatsangehörige der Türkei und keine begünstigte Drittstaatsangehörige. Es kommt ihr auch kein Aufenthaltsrecht nach anderen Bundesgesetzen zu. Daher ist gegenständlich gem. § 52 Abs. 2 FPG grundsätzlich die Zulässigkeit einer Rückkehrentscheidung zu prüfen.

3.4. Gemäß § 52 FPG iVm § 9 BFA-VG darf eine Rückkehrentscheidung nicht verfügt werden, wenn es dadurch zu einer Verletzung des Privat- und Familienlebens in Österreich käme:

§ 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG lautet:

(1) Wird durch eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG, eine Anordnung zur Außerlandesbringung gemäß § 61 FPG, eine Rückkehrentscheidung gemäß § 66 FPG oder ein Aufenthaltsverbot gemäß § 67 FPG in das Privat- oder Familienleben des Fremden eingegriffen, so ist die Erlassung der Entscheidung zulässig, wenn dies zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

(2) Bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK sind insbesondere zu berücksichtigen:

1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,

2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,

3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,

4. der Grad der Integration,

5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,

6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,

7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,

8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,

9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist.

(3) Über die Zulässigkeit der Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist jedenfalls begründet, insbesondere im Hinblick darauf, ob diese gemäß Abs. 1 auf Dauer unzulässig ist, abzusprechen. Die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG ist nur dann auf Dauer, wenn die ansonsten drohende Verletzung des Privat- und Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend sind. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn die Rückkehrentscheidung gemäß § 52 FPG schon allein auf Grund des Privat- und Familienlebens im Hinblick auf österreichische Staatsbürger oder Personen, die über ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht oder ein unbefristetes Niederlassungsrecht (§ 45 oder §§ 51 ff Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz (NAG), BGBl. I Nr. 100/2005) verfügen, unzulässig wäre.

Art. 8 EMRK, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens

(1) Jedermann hat Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs.

(2) Der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts ist nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist."

Für die Beurteilung, ob ein relevantes Privat- und/oder Familienleben iSd Art 8 EMRK vorliegt, sind nach der höchstgerichtlichen Judikatur insbesondere nachfolgende Umstände beachtlich:

Privatleben

Nach der Rechtsprechung des EGMR (vgl. aktuell SISOJEVA u.a. gg. Lettland, 16.06.2005, Bsw. Nr. 60.654/00) garantiert die Konvention Fremden kein Recht auf Einreise und Aufenthalt in einem Staat. Unter gewissen Umständen können von den Staaten getroffene Entscheidungen auf dem Gebiet des Aufenthaltsrechts (zB. eine Rückkehrentscheidungsentscheidung) aber in das Privatleben eines Fremden eingreifen. Dies beispielsweise dann, wenn ein Fremder den größten Teil seines Lebens in dem Gastland zugebracht (wie im Fall SISOJEVA u.a. gg. Lettland) oder besonders ausgeprägte soziale oder wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat vorliegen, die sogar jene zum eigentlichen Herkunftsstaat an Intensität deutlich übersteigen (vgl. dazu BAGHLI gg. Frankreich, 30.11.1999, Bsw. Nr. 34374/97; ebenso die Rsp. des Verfassungsgerichtshofes; vgl. dazu VfSlg 10.737/1985; VfSlg 13.660/1993).

Bei der Schutzwürdigkeit des Privatlebens manifestiert sich der Grad der Integration des Fremden insbesondere an intensiven Bindungen zu Verwandten und Freunden, der Selbsterhaltungsfähigkeit, der Schulausbildung, der Berufsausbildung, der Teilnahme am sozialen Leben, der Beschäftigung und ähnlichen Umständen (vgl. EGMR 4.10.2001, Fall Adam, Appl. 43.359/98, EuGRZ 2002, 582; 9.10.2003, Fall Slivenko, Appl. 48.321/99, EuGRZ 2006, 560; 16.6.2005, Fall Sisojeva, Appl. 60.654/00, EuGRZ 2006, 554; vgl. auch VwGH 5.7.2005, 2004/21/0124; 11.10.2005, 2002/21/0124).

Familienleben

Das Recht auf Achtung des Familienlebens iSd Art. 8 EMRK schützt das Zusammenleben der Familie. Es umfasst jedenfalls alle durch Blutsverwandtschaft, Eheschließung oder Adoption verbundenen Familienmitglieder, die effektiv zusammenleben;

das Verhältnis zwischen Eltern und minderjährigen Kindern auch dann, wenn es kein Zusammenleben gibt (EGMR Kroon, VfGH 28.06.2003, G 78/00); etwa bei Zutreffen anderer Faktoren aus denen sich ergibt, dass eine Beziehung genügend Konstanz aufweist, um de facto familiäre Bindungen zu erzeugen: zB Natur und Dauer der Beziehung der Eltern und insbesondere, ob sie geplant haben ein gemeinsames Kind zu haben; ob der Vater das Kind als eigenes anerkannt hat; ob Unterhaltszahlungen für die Pflege und Erziehung des Kindes geleistet wurden; und die Intensität und Regelmäßigkeit des Umgangs (EGMR v. 8.1.2009, Zl 10606/07, Fall Grant gg. Vereinigtes Königreich).

Kinder werden erst vom Moment ihrer Geburt an rechtlich Teil der Familie. Zu noch ungeborenen Kindern liegt somit bis dahin (noch) kein schützenswertes Familienleben iSd Art 8 EMRK vor (vgl. zB VfGH 24.02.2003, B 1670/01; EGMR 19.02.1996, GÜL vs Switzerland).

Der Begriff des Familienlebens ist jedoch nicht nur auf Familien beschränkt, die sich auf eine Heirat gründen, sondern schließt auch andere "de facto Beziehungen" ein; maßgebend ist beispielsweise das Zusammenleben eines Paares, die Dauer der Beziehung, die Demonstration der Verbundenheit durch gemeinsame Kinder oder auf andere Weise (EGMR Marckx, EGMR 23.04.1997, X ua).

Eine familiäre Beziehung unter Erwachsenen fällt nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) nur dann unter den Schutz des Art. 8 Abs. 1 EMRK, wenn zusätzliche Merkmale der Abhängigkeit hinzutreten, die über die üblichen Bindungen hinausgehen (vgl. dazu auch das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 9. Juni 2006, B 1277/04, unter Hinweis auf die Judikatur des EGMR; des Weiteren auch das Erkenntnis des VwGH vom 26. Jänner 2006, Zl. 2002/20/0423 und die darauf aufbauende Folgejudikatur, etwa die Erkenntnisse vom 26. Jänner 2006, Zl. 2002/20/0235, vom 8. Juni 2006, Zl. 2003/01/0600, vom 22. August 2006, Zl. 2004/01/0220 und vom 29. März 2007, Zl. 2005/20/0040, vom 26. Juni 2007, 2007/01/0479).

Die Beziehung der bereits volljährigen Kinder zu den Eltern ist vor allem dann als Familienleben zu qualifizieren, wenn jene auch nach Eintritt der Volljährigkeit im Haushalt der Eltern weiterleben, ohne dass sich ihr Naheverhältnis zu den Eltern wesentlich ändert (Chvosta, Die Rückkehrentscheidung von Asylwerbern und Art 8 MRK, ÖJZ 2007/74, 860 unter Hinweis auf Wiederin in Korinek/Holoubek, Österreichisches Bundesverfassungsrecht, Art 8 EMRK Rz 76).

Nach der Judikatur des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) sind Beziehungen zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern, die wegen des Fehlens von über die üblichen Bindungen hinausgehenden Merkmalen der Abhängigkeit nicht (mehr) unter den Begriff des Familienlebens fallen, unter den Begriff des ebenfalls von Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützten Privatlebens zu subsumieren (VwGH 21.4.2011, 2011/01/0093-7 [vgl. dazu die Urteile des EGMR vom 9. Oktober 2003, Slivenko gegen Lettland, Beschwerde Nr. 48321/99, Randnr. 97, vom 15. Juni 2006, Shevanova gegen Lettland, Beschwerde Nr. 58822/00, Randnr. 67, vom 22. Juni 2006, Kaftailova gegen Lettland, Beschwerde Nr. 59643/00, Randnr. 63, und vom 12. Jänner 2010, A.W. Khan gegen das Vereinigte Königreich, Beschwerde Nr. 47486/06, Randnr. 31 ff]).

Alle anderen verwandtschaftlichen Beziehungen (zB zwischen Enkel und Großeltern, erwachsenen Geschwistern [vgl. VwGH 22.08.2006, 2004/01/0220, mwN; 25.4.2008, 2007/20/0720 bis 0723-8], Cousinen [VwGH 15.01.1999, 97/21/0778; 26.6.2007, 2007/01/0479], Onkeln bzw. Tanten und Neffen bzw. Nichten) sind nur dann als Familienleben geschützt, wenn eine "hinreichend starke Nahebeziehung" besteht. Nach Ansicht der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts ist für diese Wertung insbesondere die Intensität und Dauer des Zusammenlebens von Bedeutung (vgl. VfSlg 17.457/2005). Dabei werden vor allem das Zusammenleben und die gegenseitige Unterhaltsgewährung zur Annahme eines Familienlebens iSd Art 8 EMRK führen, soweit nicht besondere Abhängigkeitsverhältnisse, wie die Pflege eines behinderten oder kranken Verwandten, vorliegen.

Ist von einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme die gesamte Familie betroffen, greift sie lediglich in das Privatleben der Familienmitglieder und nicht auch in ihr Familienleben ein; auch dann, wenn sich einige Familienmitglieder der Abschiebung durch Untertauchen entziehen (EGMR im Fall Cruz Varas gegen Schweden). In diesen Fällen ist nach der Judikatur des EGMR der Eingriff in das Privatleben gegebenenfalls separat zu prüfen (Chvosta, Die Rückkehrentscheidung von Asylwerbern und Art 8 MRK, ÖJZ 2007/74, 856 mwN).

3.5. Die bP hat in Österreich ihre Kernfamilie. Diese besteht aus ihrem Gatten und ihren zwei Söhnen. Der Gatte und die Söhne sind österreichische Staatsbürger. Die Rückkehrentscheidung bildet daher einen Eingriff in das Recht Familienleben.

Auf Grund der gegeben persönlichen Umstände liegt hier auch ein relevantes Privatleben in Österreich vor.

Da die Rückkehrentscheidung somit einen Eingriff in das Recht auf Privat- und Familienleben darstellt, bedarf es diesbezüglich einer Abwägung der persönlichen Interessen mit den öffentlichen Interessen, ob eine Rückkehrentscheidung zur Erreichung der im Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele dringend geboten ist.

Bei der Abwägung der betroffenen Rechtsgüter zur Prüfung der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit des staatlichen Eingriffes ist immer auf die besonderen Umstände des Einzelfalls im Detail abzustellen. Eine Ausweisung hat daher immer dann zu unterbleiben, wenn ihre Auswirkungen auf die Lebenssituation des Fremden und seiner Familie schwerer wiegen würden als die nachteiligen Folgen der Abstandnahme von ihrer Erlassung.

Gegen die bP spricht, dass sie nicht rechtmäßig in das Bundesgebiet eingereist ist und erst durch die Stellung des Asylantrages ihren Aufenthalt vorläufig legitimierte. Sie legte jedoch im Verfahren dar, weshalb sie nicht länger auf einen Aufenthaltstitel als Angehörige zuwarten wollte, was sie mit ihrer Schwangerschaft begründete. Die bP wird zwar durch die Grundversorgung unterstützt, jedoch geht der Familienvater einer Arbeit nach, weshalb davon auszugehen ist, dass auch durch die Arbeit des Kindesvaters in einem wesentlichen Teil zum Unterhalt der Familie beigetragen wird. Sie hat auch noch keine Deutschkurse absolviert. Eine weitgehende Teilnahme am sozialen Leben wurde nicht dargetan, jedoch ist die bP weitgehend mit ihren zwei Kindern beschäftigt. Die bP hat Bindungen zum Herkunftsstaat. Dort leben zahlreiche Verwandte. Sie ist keinesfalls als von der Türkei entwurzelt zu betrachten.

Für die bP spricht das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens mit ihren Kindern und ihrem Gatten, welcher derzeit berufstätig ist. Die Familie lebt in einem gemeinsamen Haushalt. Die bP hält sich seit Ende 2016 in Österreich auf und hat somit auch private Anknüpfungspunkte zu Österreich.

Wie auch das BFA festgestellt hat, hat es der Verfassungsgerichtshof etwa für unzumutbar erachtet, dass ein neugeborenes Baby nur mit dem Vater und ohne (drittstaatsangehörige) Mutter in der Union verbleibt (VfGH 11.6.2012, U 128/12). Danach sind nicht nur wirtschaftliche, sondern auch biologische Bedürfnisse in die Beurteilung miteinbeziehen. Im genannten Erkenntnis führt der Verfassungsgerichtshof u.a. folgendes aus:

"Es widerspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass ein Kind kurz nach der Geburt ohne Bedenken allein beim Vater verbleiben kann. Insbesondere umfasst der für ein neugeborenes Kind zu leistende Unterhalt auch - aber nicht nur - die Befriedigung biologischer Bedürfnisse wie jenem nach Nahrung, weshalb schon aus diesem Grund jedenfalls in den ersten Lebensphasen des Kindes ein ständiger Kontakt des Kindes mit der Mutter nicht nur wünschenswert sondern notwendig sein kann. Der Asylgerichtshof hätte in dieser Hinsicht ermitteln und bei seiner Abwägungsentscheidung berücksichtigen müssen, welche konkreten Auswirkungen die Ausweisung der Beschwerdeführerin auf das Kindeswohl hat, insbesondere, ob nicht in der konkreten Situation die Ausweisung der Mutter faktisch auch das Kind zum Verlassen des Bundesgebietes zwingt (dieser Wertung folgt im Übrigen auch der EuGH in seiner Entscheidung vom 8.3.2011, Rs. C-34/09, Gerardo Ruiz Zambrano, Rz 43, wenn er festhält, dass einer einem Drittstaat angehörenden Person in dem Mitgliedstaat des

Wohnsitzes ihrer minderjährigen Kinder, die diesem Mitgliedstaat angehören und denen sie Unterhalt gewährt, der Aufenthalt und eine Arbeitserlaubnis nicht verweigert werden dürfen)."

Gegenständlich hat die bP einen etwas mehr als 1 1/2 jährigen Sohn, sowie einen erst wenige Monate alten Sohn. Es wurde nicht einmal durch das BFA dargetan, dass ein ständiger Kontakt mit der Mutter nicht notwendig ist. Insbesondere ist zu berücksichtigen, dass der Vater berufstätig ist. Ein tatsächliches Abhängigkeitsverhältnis der Söhne zur Mutter ist im vorliegenden Fall somit zu bejahen. Somit wäre es gegenständlich unverhältnismäßig, die bP ohne ihre Kinder zum Verlassen von Österreich zu verhalten. Wenn das BFA ausführt, dass es der gesamten Familie zumutbar wäre, das Familienleben in der Türkei zu führen, so ist zu berücksichtigen, dass der EUGH in der Rs Ruiz Zambrano erkannte, dass Art 20 AEUV, welcher Personen mit Staatsangehörigkeit eines MS den Status der Unionsbürgerschaft verleiht, nationalen Maßnahmen entgegensteht, welche bewirken, dass jenen Unionsbürgerinnen der Genuss des Kernbestands ihrer durch die Unionsbürgerschaft verliehenen Rechte de facto verunmöglicht wird (EUGH 08.03.2011, C-34-09). Eine solche Auswirkung würde jedoch vorliegen, wenn die mj Kinder, die den Status eines Unionsbürgers innehaben, gezwungen wären, das Gebiet der Union zu verlassen um ihren Eltern zu folgen. Die Maßnahme wäre auch im gegenständlichen Einzelfall lediglich zu dem Zweck, um in der Türkei die Verleihung eines Aufenthaltstitels bzw. eines Visums zur Einreise nach Österreich abzuwarten, unverhältnismäßig.

Unter Berücksichtigung aller bekannten Umstände und unter Einbeziehung der o. a. Judikatur der Höchstgerichte ist in Bezug auf den konkreten gegenständlichen Einzelfall bezogen kein überwiegendes öffentliches Interesse an der Aufenthaltsbeendigung der bP festzustellen, welches ihre Interessen an einem Verbleib in Österreich überwiegt.

Des Weiteren ist davon auszugehen, dass die drohende Verletzung des Familienlebens auf Umständen beruht, die ihrem Wesen nach nicht bloß vorübergehend, sondern auf Dauer sind und es ist daher gemäß § 9 Abs. 3 BFA-VG festzustellen, dass die Rückkehrentscheidung gegen die bP auf Dauer unzulässig ist.

Zum Aufenthaltstitel

Gemäß § 58 Abs. 2 AsylG 2005 idF BGBl. 70/2015 ist die Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 auch von Amts wegen zu prüfen, wenn eine Rückkehrentscheidung auf Grund des § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer für unzulässig erklärt wird.

Im Rahmen der erläuternden Bemerkungen zum FRÄG 2015 wurde klargestellt, dass auch das Bundesverwaltungsgericht - in jeder Verfahrenskonstellation - über einen Aufenthaltstitel gemäß § 55 AsylG 2005 absprechen darf. Es handelt sich hierbei jedoch nicht um eine Einräumung einer amtswegigen Entscheidungszuständigkeit für das Bundesverwaltungsgericht, welche entsprechend dem Prüfungsbeschluss des VfGH vom 26. Juni 2014 (E 4/2014) als unzulässig zu betrachten wäre, da die Frage der Erteilung des Aufenthaltstitels diesfalls vom Prüfungsgegenstand einer angefochtenen Rückkehrentscheidung mitumfasst ist und daher in einem zu entscheiden ist.

In diesem Sinne betonte auch der Verwaltungsgerichtshof in seinen Entscheidungen vom 30.06.2016, Ra 2016/21/0103, sowie vom 04.08.2016, Ra 2016/21/0203, dass das Bundesverwaltungsgericht den Aufenthaltstitel im Rahmen seiner Sachentscheidungspflicht im verfahrensabschließenden Erkenntnis selbst in konstitutiver Weise zu erteilen habe. Auch das Bundesverwaltungsgericht hat daher im Falle, es erkennt im Beschwerdeverfahren erstmalig die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung, die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 anzuordnen (Filzwieser/Frank/Kloibmüller/Raschhofer, Asyl- und Fremdenrecht, § 58 AsylG K4).

Gemäß § 55 Abs. 1 AsylG ist einem im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine "Aufenthaltsberechtigung plus" zu erteilen, wenn

1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art 8 EMRK geboten ist und

2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. I Nr. 189/1955) erreicht wird.

Liegt gemäß Abs. 2 leg. cit. nur die die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine "Aufenthaltsberechtigung" zu erteilen.

Gegenständlich bedeutet dies:

Die bP hat das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, nicht erfüllt und hat zum Entscheidungszeitpunkt keine erlaubte Erwerbstätigkeit ausgeübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. I Nr. 189/1955) erreicht wird.

Sie erfüllt somit gem. § 55 Abs. 2 AsylG die Voraussetzung des § 55 Abs. 1 Z 1 AsylG, weshalb ihr in Folge des Ausspruches der dauerhaften Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung" zu gewähren war.

Das BFA wird daher der bP - unter der Voraussetzung der Erfüllung der allgemeinen Mitwirkungspflicht seitens der bP im Sinne des § 58 Abs. 11 AsylG - den Aufenthaltstitel im Sinne des § 58 Abs. 4 AsylG auszufolgen haben.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.

Absehen von einer mündlichen Beschwerdeverhandlung

Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung vor dem BVwG unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.

Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt ist als vollständig ermittelt zu erachten. Er ergibt sich aus den Ermittlungen des BFA in Verbindung mit den Darlegungen in der Beschwerde, insbesondere den zweiten Sohn der bP betreffend. Das BFA hat diesen Darlegungen in der Aktenvorlage nicht widersprochen.

Es konnte daher davon ausgegangen werden, dass der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde als hinreichend geklärt erachtet werden und eine Verhandlung entfallen konnte.

Zu B) Unzulässigkeit der Revision:

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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