TE Bvwg Erkenntnis 2019/6/19 W261 2176284-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.06.2019
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Entscheidungsdatum

19.06.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs4
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W261 2176284-1/29E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch die Richterin Mag. Karin GASTINGER, MAS über die Beschwerde von XXXX , auch XXXX , geboren am XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung, Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 09.10.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen am 05.04.2018 und am 26.04.2019 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich Spruchpunkt I des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen.

II. Der Beschwerde gegen Spruchpunkt II. des angefochtenen Bescheides wird stattgegeben und XXXX , auch XXXX wird gemäß § 8 Abs. 1 Z. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.

III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird XXXX , auch XXXX eine befristete Aufenthaltsberechtigung als subsidiär Schutzberechtigter bis zum 19.06.2020 erteilt.

B)

Die Revision ist nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Der nunmehrige Beschwerdeführer (in der Folge BF), ein afghanischer Staatsangehöriger, reiste nach eigenen Angaben am 06.11.2015 als Unbegleiteter Minderjähriger Flüchtling in die Republik Österreich ein und stellte am selben Tag gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Bei der Erstbefragung am 07.11.2015 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes gab der BF im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari und seiner Rechtsberaterin an, dass er im Iran geboren sei und die letzten vier Jahre in Kabul gelebt habe. Er habe Afghanistan verlassen, weil er von seinem Stiefvater misshandelt worden sei. Er habe Verletzungen erlitten, es sei sein rechter Arm gebrochen gewesen, und er sei auf seiner linken Brustseite verbrannt. Aus dem Grund habe seine Mutter beschlossen, dass er Afghanistan verlassen und in Richtung Europa reisen solle, weil sein Stiefvater so böse gewesen sei.

Aufgrund von Zweifeln an seinem Alter beauftragte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge belangte Behörde) ein Sachverständigengutachten zur Volljährigkeitsbeurteilung. Im medizinischen Sachverständigengutachten der medizinischen Universität Wien vom 15.08.2016 wird das höchstmögliche Mindestalter des BF zum Untersuchungszeitpunkt ( XXXX ) mit 18,5 Jahren angenommen. Der BF sei zum Zeitpunkt der Antragstellung minderjährig gewesen.

Am 05.10.2017 erfolgte die niederschriftliche Ersteinvernahme des BF vor der belangten Behörde im Beisein seiner rechtsfreundlichen Vertreterin sowie eines Dolmetschers für die Sprache Dari. Er gab an, er sei Hazara und schiitischer Moslem. Er habe in Teheran vier Jahre lang die Grundschule besucht und sei elf Jahre alt gewesen, als er mit seiner Familie nach Kabul gezogen sei. Er habe in Afghanistan keine Schule besucht, weil dies sein Stiefvater nicht erlaubt habe. Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der BF an, dass er sich in seine um ein Jahr ältere Stiefschwester verliebt habe. Der Stiefvater hätte die beiden beim Geschlechtsverkehr erwischt und habe den BF an Ort und Stelle verprügelt, weswegen der BF habe flüchten müssen. Die Nachbarn hätten dem BF geholfen zu fliehen. Der BF legte eine Reihe von Integrationsunterlagen vor.

Mit nunmehr angefochtenem Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des BF auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) ab. Gemäß § 57 AsylG 2005 erteilte die belangte Behörde dem BF keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen und erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den BF eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG (Spruchpunkt III.). Die belangte Behörde stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei. Weiters sprach die belangte Behörde aus, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV).

Zu den Gründen für das Verlassen des Herkunftsstaates bzw. zu der Situation im Falle einer Rückkehr stellte die belangte Behörde insbesondere fest, der BF habe eine Furcht vor Verfolgung nicht glaubhaft gemacht. Die Probleme mit dem Stiefvater, sofern sie tatsächlich vorhanden gewesen wären, würden keinen Asylgrund nach der Genfer Flüchtlingskonvention darstellen. Das Vorbringen, dass der BF sexuellen Kontakt mit seiner Stiefschwester gehabt habe, sei aufgrund unplausibler und widersprüchlicher Angaben nicht glaubhaft. Der BF könne seinen Lebensunterhalt in seiner Herkunftsprovinz Kabul bestreiten. Er liefe nicht Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse nicht befriedigen zu können und in eine aussichtlose Lage zu geraten.

Der BF erhob mit Eingabe vom 31.10.2017, bevollmächtigt vertreten durch die ARGE Rechtsberatung, Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, gegen diesen Bescheid fristgerecht das Rechtsmittel der Beschwerde und führte begründend aus, dass das medizinische Sachverständigengutachten angezweifelt werde, und der BF nach wie vor minderjährig sei. Es werde beantragt, den in Österreich lebenden Onkel des BF, den Bruder seiner Mutter, einzuvernehmen, welcher viele der von der belangten Behörde in Zweifel gezogene Angaben des BF bestätigen könne. Der BF habe sich zudem vom Islam entfernt, was dadurch belegt sei, dass der BF bereits eine Exfreundin in Österreich habe. Er spiele begeistert Schlagzeug und liebe moderne Musik, was von den Taliban als unislamisch und als Zeichen der Verwestlichung angesehen werde. Der BF habe guten Kontakt zu Mitgliedern der christlichen Pfarrgemeinde, helfe bei Veranstaltungen in der Pfarre und in der Kirche aus und interessiere sich für das Christentum. Die Länderfeststellungen seien mangelhaft geblieben. Die belangte Behörde habe nicht berücksichtigt, dass für den Abfall vom Glauben, Konversion oder Blasphemie die Verhängung schwerer Strafen, darunter die Todesstrafe vorgesehen sei. Der BF entspreche mehreren der in der UNHCR Richtlinie angeführten Risikoprofilen, was die belangte Behörde nicht hinreichend berücksichtigt habe. Dem BF drohe im Falle einer Rückkehr jedenfalls Verfolgung aufgrund der unterstellten politischen und religiösen Gesinnung. Neben der drohenden Verfolgung wegen "Zina" müsse der BF im Falle einer Rückkehr auch wohlbegründete Furcht vor Verfolgung als Minderheitenangehöriger haben, der mehrere Jahre im westlichen Ausland gelebt habe, sich zwischenzeitlich vom Islam abgewendet habe, und als "verwestlicht" angesehen werden würde und mit dem Vorwurf des Abfalls vom Glauben konfrontiert wäre. Dem BF sei es nicht zumutbar, seine Entfremdung vom Islam sowie sein Interesse am Christentum zu verheimlichen und ständige Selbstzensur zu üben. Die belange Behörde habe eine unzureichende Interessensabwägung vorgenommen, da sie nicht auf alle Umstände des Einzelfalles Bedacht genommen habe. Dem BF sei eine Rückkehr nach Afghanistan nicht zumutbar. Der BF weise eine überdurchschnittlich gute Integration in Österreich auf. Der einzige Verwandte, zu dem der BF noch Kontakt habe, sei sein Onkel, der in Österreich lebe. Daher sei unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls beim BF die erlassene Rückkehrentscheidung jedenfalls im Hinblick auf Art. 8 EMRK unverhältnismäßig und damit rechtswidrig. Der BF beantragte, eine mündliche Beschwerdeverhandlung durchzuführen. Der BF legte eine Reihe von weiteren Integrationsunterlagen der Beschwerde bei.

Die Beschwerde und der Bezug habende Verwaltungsakt langten am 13.11.2017 beim Bundesverwaltungsgericht (in der Folge BVwG) ein.

Das BVwG führte am 05.04.2018 eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der die belangte Behörde entschuldigt nicht teilnahm. Der BF wurde im Beisein seines anwaltlichen Vertreters und eines Dolmetschers für die Sprache Dari zu seinen Fluchtgründen und zu seiner Situation in Österreich befragt und wurde ihm Gelegenheit gegeben, zu den aktuellen Feststellungen zur Situation in Afghanistan Stellung zu nehmen. Er gab unter anderem an, schiitischer Moslem zu sein und wissen zu wollen, was das Christentum sei. Der BF legte wiederum eine Reihe von Integrationsunterlagen vor.

Das BVwG legte im Rahmen der Verhandlung die aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan, genauer das Länderinformationsblatt Afghanistan in der Fassung vom 30.01.2018, Auszüge aus der UNHCR Richtlinie vom 19.04.2016 und einen Bericht der SFH vom 02.10.2012 zum Thema: Afghanistan: Zina außerehelicher Geschlechtsverkehr vor und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu innerhalb einer Frist von drei Wochen eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.

Die belangte Behörde führte in ihrer Stellungnahme vom 11.04.2018 umfassend aus, aus welchen Gründen dem BF die Glaubwürdigkeit seiner Person und die Glaubhaftigkeit seiner Aussagen abzusprechen sei.

Der BF, bevollmächtigt vertreten durch Mag. Wolfgang AUNER, Rechtsanwalt in Leoben, führte in seiner Stellungnahme vom 25.04.2018 im Wesentlichen aus, dass der BF durch seine Tat der Gefahr von Ehrenmorden ausgesetzt sei. Zudem sei die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan sehr schlecht, wie dies die zitierten Länderinformationen belegen würden. Der BF verfüge in Afghanistan über kein familiäres oder soziales Netzwerk, er sei im Falle einer Rückkehr auf sich alleine gestellt. Der BF legte ein Gutachten eines Psychotherapeuten vom 13.11.2017 vor, wonach der BF an einer mittelschweren depressiven Episode, einer ängstlich getönten Depression und psychisch bedingten Schlafstörungen leide. Es sei dem BF unter Berücksichtigung seiner individuellen Situation nicht zumutbar, nach Afghanistan zurückzukehren. Der BF beantragte die Einholung eines SV Gutachtens, zum Beweis dafür, dass aufgrund der "verbotenen" Beziehung des BF zu seiner "Stiefschwester" dieser Widrigkeiten gegen Leib und Leben zu befürchten habe, und ihm eine innerstaatliche Fluchtalternative nicht zur Verfügung stehe, und die Einholung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens zum Beweis dafür, dass wegen der beim BF vorliegenden Depression und der psychisch bedingten Schlafstörungen im Falle der Rückkehr eine Verschlechterung eintreten werde, wozu auch der behandelnde Arzt zeugenschaftlich einvernommen werden könne.

Mit Eingabe vom 23.08.2018 gab der anwaltliche Vertreter des BF die Vollmachtsauflösung bekannt. Mit Eingabe vom 29.08.2019 teilte die ARGE Rechtsberatung, Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH mit, dass diese vom BF mit der Rechtsvertretung betraut worden sei und legte eine Kopie der Vollmacht vor.

Mit Eingabe vom 30.08.2018 teilte der BF durch seinen Rechtsvertreter mit, dass sein Onkel beabsichtige, den BF zu adoptieren und dass diesbezüglich ein Verfahren anhängig sei. Weiters legte der BF eine psychologische Diagnostik vom 28.07.2018 vor, wonach der BF mit einer Psychotherapie begonnen habe, sich gewisse Symptome deutlich gebessert hätten, und der BF nunmehr an einer Traumfolgestörung, einer mittelschweren depressiven Episode, einer ängstlich getönten Depression und an psychisch bedingten Schlafstörungen leide.

Die belangte Behörde übermittelte am 11.03.2019 den Beschluss des BG XXXX vom 07.02.2019, wonach der Antrag auf Bewilligung der Annahme an Kindesstatt vom 25.10.2018 abgewiesen werde, da es nach afghanischem Recht eine Adoption oder ein rechtlich ähnliches Instrument nicht gebe, damit sei eine Adoption nach internationalem Privatrecht auch in Österreich nicht zulässig.

Der BF legte mit Eingabe vom 27.03.2019 ÖSD Zertifikate Deutsch A2 und Deutsch B1 und eine Bestätigung für den Lehrgang "Übergangsstufe Flüchtlinge 2018/2019" vor.

Das BVwG führte am 26.04.2019 neuerlich eine öffentliche mündliche Beschwerdeverhandlung durch, an der die belangte Behörde entschuldigt nicht teilnahm. Im Zuge der Beschwerdeverhandlung wurde der in Österreich lebende Onkel des BF als Zeuge einvernommen. Dieser gab an, dass er ein sehr enges Verhältnis zum BF habe, dieser jedoch nicht mit ihm in einem gemeinsamen Haushalt lebe. Der BF wurde im Beisein seines Vertreters und eines Dolmetschers für die Sprache Dari ergänzend zu seinen Fluchtgründen und zu seiner Situation in Österreich befragt. Der BF legte wiederum eine Reihe von Integrationsunterlagen vor.

Das BVwG legte im Rahmen der Verhandlung die aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan, genauer das Länderinformationsblatt Afghanistan in der Fassung vom 26.03.2019, die UNHCR Richtlinie vom 30.08.2018, Auszüge aus den EASO Leitlinien vom Juni 2018, eine ACCORD Anfragebeantwortung zu Afghanistan:

Außereheliche sexuelle Beziehungen und deren Konsequenzen nach paschtunischem Gewohnheistsrecht, einschließlich der Rolle der Dschirgas vom 07.11.2018 und eine Anfragebeantwortung der Staatendokumentation zu AFGHANISTAN: Ehebruch/Zina, Verjährung vom 12.06.2018 vor und räumte den Parteien des Verfahrens die Möglichkeit ein, hierzu innerhalb einer Frist von sechs Wochen eine schriftliche Stellungnahme abzugeben.

Der BF führte durch seine bevollmächtige Vertretung in seiner Stellungnahme vom 28.05.2019 im Wesentlichen aus, dass der BF am 17.05.2019 die A2 Integrationsprüfung absolviert habe. Das Ergebnis der Prüfung werde laut ÖIF drei Wochen nach der Prüfung vorliegen. Er hoffe, dass er das Prüfungsergebnis zeitgerecht vorlegen könne, ansonsten werde er um Erstreckung der Stellungnahmefrist ersuchen.

Das BVwG führte am 04.06.2019 eine Abfrage im GVS System durch, wonach der BF seit 06.11.2015 Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung bezieht.

Aus dem vom BVwG am 04.06.2019 eingeholten Auszug aus dem Strafregister ist ersichtlich, dass im Strafregister der Republik Österreich für den BF keine Verurteilungen aufscheinen.

Der BF übermittelte mit Eingabe vom 07.06.2019 das Zeugnis zur Integrationsprüfung: ÖIF Sprachdiplom A2 mit Werte- und Orientierungswissen. Damit erfülle der BF das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG) und somit die Erteilungsvoraussetzungen gemäß § 55 Abs. 1 Z 2 AsylG für eine "Aufenthaltsberechtigung plus".

Die belangte Behörde gab keine Stellungnahme ab.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1 Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers

Der BF führt den Namen XXXX , auch XXXX , geboren in Teheran im Iran, ist afghanischer Staatsangehöriger, gehört der Volksgruppe der Hazara an, ist schiitischer Moslem, kinderlos, ledig und arbeitsfähig. Die Muttersprache des BF ist Dari. Neben Dari spricht der BF auch Farsi, Deutsch und etwas Englisch. Der BF kennt sein genaues Geburtsdatum nicht, dieses wird mit XXXX festgesetzt. Der BF ist Zivilist.

Der BF wuchs bis zu seinem 11. Lebensjahr im Iran, in Teheran, genauer in XXXX auf. Er besuchte dort für vier Jahre die Grundschule.

Der Vater des BF hieß XXXX , er verstarb, als der BF ca. 10 Jahre alt war. Seine Mutter heißt XXXX . Sie heirate kurze Zeit nach dem Tod ihres ersten Mannes einen Mann namens XXXX XXXX . Der BF hat vier leibliche Geschwister, zwei jüngere Brüder und zwei jüngere Schwestern. Er hat noch einen jüngeren Halbbruder, welcher der Sohn seiner Mutter und seines Stiefvaters ist. Sein Stiefvater brachte eine Tochter in die Ehe mit, die ein Jahr älter als der BF ist.

Der BF zog mit seiner Familie in seinem 11. Lebensjahr nach Kabul, wo die Familie im Eigentumshaus seines Stiefvaters im Stadtteil XXXX lebte. Der Stiefvater des BF arbeitet als Tischler und ernährte mit seinem Einkommen die Familie. Die Mutter des BF ist Hausfrau. Es ist mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass die Familie des BF nach wie vor in diesem Haus lebt. Der BF hat keinen Kontakt zu seiner Herkunftsfamilie.

Der BF, der für ca. vier Jahre als Kind, bzw. Jugendlicher in Kabul lebte, war in Afghanistan nicht berufstätig, er ging auch nicht zur Schule. Er spielte Fußball, trainierte, fuhr mit dem Fahrrad und ging Schwimmen.

Der Stiefvater des BF behandelte diesen schlecht und schlug ihn mehrfach.

Der BF reiste Mitte 2015 aus Afghanistan aus und gelangte über den Iran, die Türkei über Griechenland und weitere Staaten nach Österreich, wo er am 06.11.2015 illegal einreiste und am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

1.2 Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers

Das vom BF dargelegte Fluchtvorbringen betreffend die Gefahr, aufgrund eines sexuellen Verhältnisses mit seiner Stiefschwester von seinem Stiefvater und den afghanischen Behörden verfolgt und getötet zu werden, ist nicht glaubhaft.

Der BF verließ Afghanistan, genauer die Stadt Kabul, aufgrund der stetigen Misshandlungen durch seinen Stiefvater. Die staatlichen Behörden sind nicht willens und in der Lage, den BF vor dieser häuslichen Gewalt zu schützen.

Der BF ist nicht vom islamischen Glauben abgefallen.

Der BF war in seinem Heimatland Afghanistan keiner psychischen oder physischen Gewalt aus Gründen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung und/oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ausgesetzt, noch hat er eine solche, im Falle seiner Rückkehr, zu befürchten.

Dem BF droht wegen der Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara oder zur schiitischen Religion konkret und individuell keine physische und/oder psychische Gewalt in Afghanistan. Nicht jeder Angehörige der Volksgruppe der Hazara oder der schiitischen Religion ist in Afghanistan physischer und/oder psychischer Gewalt ausgesetzt.

Es ist nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass konkret der BF auf Grund der Tatsache, dass er sich seit ca. dreieinhalb Jahren in Europa aufhält, bzw. dass jeder afghanische Staatsangehörige, der aus Europa nach Afghanistan zurückkehrt, in Afghanistan psychischer und/oder physischer Gewalt ausgesetzt wäre. Ebenso wenig kann mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit angenommen werden, dass dem BF bei einer Rückkehr nach Afghanistan auf Grund seiner "westlichen Wertehaltung" psychische und/oder physische Gewalt drohen wird.

1.3 Zum (Privat)Leben des Beschwerdeführers in Österreich:

Der BF befindet sich seit seiner Antragstellung im November 2015 auf Grund einer vorübergehenden Aufenthaltsberechtigung nach dem AsylG 2005 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet. Er bezieht seit seiner Einreise Leistungen aus der vorübergehenden Grundversorgung. Der BF ist nicht selbsterhaltungsfähig. Da der BF keine Arbeitserlaubnis hat, kann er in Österreich nicht arbeiten.

Der BF besuchte Deutschkurse, zuletzt auf Niveau B1, und verfügt über sehr gute Kenntnisse der deutschen Sprache. Er besuchte zwei Mal pro Woche einen Englischkurs. Er besuchte in der Zeit vom Oktober 2017 bis Februar 2018 die Übergangsklasse der HAK in XXXX . Der BF besucht vom 11.02.2018 bis 28.06.2019 die Übergangsstufe für Flüchtlinge am Abendgymnasium XXXX , wobei der Unterricht täglich von 08:30 Uhr bis 14.10 Uhr dauert.

Der BF nimmt regelmäßig in einer Musikschule Unterricht am gewählten Instrument, dem Schlagzeug. Er lernte auch, Ukulele zu spielen. Er besucht kulturelle Veranstaltungen in der Gemeinde, in der er derzeit lebt. Der BF nahm und nimmt an lokalen Laufveranstaltungen teil. Er leistet in der Gemeinde, in der er lebt, gemeinnützige Arbeit. Er ist aktives Mitglied der Freiwilligen Feuerwehr. Der BF wird von seinen Bezugspersonen als freundlich, verlässlich, ehrlich, fleißig, hilfsbereit, wissensdurstig, tüchtig, begabt, zielstrebig, aufgeschlossen, herzlich, offen, aber auch als traurig und verängstigt beschrieben.

Der BF erlitt bei einer Rauferei im Flüchtlingsheim am 21.10.2017 durch einen Schlag auf den Hinterkopf eine Kopfprellung und eine Halsansatzprellung. Der BF unterzog sich am 27.11.2017 einer komplikationslosen Schulterarthroskopie mit arthroskopischer J-Span Plastik und SLAP repair zur Stabilisierung der rechten Schulter. Er trug nach dieser Operation sechs Wochen lang eine Schulterbandage und machte Physiotherapie. Er litt in den Jahren 2017 und 2018 an einer mittelschweren depressiven Episode, einer ängstlich getönten Depression und psychisch bedingten Schlafstörungen. Der BF ist wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung (F43.1) und einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung (F60.31) seit 09.05.2018 in psychotherapeutischer Behandlung bei Dr. XXXX , einer Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin.

Der BF interessiert sich für Religionen, unter anderem für den christlichen Glauben.

Der BF hat in Österreich Familienangehörige, genauer einen Onkel mütterlicherseits, XXXX , einen österreichischen Staatsbürger, und dessen Familie. Der BF lernte seinen Onkel in Österreich kennen. Der BF und die Familie seines Onkels leben nicht in einem gemeinsamen Haushalt. Es besteht zwischen dem BF und seinem Onkel keine finanzielle oder sonstige Abhängigkeit. Der BF, sein Onkel und dessen Ehefrau, XXXX , stellten mit Eingabe vom 25.10.2018 (eingelangt am 08.11.2018) beim Bezirksgericht XXXX einen Antrag auf Bewilligung der Annahme an Kindesstatt. Mit rechtskräftigem Beschluss vom 07.02.2019 wies das Bezirksgerichtes XXXX diesen Antrag im Wesentlichen mit der Begründung ab, dass es nach afghanischen Recht eine Adoption oder ein rechtlich ähnliches Instrument nicht gibt. In dem Fall, dass das anzuwendende ausländische Recht keine (Erwachsenen-)Adoption vorsieht, ist eine solche auch in Österreich nicht zulässig. Nachdem der BF in diesem Verfahren auch nicht nachweisen konnte, dass er ein anerkannter Flüchtling ist, ist österreichisches Recht nach § 9 Abs. 2 IPRG nicht anwendbar.

Der BF bestand am 17.05.2019 die Integrationsprüfung des Österreichischen Integrationsfonds bestehend aus Inhalten zur Sprachkompetenz Niveau A2 und zu Werte- und Orientierungswissen.

Neben Freundschaften konnten keine weiteren substantiellen Anknüpfungspunkte im Bereich des Privatlebens des BF in Österreich festgestellt werden. Der BF ist in Österreich strafrechtlich unbescholten.

1.4 Zu einer möglichen Rückkehr des Beschwerdeführers in den Herkunftsstaat:

Der BF kann aufgrund der ihm mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit durch seinen Stiefvater drohenden häuslichen Gewalt nicht seine Herkunftsstadt Kabul, wo seine Herkunftsfamilie lebt, zurückzukehren.

Dem BF ist auch eine Rückkehr und (Wieder-)Ansiedlung in eine andere Provinz Afghanistans aufgrund seiner individuellen Umstände nicht zumutbar. Der psychisch kranke BF verfügt in Afghanistan über kein familiäres oder soziales Netzwerk, mit dessen Unterstützung er eine Existenzgrundlage aufbauen könnte. Der BF ist in Teheran im Iran geboren, ist dort auch aufgewachsen. Er hat sich - bis auf vier Jahre ab seinem 11. Lebensjahr bis zu seinem 15 Lebensjahr - nicht in Afghanistan aufgehalten und ist mit den örtlichen und infrastrukturellen Gegebenheiten sowie den dortigen Lebensgewohnheiten nur bedingt vertraut. Er ist als Hazara und schiitischer Moslem mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Diskriminierungen ausgesetzt. Bedingt durch seine psychische Krankheit und durch den Umstand, dass der BF als Kind im Iran sozialisiert ist, wird es für ihn, im Vergleich zur übrigen dort lebenden Bevölkerung, ungleich schwieriger sein, eine Wohnung und einen Arbeitsplatz zu finden, und sich seinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Hinzu kommt, dass der BF hat keine Berufsausbildung hat und selbst noch nie berufstätig war, er verfügt damit über keine Berufserfahrung, die er im Falle einer Rückkehr nützen könnte.

Die beim BF vorgenommene Einzelfallprüfung ergibt, dass aufgrund der oben dargelegten individuellen Umstände nicht davon ausgegangen werden kann, dass es ihm möglich ist, nach allfälligen anfänglichen Schwierigkeiten in Afghanistan, insbesondere auch bei einer Neuansiedlung in der Stadt Mazar-e Sharif, Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können. Bei einer dortigen Ansiedlung liefe der BF vielmehr Gefahr, grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft nicht befriedigen zu können und in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten.

1.5 Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat:

Zur Lage in Afghanistan werden die im Länderinformationsblatt der Staatendokumentation in der Gesamtaktualisierung vom 29.06.2018 mit Stand vom 26.03.2019, in den UNHCR Richtlinien vom 30.08.2018, in den EASO Leitlinien zu Afghanistan vom Juni 2018, im Bericht der Schweizer Flüchtlingshilfe (SH) vom 02.10.2012 zum Thema:

Afghanistan: Zina, außerehelicher Geschlechtsverkehr, in der ACCORD

Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Außereheliche sexuelle Beziehungen und deren Konsequenzen nach paschtunischem Gewohnheistsrecht, einschließlich der Rolle der Dschirgas vom 07.11.2018 und in der Anfragebeantwortung der Staatendokumentation vom 12.06.2018 zu AFGHANISTAN: Ehebruch/Zina, Verjährung enthaltenen folgenden Informationen als entscheidungsrelevant festgestellt:

1.5.1 Sicherheitslage

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt insgesamt volatil und weist starke regionale Unterschiede auf. Provinzen und Distrikten mit aktiven Kampfhandlungen stehen andere gegenüber, in denen die Lage trotz punktueller Sicherheitsvorfälle vergleichsweise stabil ist. Die afghanische Regierung behält die Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, Transitrouten, Provinzhauptstädte und den Großteil der Distriktzentren. Ausländische Streitkräfte und Regierungsvertreter sowie die als ihre Verbündeten angesehenen Angehörigen der afghanischen Sicherheitskräfte und Vertreter der afghanischen Regierung sind prioritäre Ziele der Aufständischen. Eine Bedrohung für Zivilisten geht insbesondere von Kampfhandlungen zwischen den Konfliktparteien sowie improvisierten Sprengkörpern, Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen auf staatliche Einrichtungen aus. In einigen Teilen des Landes ist fehlende Sicherheit die größte Bewegungseinschränkung. In bestimmten Gebieten machen Gewalt durch Aufständische, Landminen und improvisierte Sprengfallen (IEDs) das Reisen besonders gefährlich, speziell in der Nacht. Bewaffnete Aufständischengruppen betreiben illegale Checkpoints und erpressen Geld und Waren.

1.5.1.1 Herkunftsprovinz Kabul

Die Provinzhauptstadt von Kabul und gleichzeitig Hauptstadt von Afghanistan ist Kabul-Stadt, die Herkunftsprovinz des BF. Die Provinz Kabul grenzt im Nordwesten an die Provinz Parwan, im Nordosten an Kapisa. im Osten an Laghman, an Nangarhar im Südosten, an Logar im Süden und an (Maidan) Wardak im Südwesten. Die Provinz Kabul besteht aus folgenden Einheiten: Bagrami. Chaharasyab/Char Asiab. Dehsabz/Deh sabz. Estalef/Istalif. Farza. Guldara. Kabul Stadt. Kalakan. Khak-e Jabbar/Khak-i-Jabar. Mirbachakot/Mir Bacha Kot. Musayi/Mussahi. Paghman. Qarabagh. Shakardara. Surobi/Sorubi. Die Bevölkerungszahl der Provinz wird auf 4.679.648 geschätzt.

In der Hauptstadt Kabul leben unterschiedliche Ethnien: Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus. Ein Großteil der Bevölkerung gehört dem sunnitischen Glauben an, dennoch lebt eine Anzahl von Schiiten, Sikhs und Hindus nebeneinander in Kabul Stadt.

Einst als relativ sicher erachtet, ist die Hauptstadt Kabul von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen der Taliban betroffen, die darauf abzielen, die Autorität der afghanischen Regierung zu untergraben. Regierungsfeindliche, bewaffnete Gruppierungen inklusive des IS versuchen in Schlüsselprovinzen und -distrikten, wie auch in der Hauptstadt Kabul, Angriffe auszuführen. In den letzten Jahren kam es zu mehreren "high-profile"-Angriffen in der Stadt Kabul; dadurch zeigte sich die Angreifbarkeit/Vulnerabilität der afghanischen und ausländischen Sicherheitskräfte.

Im Zeitraum 01.01.2017- 30.04.2018 wurden in der Provinz 410 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Im gesamten Jahr 2017 wurden 1.831 zivile Opfer (479 getötete Zivilisten und 1.352 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Selbstmordanschläge, gefolgt von IEDs und gezielte Tötungen. Dies bedeutet eine Steigerung von 4% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016. Für Kabul-Stadt wurden insgesamt 1.612 zivile Opfer registriert; dies bedeutet eine Steigerung von 17% im Gegensatz zum Vorjahr 2016 (440 getötete Zivilisten und 1.172 Verletzte). Im Jahr 2017 war die höchste Anzahl ziviler Opfer Afghanistans in der Provinz Kabul zu verzeichnen, die hauptsächlich auf willkürliche Angriffe in der Stadt Kabul zurückzuführen waren; 16% aller zivilen Opfer in Afghanistan sind in Kabul zu verzeichnen. Selbstmordangriffe und komplexe Attacken, aber auch andere Vorfallsarten, in denen auch IEDs verwendet wurden, erhöhten die Anzahl ziviler Opfer in Kabul. Dieser öffentlichkeitswirksame (high-profile) Angriff im Mai 2017 war alleine für ein Drittel ziviler Opfer in der Stadt Kabul im Jahr 2017 verantwortlich. Für den Zeitraum 01.01.2017 - 31.01.2018 wurden in der Provinz Kabul vom IS verursachte Vorfälle registriert (Gewalt gegenüber Zivilist/innen und Gefechte).

Regelmäßig werden in der Hauptstadt Sicherheitsoperationen durch die Regierung in unterschiedlichen Gebieten ausgeführt. Im Rahmen des neuen Sicherheitsplanes sollen außerdem Hausdurchsuchungen ausgeführt werden. Um die Sicherheitslage in Kabul-Stadt zu verbessern, wurden im Rahmen eines neuen Sicherheitsplanes mit dem Namen "Zarghun Belt" (der grüne Gürtel), der Mitte August 2017 bekannt gegeben wurde, mindestens 90 Kontrollpunkte in den zentralen Teilen der Stadt Kabul errichtet. Die afghanische Regierung deklarierte einen Schlüsselbereich der afghanischen Hauptstadt zur "Green Zone" - dies ist die Region, in der wichtige Regierungsinstitutionen, ausländische Vertretungen und einige Betriebe verortet sind. Kabul hatte zwar niemals eine formelle "Green Zone"; dennoch hat sich das Zentrum der afghanischen Hauptstadt, gekennzeichnet von bewaffneten Kontrollpunkten und Sicherheitswänden, immer mehr in eine militärische Zone verwandelt. Die neue Strategie beinhaltet auch die Schließung der Seitenstraßen, welche die Hauptstadt Kabul mit den angrenzenden Vorstädten verbinden; des Weiteren, werden die Sicherheitskräfte ihre Präsenz, Personenkontrollen und geheimdienstlichen Aktivitäten erhöhen. Damit soll innerhalb der Sicherheitszone der Personenverkehr kontrolliert werden. Die engmaschigen Sicherheitsmaßnahmen beinhalten auch eine erhöhte Anzahl an Sicherheitskräften und eine Verbesserung der Infrastruktur rund um Schlüsselbereiche der Stadt. Insgesamt beinhaltet dieser neue Sicherheitsplan 52 Maßnahmen, von denen die meisten nicht veröffentlicht werden. Auch übernimmt die ANA einige der porösen Kontrollpunkte innerhalb der Stadt und bildet spezialisierte Soldaten aus, um Wache zu stehen. Des Weiteren soll ein kreisförmiger innerer Sicherheitsmantel entstehen, der an einen äußeren Sicherheitsring nahtlos anschließt - alles dazwischen muss geräumt werden.

UNHCR stellt fest, dass Zivilisten, die in Kabul tagtäglich ihren wirtschaftlichen oder sozialen Aktivitäten nachgehen, Gefahr laufen, Opfer der allgegenwärtigen in der Stadt bestehenden Gefahr zu werden. Zu solchen Aktivitäten zählen etwa der Weg zur Arbeit und zurück, die Fahrt in Krankenhäuser und Kliniken, der Weg zur Schule; den Lebensunterhalt betreffende Aktivitäten, die auf den Straßen der Stadt stattfinden, wie Straßenverkäufe; sowie der Weg zum Markt, in die Moschee oder an andere Orte, an denen viele Menschen zusammentreffen.

Die Provinz Kabul zählt laut EASO zu jenen Provinzen Afghanistans, wo willkürliche Gewalt stattfindet und allenfalls eine reelle Gefahr festgestellt werden kann, dass der BF ernsthaften Schaden im Sinne von Art. 15(c) der Qualifizierungsrichtlinie nehmen könnte - vorausgesetzt, dass er aufgrund seiner persönlichen Verhältnisse von derartigen Risikofaktoren konkret betroffen ist.

Laut der aktuellen UNHCR Richtlinie vom 30.08.2019 ist aufgrund der gegenwärtigen Sicherheits-, Menschenrechts- und humanitären Lage in Kabul eine interne Schutzalternative in der Stadt grundsätzlich nicht verfügbar.

1.5.2 Wirtschafts- und Versorgungslage

Zur Wirtschafts- und Versorgungslage ist festzuhalten, dass Afghanistan weiterhin ein Land mit hoher Armutsrate und Arbeitslosigkeit ist. Seit 2002 hat Afghanistan mit Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft wichtige Fortschritte beim Wiederaufbau seiner Wirtschaft erzielt. Nichtsdestotrotz bleiben bedeutende Herausforderungen bestehen, da das Land weiterhin von Konflikten betroffen, arm und von Hilfeleistungen abhängig ist. Während auf nationaler Ebene die Armutsrate in den letzten Jahren etwas gesunken ist, stieg sie in Nordostafghanistan in sehr hohem Maße. Im Norden und im Westen des Landes konnte sie hingegen reduziert werden. Angesichts des langsamen Wachstums, sicherheitsbedingter Versorgungsunterbrechungen und schwacher landwirtschaftlicher Leistungen, nimmt die Armut auch im Jahr 2018 weiterhin zu.

In den Jahren 2016-2017 wuchs die Arbeitslosenrate, die im Zeitraum 2013-2014 bei 22,6% gelegen hatte, um 1%. Die Arbeitslosigkeit betrifft hauptsächlich gering qualifizierte bildungsferne Personen; diese sind auch am meisten armutsgefährdet. Über 40% der erwerbstätigen Bevölkerung gelten im Jahr 2018 als arbeitslos oder unterbeschäftigt. Es müssten jährlich geschätzte 400.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, um Neueinsteiger in den Arbeitsmarkt integrieren zu können.

Die afghanische Regierung hat Bemühungen zur Armutsreduktion gesetzt und unterstützt den Privatsektor weiterhin dabei, nachhaltige Jobs zu schaffen und das Wirtschaftswachstum voranzutreiben. Die Ausstellung von Gewerbeberechtigungen soll gesteigert, steuerliche Sanktionen abgeschafft und öffentlich-private Partnerschaften entwickelt werden; weitere Initiativen sind geplant.

Menschen aus unsicheren Provinzen, auf der Suche nach Sicherheit und Jobs, kommen nach Kabul - beispielsweise in die Region Shuhada-e Saliheen. In der Hauptstadt Kabul existieren etwa 60 anerkannte informelle Siedlungen, in denen 65.000 registrierte Rückkehrer/innen und IDPs wohnen.

Generell besteht in Kabul keine Lebensmittelknappheit. Es sind sichere Unterkunftsmöglichkeiten vorhanden. Der Zugang zu einer adäquaten Wohnmöglichkeit stellt für die Mehrzahl der in Städten lebenden Afghanen eine echte Herausforderung dar. In Kabul gibt es ein Überangebot an hochwertigen Unterkünften, welche jedoch für die Mehrheit der Stadtbewohner von Kabul nicht leistbar sind. Die große Anzahl Vertriebener sowie der plötzliche Anstieg an Rückkehrern in der zweiten Hälfte des Jahres 2016 hat die ohnehin schon überspannte Aufnahmekapazität der Städte noch zusätzlich belastet. Vertriebene Personen finden sich letztlich zumeist in Unterkünften für Binnenflüchtlinge wieder, weshalb sie eine sichere Unterkunft als ihr vorrangigstes Bedürfnis bezeichnen. In Kabul werden als Alternative auch günstige Unterkünfte in "Teehäusern" angeboten. Der Zugang zu Trinkwasser stellt oft eine Herausforderung dar, insbesondere in den Elendsvierteln von Kabul und den dortigen Unterkünften für Binnenflüchtlinge. Was den Zugang zum Arbeitsmarkt betrifft, so sind die Arbeitslosenzahlen (bzw. auch die Zahl der Unterbeschäftigten) aufgrund der momentanen Wirtschafts- und Sicherheitslage durchaus hoch (insbesondere für die städtische Jugend), wobei sich dieser Trend in den letzten Jahren noch verschärft hat. Der zunehmende Wettbewerb auf dem Arbeitsmarkt resultiert aus der wachsenden Zahl arbeitssuchender Vertriebener. Die Armut ist in Kabul weit verbreitet und noch immer im Wachsen begriffen. Unter derartigen Rahmenbedingungen bedienen sich immer mehr Leute, die in den Städten leben, nicht willkommener Erwerbsquellen (wie z.B. Verbrechen, Kinderheirat, Kinderarbeit, Bettelei, Straßenverkauf), wobei die traditionellen Hilfsmechanismen (insbesondere in den städtischen Regionen) überlastet sind.

1.5.3 Medizinische Versorgung

Medizinische Versorgung ist in Afghanistan insbesondere in größeren Städten wie etwa in Mazar-e Sharif sowohl in staatlichen als auch privaten Krankenhäusern verfügbar.

Theoretisch ist die medizinische Versorgung in staatlichen Krankenhäusern kostenlos. Dennoch ist es üblich, dass Patienten Ärzte und Krankenschwestern bestechen, um bessere bzw. schnellere medizinische Versorgung zu bekommen. Eine begrenzte Anzahl an staatlichen Krankenhäusern in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar. Die Behandlungskosten in diesen Einrichtungen variieren. Für den Zugang zur medizinischen Versorgung sind der Besitz der afghanischen Staatsbürgerschaft und die Mitnahme eines gültigen Ausweises bzw. der Tazkira erforderlich. In öffentlichen Krankenhäusern in den größeren Städten Afghanistans können leichte und saisonbedingte Krankheiten sowie medizinische Notfälle behandelt werden. Chirurgische Eingriffe können nur in bestimmten Orten geboten werden, die meist einen Mangel an Ausstattung und Personal aufweisen. Wenn eine bestimmte medizinische Behandlung in Afghanistan nicht möglich ist, sehen sich Patienten gezwungen ins Ausland, meistens nach Indien, in den Iran, nach Pakistan und in die Türkei zu reisen. Da die medizinische Behandlung im Ausland kostenintensiv ist, haben zahlreiche Patienten, die es sich nicht leisten können, keinen Zugang zu einer angemessenen medizinischen Behandlung.

In der afghanischen Bevölkerung leiden viele Menschen an unterschiedlichen psychischen Erkrankungen. Psychische Krankheiten wie posttraumatische Belastungsstörung, Depression und Angstzustände - die oft durch den Krieg hervorgerufen wurden - sind in Afghanistan weit verbreitet, es gibt aber nur geringe Kapazitäten zur Behandlung dieser Erkrankungen. Die afghanische Regierung ist sich der Problematik bewusst und hat geistige Gesundheit als Schwerpunkt gesetzt. Jedoch ist der Fortschritt schleppend und die Leistungen außerhalb von Kabul sind dürftig. In der afghanischen Gesellschaft werden Menschen mit körperlichen und psychischen Behinderungen als schutzbedürftig betrachtet. Sie sind Teil der Familie und werden genauso wie Kranke und Alte gepflegt. Daher müssen körperlich und geistig Behinderte sowie Opfer von Missbrauch eine starke familiäre und gemeinschaftliche Unterstützung sicherstellen.

Die Infrastruktur für die Bedürfnisse mentaler Gesundheit entwickelt sich langsam. So existieren z. B. in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. In Kabul existiert eine weitere psychiatrische Klinik. Landesweit bieten alle Provinzkrankenhäuser kostenfreie psychologische Beratungen an, die in einigen Fällen sogar online zur Verfügung stehen. Mental erkrankte Personen können beim Roten Halbmond, in entsprechenden Krankenhäusern und bei anderen Nichtregierungsorganisationen behandelt werden. Einige dieser NGOs sind die International Psychological Organisation (IPSO) in Kabul, die Medica Afghanistan und die PARSA.

Traditionell mangelt es in Afghanistan an einem Konzept für psychisch Kranke. Sie werden nicht selten in spirituellen Schreinen unter teilweise unmenschlichen Bedingungen "behandelt" oder es wird ihnen durch eine "Therapie" mit Brot, Wasser und Pfeffer der "böse Geist ausgetrieben". Es gibt jedoch aktuelle Bemühungen, die Akzeptanz und Kapazitäten für psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten zu stärken und auch Aufklärung sowohl über das Internet als auch in Form von Comics (für Analphabeten) zu. Beispielweise wurde in der Provinz Badakhshan durch internationale Zusammenarbeit ein Projekt durchgeführt, bei dem konventionelle und kostengünstige e-Gesundheitslösungen angewendet werden, um die vier häufigsten psychischen Erkrankungen zu behandeln: Depressionen, Psychosen, posttraumatische Belastungsstörungen und Suchterkrankungen. Erste Evaluierungen deuten darauf hin, dass in abgelegenen Regionen die Qualität der Gesundheitsversorgung verbessert werden konnte. Auch die gesellschaftliche Stigmatisierung psychisch Erkrankter konnte reduziert werden.

Trotzdem findet die Behandlung von psychischen Erkrankungen - insbesondere Kriegstraumata - abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt.

1.5.4 Ethnische Minderheiten

In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34,1 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht.

Schätzungen zufolge, sind: 40% Paschtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara, 9% Usbeken. Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht. Diese weiteren in der Verfassung genannten Sprachen sind Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz, beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen, keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.

Die schiitische Minderheit der Hazara, zu welchen der BF zählt, macht etwa 10% der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und unter der Bezeichnung Hazaradschat (azarajat) bekannt ist. Das Kernland dieser Region umfasst die Provinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak. Es können auch einzelne Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul dazugerechnet werden. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind einerseits ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild, woraus gern Schlussfolgerungen über eine turko-mongolische Abstammung der Hazara gezogen werden. Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradschat leben, sind Ismailiten.

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Familie bzw. dem Klan. Die sozialen Strukturen der Hazara werden manchmal als Stammesstrukturen bezeichnet; dennoch bestehen in Wirklichkeit keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Das traditionelle soziale Netz der Hazara besteht größtenteils aus der Familie, obwohl gelegentlich auch politische Führer einbezogen werden können.

Nicht weniger wichtig als Religion und Abstammung ist für das ethnische Selbstverständnis der Hazara eine lange Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Marginalisierung. Jahrzehntelange Kriege und schwere Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Dennoch hat sich die Lage der Hazara, die während der Taliban-Herrschaft besonders verfolgt waren, grundsätzlich verbessert; vornehmlich aufgrund von Bildung und vor allem auf ökonomischem und politischem Gebiet. Hazara in Kabul gehören jetzt zu den am besten gebildeten Bevölkerungsgruppen und haben auch eine Reihe von Dichtern und Schriftstellern hervorgebracht. Auch wenn es nicht allen Hazara möglich war diese Möglichkeiten zu nutzen, so haben sie sich dennoch in den Bereichen Bildung, öffentliche Verwaltung und Wirtschaft etabliert.

So haben Hazara eine neue afghanische Mittelklasse gegründet. Im Allgemeinen haben sie, wie andere ethnische Gruppen auch, gleichwertigen Zugang zum Arbeitsmarkt. Nichtsdestotrotz, sind sie von einer allgemein wirtschaftlichen Verschlechterung mehr betroffen als andere, da für sie der Zugang zu Regierungsstellen schwieriger ist - außer ein/e Hazara ist selbst Abteilungsleiter/in. Einer Quelle zufolge existiert in der afghanischen Gesellschaft die Auffassung, dass andere ethnische Gruppierungen schlecht bezahlte Jobs Hazara geben. Einer weiteren Quelle zufolge, beschweren sich Mitglieder der Hazara-Ethnie über Diskriminierung während des Bewerbungsprozesses, da sie anhand ihrer Namen leicht erkennbar sind. Die Ausnahme begründen Positionen bei NGOs und internationalen Organisationen, wo das Anwerben von neuen Mitarbeitern leistungsabhängig ist. Arbeit für NGOs war eine Einnahmequelle für Hazara - nachdem nun weniger Hilfsgelder ausbezahlt werden, schrauben auch NGOs Jobs und Bezahlung zurück, was unverhältnismäßig die Hazara trifft. So berichtet eine weitere Quelle, dass Arbeitsplatzanwerbung hauptsächlich über persönliche Netzwerke erfolgt. Hazara haben aber aufgrund vergangener und anhaltender Diskriminierung eingeschränkte persönliche Netzwerke.

Gesellschaftliche Spannungen bestehen fort und leben lokal in unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf; soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten finden ihre Fortsetzung in Erpressungen (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Festnahmen.

Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert.

1.5.5 Religion

Etwa 99,7% der afghanischen Bevölkerung sind Muslime, davon zwischen 10-15 % Schiiten, wie es auch der BF ist.

Beobachtern zufolge ist die Diskriminierung der schiitischen Minderheit durch die sunnitische Mehrheit zurückgegangen; dennoch existieren Berichte zu lokalen Diskriminierungsfällen. Afghanischen Schiiten ist es möglich, ihre Feste öffentlich zu feiern; einige Paschtunen sind jedoch wegen der Feierlichkeiten missgestimmt, was gelegentlich in Auseinandersetzungen mündet. In den Jahren 2016 und 2017 wurden schiitische Muslime, hauptsächlich ethnische Hazara, oftmals Opfer von terroristischen Angriffen u.a. der Taliban und des IS.

Das afghanische Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist, enthält keine Definition von Apostasie. Laut der sunnitisch-hanafitischen Rechtsprechung gilt die Konversion vom Islam zu einer anderen Religion als Apostasie. Jeder Konvertit soll laut islamischer Rechtsprechung drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken. Des Weiteren ist gemäß hanafitischer Rechtssprechung Proselytismus (Missionierung, Anm.) illegal. Dasselbe gilt für Blasphemie, die in der hanafitischen Rechtsprechung unter die Kapitalverbrechen fällt und auch nach dem neuen Strafgesetzbuch unter der Bezeichnung "religionsbeleidigende Verbrechen" verboten ist. Zu Verfolgung von Apostasie und Blasphemie existieren keine Berichte.

1.5.6 Sicherheitsbehörden

In Afghanistan gibt es drei Ministerien, die mit der Wahrung der öffentlichen Ordnung betraut sind: das Innenministerium (MoI), das Verteidigungsministerium (MoD) und das National Directorate for Security (NDS). Das MoD beaufsichtigt die Einheiten der afghanischen Nationalarmee (ANA), während das MoI für die Streitkräfte der afghanischen Nationalpolizei (ANP) zuständig ist.

Die afghanischen nationalen Verteidigungs- und Sicherheitskräfte (ANDSF) umfassen militärische, polizeiliche und andere Sicherheitskräfte. Die ANP besteht aus der uniformierten afghanischen Polizei (AUP), der afghanischen Nationalpolizei für zivile Ordnung (ANCOP), der afghanischen Kriminalpolizei (AACP), der afghanischen Lokalpolizei (ALP), den afghanischen Kräften zum Schutz der Öffentlichkeit (APPF) und der afghanischen Polizei zur Drogenbekämpfung (CNPA). Auch das NDS ist Teil der ANDSF.

Afghan National Police (ANP) und Afghan Local Police (ALP)

Die ANP gewährleistet die zivile Ordnung und bekämpft Korruption sowie die Produktion und den Schmuggel von Drogen. Der Fokus der ANP liegt derzeit aber auf der Bekämpfung von Aufständischen gemeinsam mit der ANA. Das Langzeitziel der ANP ist es weiterhin, sich in einen traditionellen Polizeiapparat zu verwandeln. Mit Stand 31. Jänner 2018 betrug das ANP-Personal etwa 129.156 Mann. Im Vergleich zu Jänner 2017 hat sich die Anzahl der ANP-Streitkräfte um 24.841 Mann verringert.

Quellen zufolge dauert die Grundausbildung für Streifenpolizisten bzw. Wächter acht Wochen. Für höhere Dienste dauern die Ausbildungslehrgänge bis zu drei Jahren. Lehrgänge für den höheren Polizeidienst finden in der Polizeiakademie in Kabul statt, achtwöchige Lehrgänge für Streifenpolizisten finden in Polizeiausbildungszentren statt, die im gesamten Land verteilt sind. Die standardisierte Polizeiausbildung wird nach militärischen Gesichtspunkten durchgeführt, jedoch gibt es Uneinheitlichkeit bei den Ausbildungsstandards. Es gibt Streifenpolizisten, die Dienst verrichten, ohne eine Ausbildung erhalten zu haben. Die Rekrutierungs- und Schulungsprozesse der Polizei konzentrierten sich eher auf die Quantität als auf den Qualitätsausbau und erfolgten hauptsächlich auf Ebene der Streifenpolizisten statt der Führungskräfte. Dies führte zu einem Mangel an Professionalität. Die afghanische Regierung erkannte die Notwendigkeit, die beruflichen Fähigkeiten, die Führungskompetenzen und den Grad an Alphabetisierung innerhalb der Polizei zu verbessern.

Die Mitglieder der ALP, auch bekannt als "Beschützer", sind meistens Bürger, die von den Dorfältesten oder den lokalen Anführern zum Schutz ihrer Gemeinschaften vor Angriffen Aufständischer designiert werden. Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur lokalen Gemeinschaft wurde angenommen, dass die ALP besser als andere Streitkräfte in der Lage sei, die Sachverhalte innerhalb der Gemeinde zu verstehen und somit gegen den Aufstand vorzugehen. Die Einbindung in die örtliche Gemeinschaft ist ein integraler Bestandteil bei der Einrichtung der ALP-Einheiten, jedoch wurde die lokale Gemeinschaft in einigen afghanischen Provinzen diesbezüglich nicht konsultiert, so lokale Quellen. Finanziert wird die ALP ausschließlich durch das US-amerikanische Verteidigungsministerium und die afghanische Regierung verwaltet die Geldmittel.

Die Personalstärke der ALP betrug am 8. Februar 2017 etwa 29.006 Mann, wovon 24.915 ausgebildet waren, 4.091 noch keine Ausbildung genossen hatten und 58 sich gerade in Ausbildung befanden. Die Ausbildung besteht in einem vierwöchigen Kurs zur Benutzung von Waffen, Verteidigung an Polizeistützpunkten, Thematik Menschenrechte, Vermeidung von zivilen Opfern usw.

Die monatlichen Ausfälle der ANP im vorhergehenden Quartal betrugen mit Stand 26. Februar 2018 ca. 2%. Über die letzten zwölf Monate blieben sie relativ stabil unter 3% .

1.5.7 Rückkehrer

In der Zeit von 2012 bis 2017 sind 1.821.011 Personen nach Afghanistan zurückgekehrt, wobei der Großteil der Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran kommen. Bis Juli 2017 kehrten aus Europa und der Türkei 41.803 Personen nach Afghanistan zurück. In der Provinz Balkh ließen sich von den insgesamt ca. 1,8 Millionen Rückkehrer/innen in der Zeit von 2012 bis 2017 109.845 Personen nieder.

Aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen besteht auch für zurückkehrende Flüchtlinge das Risiko, in die Armut abzurutschen. Sowohl das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (United Nations World Food Programme) als auch andere UN-Organisationen arbeiten mit der afghanischen Regierung zusammen, um die Kapazität humanitärer Hilfe zu verstärken, rasch Unterkünfte zur Verfügung zu stellen und Hygiene- und Nahrungsbedürfnisse zu stillen.

Die afghanische Regierung kooperierte mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung vulnerable Personen zu unterstützen, einschließlich Rückkehrer/innen aus Pakistan und dem Iran, bleibt begrenzt und ist weiterhin auf die Hilfe der internationalen Gemeinschaft angewiesen. Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer/innen die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer/innen und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig. Außerdem erhalten Rückkehrer/innen Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGO) (z. B. IPSO und AMASO). Nichtsdestotrotz scheint das Sozialkapital die wichtigste Ressource zu sein, die Rückkehrer/innen zur Verfügung steht, da keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer existieren und familiäre Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrer/innen daher als die zuverlässigste und sicherste Möglichkeit erachtet werden. So kehrt der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer/innen direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer/innen und IDPs wurden von unterschiedlichen afghanischen Behörden, dem Ministerium für Flüchtlinge und Repatriierung (MoRR) und internationalen Organisationen geschaffen und sind im Dezember 2016 in Kraft getreten. Diese Rahmenbedingungen gelten sowohl für Rückkehrer/innen aus der Region (Iran und Pakistan), als auch für jene, die aus Europa zurückkommen oder IDPs sind. Soweit dies möglich ist, sieht dieser mehrdimensionale Ansatz der Integration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der "whole of community" vor. Demnach sollen Unterstützungen nicht nur Einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen die Grundstücksvergabe als entscheidend für den Erfolg anhaltender Lösungen. Hinsichtlich der Grundstücksvergabe wird es als besonders wichtig erachtet, das derzeitige Gesetz zu ändern, da es als anfällig für Korruption und Missmanagement gilt. Auch wenn nicht bekannt ist, wie viele Rückkehrer/innen aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben - und zu welchen Bedingungen - sehen Experten dies als möglichen Anreiz für jene Menschen, die Afghanistan schon vor langer Zeit verlassen haben und deren Zukunftsplanung von der Entscheidung europäischer Staaten über ihre Abschiebungen abhängig ist.

Die Großfamilie ist für Zurückkehrende die zentrale soziale Institution in Afghanistan und bildet das wichtigste soziale Sicherheitsnetz der Afghanen. Alle Familienmitglieder sind Teil des familiären Netzes. Die Großfamilie trägt zu Schutz, Betreuung und Versorgung ihrer Mitglieder bei. Sie bildet auch eine wirtschaftliche Einheit; die Männer der Familie sind verpflichtet, die Mitglieder der Großfamilie zu unterstützen und die Familie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren. Auslandsafghanen pflegen zumeist enge Kontakte mit ihren Verwandten in Afghanistan. Quellen zufolge verlieren nur sehr wenige Afghanen in Europa den Kontakt zu ihrer Familie. Die Qualität des Kontakts mit der Familie hängt möglicherweise auch davon ab, wie lange die betreffende Person im Ausland war bzw. wie lange sie tatsächlich in Afghanistan lebte, bevor sie nach Europa migrierte. Der Faktor geographische Nähe verliert durch technologische Entwicklungen sogar an Wichtigkeit. Der Besitz von Mobiltelefonen ist mittlerweile "universell" geworden und digitale Kommunikation wird eine zunehmende Selbstverständlichkeit, vor allem in den Städten. Ein fehlendes familiäres Netzwerk stellt eine Herausforderung für die Reintegration von Migrant/innen in Afghanistan dar. Quellen zufolge haben aber alleinstehende afghanische Männer, egal ob sie sich kürzer oder länger außerhalb der Landesgrenzen aufhielten, sehr wahrscheinlich eine Familie in Afghanistan, zu der sie zurückkehren können. Eine Ausnahme stellen möglicherweise jene Fälle dar, deren familiäre Netze in den Nachbarstaaten Iran oder Pakistan liegen. Quellen zufolge halten Familien in Afghanistan in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren.

Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere, wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen "professionellen" Netzwerken (Kolleg/innen, Kommilitonen etc.)

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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