TE Vwgh Erkenntnis 2019/6/26 Ra 2019/21/0034

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Veröffentlicht am 26.06.2019
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §55 Abs1
AVG §39 Abs2
AVG §58 Abs2
AVG §60
BFA-VG 2014 §9
FrPolG 2005 §53
MRK Art8
MRK Art8 Abs2
NAG 2005 §41a Abs9 Z1
VwGG §42 Abs2 Z3 litb
VwGG §42 Abs2 Z3 litc
VwGVG 2014 §17
VwGVG 2014 §28

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer und die Hofräte Dr. Pelant, Dr. Sulzbacher und Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Julcher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Galesic, über die Revision des S M in W, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Jordangasse 7/4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 18. Dezember 2018, I 417 1419571-2/17E, betreffend Abweisung eines Antrags auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein nigerianischer Staatsangehöriger, reiste gemäß seinen Angaben am 13. Juni 2010 nach Österreich ein und stellte hier einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser Antrag wurde vom Bundesasylamt im August 2010 gemäß § 5 AsylG 2005 zurückgewiesen; außerdem wurde der Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 nach Griechenland ausgewiesen. Der Bescheid blieb unbekämpft.

2 Am 12. Mai 2011 stellte der (damals in Schubhaft angehaltene) Revisionswerber neuerlich einen Antrag auf internationalen Schutz, den das Bundesasylamt mit Bescheid vom 26. Mai 2011 vollinhaltlich abwies; unter einem erging eine Ausweisung nach Nigeria. Die dagegen erhobene Beschwerde wies der Asylgerichtshof mit Erkenntnis vom 12. Juli 2013 als unbegründet ab.

3 Bereits davor war gegen den Revisionswerber im Instanzenzug mit Bescheid des Unabhängigen Verwaltungssenates Wien vom 5. April 2013 ein mit sechs Jahren befristetes Rückkehrverbot erlassen worden. Dieses Rückkehrverbot hat gemäß § 54 Abs. 9 FPG (idF des FrÄG 2011) in Verbindung mit der nachfolgend ergangenen durchsetzbaren Ausweisung (siehe Rn. 2) als - aufgrund der Übergangsbestimmung des § 125 Abs. 25 zweiter Satz FPG "bis zum festgesetzten Zeitpunkt weiterhin gültiges" - Einreiseverbot gegolten.

4 Hierauf brachte der Revisionswerber am 12. November 2013 bei der Niederlassungsbehörde den gegenständlichen Antrag auf Erteilung einer Niederlassungsbewilligung gemäß § 43 Abs. 3 NAG (idF vor dem FNG-AnpassungsG) zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK ein. Dieses Verfahren war gemäß der Übergangsbestimmung des § 81 Abs. 24 NAG ab dem 1. Jänner 2014 vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) nach den Bestimmungen des 7. Hauptstückes des AsylG 2005 zu Ende zu führen. Der demzufolge als Antrag nach § 55 AsylG 2005 (idF des FNG) zu behandelnde Antrag wurde sodann vom BFA mit Bescheid vom 27. April 2015 abgewiesen.

5 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht, nachdem es am 19. März 2018 eine mündliche Verhandlung durchgeführt hatte, mit Erkenntnis vom 18. Dezember 2018 als unbegründet ab. Es sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:

7 Die Revision erweist sich entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG - wie sich aus den weiteren Ausführungen ergibt - unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG als zulässig; sie ist auch berechtigt. 8 Der Revisionswerber beantragte die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005. Diese Bestimmung lautet in der (vom BVwG schon anzuwendenden) seit 1. September 2018 geltenden Fassung des FrÄG 2018 samt Überschrift:

"Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK

§ 55. (1) Im Bundesgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen ist von Amts wegen oder auf begründeten Antrag eine ‚Aufenthaltsberechtigung plus' zu erteilen, wenn

1. dies gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist und

2. der Drittstaatsangehörige das Modul 1 der Integrationsvereinbarung gemäß § 9 Integrationsgesetz (IntG), BGBl. I Nr. 68/2017, erfüllt hat oder zum Entscheidungszeitpunkt eine erlaubte Erwerbstätigkeit ausübt, mit deren Einkommen die monatliche Geringfügigkeitsgrenze (§ 5 Abs. 2 Allgemeines Sozialversicherungsgesetz (ASVG), BGBl. Nr. 189/1955) erreicht wird.

(2) Liegt nur die Voraussetzung des Abs. 1 Z 1 vor, ist eine ‚Aufenthaltsberechtigung' zu erteilen."

9 Bei Beurteilung der Frage, ob die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 zur Aufrechterhaltung des Privat- und/oder Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten ist, ist unter Bedachtnahme auf alle Umstände des Einzelfalles eine gewichtende Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Aufenthaltsbeendigung mit den gegenläufigen privaten und familiären Interessen des Fremden, insbesondere unter Berücksichtigung der in § 9 Abs. 2 BFA-VG genannten Kriterien und unter Einbeziehung der sich aus § 9 Abs. 3 BFA-VG ergebenden Wertungen, in Form einer Gesamtbetrachtung vorzunehmen (vgl. aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 23.2.2017, Ra 2016/21/0325, Rn 7, mwN).

10 Vorauszuschicken ist, dass das Bestehen eines aufrechten Einreiseverbotes - anders als das BFA in seinem Bescheid vom 27. April 2015 noch meinte - der Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels nicht von vornherein entgegensteht. Im Rahmen eines Verfahrens nach § 55 AsylG 2005 ist nämlich unter dem Gesichtspunkt des § 9 BFA-VG im Hinblick auf die Berücksichtigung des Privat- und Familienlebens eine Neubewertung vorzunehmen. Ergibt diese Neubewertung, dass ein maßgeblich geänderter Sachverhalt im Sinn des Art. 8 EMRK vorliegt, so ist der begehrte Aufenthaltstitel, ungeachtet des bestehenden Einreiseverbotes, dem dadurch der Boden entzogen wird, zu erteilen (siehe dazu des Näheren VwGH 16.12.2015, Ro 2015/21/0037).

11 Das BVwG stellte zu den familiären Verhältnissen des Revisionswerbers fest, er führe mit einer nigerianischen Staatsangehörigen seit 2014 eine Lebensgemeinschaft. Der Beziehung entstammten zwei, am 5. Juni 2015 und am 9. Juni 2018 geborene Kinder. Im gemeinsamen Haushalt lebe überdies ein weiteres Kind der Lebensgefährtin, geboren am 30. Dezember 2013. Dieses Kind verfüge über einen bis 12. Dezember 2019 gültigen Aufenthaltstitel "Familienangehöriger", die Lebensgefährtin des Revisionswerbers über eine bis 10. Juli 2019 gültige "Aufenthaltsberechtigung plus" und die beiden anderen Kinder jeweils über eine "Rot-Weiß-Rot - Karte plus", gültig bis 10. Juli 2019 bzw. 8. August 2019. Im Übrigen hielt das BVwG in diesem Zusammenhang fest, zur "Intensität des Familienlebens, insbesondere über allfällige Auswirkungen auf das Kindeswohl durch die aufenthaltsbeendende Maßnahme, können keine Feststellungen getroffen werden". Dazu führte das BVwG im Rahmen der Beweiswürdigung aus, die Feststellungen zur familiären Situation "resultieren aus der Abfrage des zentralen Melderegisters", aus dem sich eine gemeinsame Meldung aller Familienmitglieder an einer näher genannten Adresse in Wien ergebe. Auch den Feststellungen zu den Aufenthaltstiteln lägen entsprechende Registerabfragen vom 18. Dezember 2018 zugrunde.

12 In der rechtlichen Beurteilung hielt das BVwG zwar zunächst fest, dass auch das Kindeswohl bei der Interessenabwägung "in Betracht zu ziehen" sei. Es betonte aber dann, dass die Lebensgefährtin des Revisionswerbers und die Kinder "erst seit kurzer Zeit" über einen befristeten Aufenthaltstitel verfügten. Da "letztlich keine ausgeprägte Beziehung zu Österreich" bestehe und sie, ebenso wie der sich hier unrechtmäßig aufhaltende Revisionswerber, alle nigerianische Staatsangehörige seien, wären sie "jedenfalls" in der Lage, ihn in den Herkunftsstaat zu begleiten und dort das Familienleben fortzusetzen. In der weiteren Begründung vertrat das BVwG dann aber auch die Ansicht, selbst wenn eine Trennung des Revisionswerbers von seiner Familie nachteilige Auswirkungen auf das Wohl der Kinder nach sich ziehe und "ein Familienband zerrissen" werde, würden diese Folgen weniger schwer wiegen als das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. In diesem Zusammenhang ist auch der Hinweis des BVwG auf die Begründung des Familienlebens während unsicheren Aufenthalts und auf die Straffälligkeit des Revisionswerbers - die schwerwiegende Delinquenz habe sich durch ein Vergehen im Bereich der Suchtmittelkriminalität manifestiert - zu sehen.

13 Richtig ist, dass der Verwaltungsgerichtshof in bestimmten Konstellationen wiederholt zum Ausdruck brachte, die durch eine aufenthaltsbeendende Maßnahme bewirkte Trennung von Familienangehörigen sei im großen öffentlichen Interesse an der Verhinderung von Suchtgiftkriminalität in Kauf zu nehmen (vgl. etwa VwGH 5.10.2017, Ra 2017/21/0174, Rn. 14; siehe dazu auch allgemein VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0271, Rn. 14). Zur Beurteilung dieses öffentlichen Interesses bedarf es jedoch einer einzelfallbezogenen Einschätzung der vom Fremden aufgrund seiner Straffälligkeit ausgehenden Gefährdung. Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei einer solchen Gefährdungsprognose das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und auf Grund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände eine bestimmte Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache einer Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. aus der letzten Zeit etwa VwGH 4.4.2019, Ra 2019/21/0060, Rn. 9, mwN). Demnach hätte es einer näheren Befassung mit den Straftaten des Revisionswerbers und dem daraus ableitbaren Persönlichkeitsbild bedurft. Das BVwG stellte aber - wie es auch in der Beweiswürdigung darlegte: der Strafregisterauskunft folgend - lediglich fest, der Revisionswerber sei mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 20. August 2012 wegen § 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall und Abs. 3 SMG zu einer teilbedingten Freiheitsstrafe von 12 Monaten (davon acht Monate bedingt nachgesehen) verurteilt worden. Das reicht nicht für eine nachvollziehbare Gefährdungsprognose (vgl. unter vielen etwa VwGH 19.5.2015, Ra 2014/21/0057, mwN). Insbesondere deckt sie nicht ohne Weiteres die vom BVwG unterstellte Annahme des Vorliegens einer "schwerwiegenden Delinquenz im Bereich der Suchtmittelkriminalität", und die - ohne Berücksichtigung des seither offenbar gegebenen Wohlverhaltens des Revisionswerbers - des Weiteren angenommene ausreichende aktuelle Relevanz dieser Straftat zur Rechtfertigung einer nunmehrigen Trennung von seinen Angehörigen. Das macht die Revision der Sache nach zutreffend geltend.

14 Im Übrigen hätte sich das BVwG auch noch mit den Auswirkungen einer Trennung, insbesondere auf das Wohl der Kinder, befassen müssen. Die Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts haben nämlich bereits wiederholt die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme auf das Kindeswohl bei der nach § 9 BFA-VG vorzunehmenden Interessenabwägung zum Ausdruck gebracht (siehe dazu die Nachweise in VwGH 7.3.2019, Ra 2018/21/0141, Rn. 16). Dafür, dass hierzu keine Feststellungen getroffen werden können, wie das BVwG meint, gibt es aber keine nachvollziehbare Begründung. Auch das rügt die Revision im Ergebnis zu Recht. In diesem Zusammenhang ist im Übrigen noch daran zu erinnern, dass es im Allgemeinen nicht die Aufgabe eines Verwaltungsgerichtes ist, Aussagen zu treffen, etwas könne nicht festgestellt werden. Vielmehr hat es - unter Bedachtnahme auf das im Grunde des § 17 VwGVG auch für die Verwaltungsgerichte maßgebliche Prinzip der Amtswegigkeit - regelmäßig ein Ermittlungsverfahren zu führen und nach Ausschöpfung der zur Verfügung stehenden Beweismittel in seiner Entscheidung zu den fallbezogen wesentlichen Sachverhaltsfragen eindeutig Stellung zu nehmen (vgl. dazu des Näheren VwGH 13.11.2018, Ra 2018/21/0133, Rn. 10, mit dem Hinweis auf VwGH 29.5.2018, Ra 2018/21/0060, Rn. 10).

15 Aber auch die Annahme des BVwG, das gemeinsame Familienleben könnte ebenso in Nigeria fortgesetzt werden, wurde nicht schlüssig begründet. Zunächst entbehrt schon die hierfür auch als ausschlaggebend angesehene Annahme, die Lebensgefährtin und die Kinder hätten "keine ausgeprägte Beziehung zu Österreich" einer ausreichenden sachverhaltsmäßigen Grundlage. Die drei Kinder befinden sich zwar in einem anpassungsfähigen Alter, jedoch sind sie offenbar alle in Österreich geboren, sodass unter dem schon angesprochenen Gesichtspunkt des Kindeswohls die Auswirkungen einer Übersiedelung nach Nigeria für die drei Kinder im Alter von fünf und dreieinhalb Jahren sowie einem halben Jahr zu prüfen gewesen wären (siehe neuerlich VwGH 7.3.2019, Ra 2018/21/0141, Rn. 16). In Bezug auf das älteste Kind wäre im Übrigen zu berücksichtigen gewesen, dass eine Wohnsitznahme gemeinsam mit der Mutter und dem Revisionswerber in Nigeria zu einer dauerhaften Trennung von seinem (nach der Aktenlage) die österreichische Staatsbürgerschaft besitzenden Vater, von dem sie offenbar auch den Aufenthaltstitel "Familienangehöriger" ableitet, führen würde. Das stellt die Zumutbarkeit einer Übersiedelung nach Nigeria für dieses Kind, für das andererseits aber aufgrund seines Alters eine Trennung von der Mutter jedenfalls nicht in Betracht gezogen werden kann, zusätzlich in Frage.

16 Außerdem verweist die Revision zu Recht darauf, dass vom BVwG festgestellt wurde, der Lebensgefährtin des Revisionswerbers sei eine "Aufenthaltsberechtigung plus" erteilt worden, was gemäß § 55 Abs. 1 AsylG 2005 - siehe oben Rn. 8 - in der Regel einen längeren Inhaltsaufenthalt und eine für die Verwirklichung der Z 2 der genannten Bestimmung erforderliche Integration voraussetzt und die Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung nach sich zieht (siehe zum diesbezüglichen inhaltlichen Gleichklang Punkt 3.3. und 3.4. in VwGH 12.11.2015, Ra 2015/21/0101). Das ließ das BVwG bei der Frage der Zumutbarkeit einer Übersiedelung nach Nigeria für die Lebensgefährtin des Revisionswerbers ebenfalls unbeachtet, was in der Revision zutreffend gerügt wird. Allerdings hat sich das BVwG - wie für das weitere Verfahren klarzustellen ist - überdies insofern geirrt, als die Genannte nach dem Akteninhalt bereits im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung im März 2018 über eine bis 9. Juli 2018 gültige "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" verfügte. Dazu gab sie an, dass ihr bereits davor eine solche Karte ausgestellt worden sei, die sie demnach - offenbar im Anschluss an die bereits im Juli 2015 vorgenommene Erteilung eines Aufenthaltstitels "Aufenthaltsberechtigung plus" nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005 - gemäß § 41a Abs. 9 Z 1 NAG erstmals im Juli 2016 erhalten haben müsste. Demnach dürfte die Lebensgefährtin des Revisionswerbers auch aktuell - das Ergebnis der entsprechenden Abfragen des BVwG vom 18. Dezember 2018 lässt sich den vorgelegten Akten allerdings nicht entnehmen - über eine "Rot-Weiß-Rot - Karte plus" verfügen und nicht wie vom BVwG festgestellt über den Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus".

17 Soweit das BVwG erkennbar schließlich noch die Befristung der den Angehörigen erteilten Aufenthaltstitel ins Treffen führt, wäre aber zu beachten gewesen, dass diese Aufenthaltstitel bei weiterem Vorliegen der Voraussetzungen ohne Weiteres verlängert werden können. Das BVwG zeigte aber in keiner Weise auf, dass sich insoweit Maßgebliches geändert hätte, sodass von einem ihnen (voraussichtlich) zustehenden dauernden Aufenthaltsrecht auszugehen gewesen wäre; dem kommt im Rahmen der Abwägung nach Art. 8 EMRK gewichtige Bedeutung zu (vgl. etwa VwGH 27.4.2017, Ra 2016/22/0102, Rn. 12, mwN).

18 Vor diesem Hintergrund hätte es daher insgesamt einer näheren Auseinandersetzung mit den Lebensverhältnissen der Lebensgefährtin des Revisionswerbers unter Einbeziehung jener der Kinder (siehe Rn. 15) in Bezug auf die Frage der Zumutbarkeit eines gemeinsamen Familienlebens in Nigeria bedurft. Die Beschränkung auf registermäßige Abfragen greift insoweit jedenfalls zu kurz.

19 Der Revisionswerber hält sich (bis zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG) nunmehr achteinhalb Jahre in Österreich auf, er verfügt über einen Nachweis von Deutschkenntnissen auf dem Niveau A2 und über eine Einstellungszusage sowie über mehrere Empfehlungsschreiben und er betätigt sich als Mitglied bei einer näher genannten christlichen Kirchengemeinschaft und ehrenamtlich in einem sozialen Verein, sodass unter entsprechender Berücksichtigung des Familienlebens und Vermeidung der diesbezüglichen Ermittlungs- und Begründungsmängeln - trotz der Integration während unsicheren Aufenthalts und der früheren Straffälligkeit - nicht ausgeschlossen ist, dass das BVwG bei der Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. 20 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.

21 Der Kostenzuspruch gründet sich auf § 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

22 Von der in der Revision beantragten Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3, 5 und 6 VwGG abgesehen werden.

Wien, am 26. Juni 2019

Schlagworte

Begründung BegründungsmangelBesondere RechtsgebieteVerfahrensbestimmungen Amtswegigkeit des Verfahrens Mitwirkungspflicht Manuduktionspflicht

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019210034.L00

Im RIS seit

06.09.2019

Zuletzt aktualisiert am

06.09.2019
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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