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10/07 VerwaltungsgerichtshofNorm
AsylG 2005 §55Beachte
Miterledigung (miterledigt bzw zur gemeinsamen Entscheidung verbunden):Ra 2019/21/0093Ra 2019/21/0094Betreff
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Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr.in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Dr. Pelant und Dr. Sulzbacher als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Galesic, über die Revision von 1. N N, 2. G N, und 3. L R, alle in W und alle vertreten durch Mag. Josef Phillip Bischof und Mag. Andreas Lepschi, Rechtsanwälte in 1090 Wien, Währinger Straße 26/1/3, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 30. Jänner 2019, L515 2207532- 1/3E (ad 1.), L515 2207530-1/2E (ad 2.) und L515 2207535- 1/2E (ad 3.), betreffend Zurückweisung von Anträgen nach § 55 AsylG 2005 und Erlassung von Rückkehrentscheidungen samt Nebenaussprüchen (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat der Erstrevisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Begründung
1 Die Revisionswerber - eine Mutter (Erstrevisionswerberin) und ihre beiden im April 2007 bzw. im August 2012 in Wien geborenen Söhne (Zweit- und Drittrevisionswerber) - sind georgische Staatsangehörige.
2 Die Erstrevisionswerberin ist seit Jänner 2005 durchgehend mit Hauptwohnsitz in Wien gemeldet. Sie verfügte zunächst über eine Aufenthaltserlaubnis nach dem FrG 1997 als Au-Pair-Kraft und in der Folge - zuletzt mit Gültigkeit bis 10. Juni 2012 - über Aufenthaltsbewilligungen als Studentin. Einen (weiteren) Verlängerungsantrag vom Juni 2012 wies die Niederlassungsbehörde mit Bescheid vom 27. Oktober 2015 ab. Die dagegen erhobene Beschwerde zog die Erstrevisionswerberin im Juni 2016 zurück, weshalb das Verwaltungsgericht Wien das Beschwerdeverfahren mit Beschluss vom 29. Juni 2016 einstellte.
3 Hierauf beantragte die Erstrevisionswerberin für sich und ihre beiden Söhne (der ältere hatte anknüpfend an die Aufenthaltsbewilligungen der Erstrevisionswerberin ebenfalls Aufenthaltstitel innegehabt) im Juli 2016 die Erteilung von Aufenthaltstiteln nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005, wozu dann u. a. ausgeführt wurde, sie befinde sich seit dem Jahr 2004 durchgehend rechtmäßig im Bundesgebiet und habe hier zahlreiche Modulprüfungen für das betriebene Studium der Politikwissenschaften abgelegt; durch die Geburt der beiden Kinder sei sie jedoch im Studienfortschritt "extrem gehemmt" worden, zuletzt habe sie ihr Studium aus familiären Gründen nicht mehr betreiben können; die Kontakte der perfekt Deutsch (C1) sprechenden Erstrevisionswerberin in ihren Herkunftsstaat seien "weitgehend abgerissen"; sie verfüge (in Österreich) über einen großen Freundeskreis und habe sich ehrenamtlich engagiert, die beiden Kinder hätten ihr gesamtes Leben im Bundesgebiet verbracht und seien "hier sozialisiert" worden.
4 Mit Bescheiden je vom 30. August 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) die Anträge auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 Abs. 1 AsylG 2005 gemäß § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG 2005 als unzulässig zurück, weil (insbesondere) keine gültigen Reisepässe im Original vorgelegt worden seien. Unter einem erließ das BFA jeweils gemäß § 10 Abs. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 3 FPG, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung der Revisionswerber nach Georgien zulässig sei und setzte gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidungen fest. 5 Die gegen diese Bescheide erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab. Außerdem sprach es gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.
6 Über die gegen dieses Erkenntnis erhobene außerordentliche Revision hat der Verwaltungsgerichtshof nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens - eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
7 Die Revision ist - entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG nach § 25a Abs. 1 VwGG - unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig; sie ist auch berechtigt.
8 Das BVwG folgte den Behauptungen der Erstrevisionswerberin zumindest insoweit, als es feststellte, diese sei im August 2004 in das Bundesgebiet eingereist, habe ursprünglich über ein befristetes Aufenthaltsrecht als "Au-Pair-Mädchen" verfügt und dann Aufenthaltsbewilligungen als "Studierende" inne gehabt. 9 Es ist also davon auszugehen, dass sich die Erstrevisionswerberin - bezogen auf den Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses - rund vierzehneinhalb Jahre durchgehend im Bundesgebiet aufhält. Dem kommt bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der erlassenen Rückkehrentscheidungen vor dem Hintergrund der gebotenen Interessenabwägung nach § 9 BFA-VG entscheidungswesentliche Bedeutung zu.
10 Nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, auf die schon in den Zulässigkeitsausführungen der Revision zutreffend Bezug genommen wird, ist nämlich bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt eines Fremden regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an seinem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, wurden Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (siehe aus jüngerer Zeit etwa VwGH 7.3.2019, Ra 2018/21/0253, Rn. 11, oder VwGH 25.4.2019, Ra 2018/22/0251 bis 0256, Rn. 12, je mwN).
11 Der vom BVwG der Sache nach eingenommene Standpunkt, die Erstrevisionswerberin hätte sich überhaupt nicht integriert, kann nicht geteilt werden. Das ergibt sich schon auf Basis der vom BVwG nicht in Frage gestellten sehr guten Deutschkenntnisse der Erstrevisionswerberin und ihres ehrenamtlichen Engagements, mag dieses auch schon länger zurückliegen. Auch die anfänglich in Österreich ausgeübte Au-Pair-Tätigkeit ist in diesem Zusammenhang zu erwähnen, ebenso wie die Geburt der beiden Söhne im Bundesgebiet, die ihrerseits schon durch ihren Schulbesuch entsprechend in Österreich verankert sind und - wie vom BVwG festgestellt - (ebenfalls) über sehr gute Deutschkenntnisse verfügen. Wohl befinden sich beide noch in einem anpassungsfähigem Alter, das ändert aber nichts an ihrer Beziehung zu Österreich, zumal sie ihr ganzes bisheriges Leben - der Zweitrevisionswerber somit beinahe zwölf Jahre - in Österreich verbracht haben (idS nochmals VwGH 25.4.2019, Ra 2018/22/0251 bis 0256 (Rn. 19)). 12 In Bezug auf die Erstrevisionswerberin ist aber auch das von ihr betriebene Studium in Anschlag zu bringen, zumal seitens des BVwG nicht in Abrede gestellt wurde, dass die Erstrevisionswerberin - wie behauptet - "zahlreiche Modulprüfungen" abgelegt habe. Dass die Erstrevisionswerberin ihr Studium letztlich abgebrochen hat, mindert die aus diesem Studium erfließende Integration, anders als das BVwG meint, nicht wesentlich. Es trifft aber auch nicht zu, dass sich die Erstrevisionswerberin während der Bearbeitungsdauer ihres letzten Verlängerungsantrages nicht gemäß § 24 Abs. 1 NAG rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hätte; dem Erkenntnis VwGH 21.2.2013, 2011/23/0194, auf das sich das BVwG in diesem Zusammenhang beruft und in dem ein rechtmäßiger Aufenthalt während des Verfahrens zur Erteilung eines Aufenthaltstitels verneint wurde, hatte nämlich keinen Verlängerungsantrag zum Gegenstand und ist daher von vornherein nicht einschlägig. Im Übrigen ist dann aber noch darauf hinzuweisen, dass die Abweisung des Verlängerungsantrages durch die Niederlassungsbehörde nicht - wie vom BVwG im Rahmen seiner rechtlichen Überlegungen ausgeführt - im Juni 2012, sondern erst am 27. Oktober 2015 erfolgte. Aber auch an anderer Stelle entfernt sich das BVwG von den Umständen des vorliegenden Falles, wenn es etwa von "der Abweisung des Asylantrages" der Erstrevisionswerberin spricht oder im Rahmen seiner Überlegungen, weshalb es nicht der Durchführung der beantragten Beschwerdeverhandlung bedurft habe, auf eine schon vor dem BFA stattgefundene persönliche Anhörung der Erstrevisionswerberin - eine solche lässt sich der Aktenlage indes nicht entnehmen - verweist.
13 Auf die letztgenannten Gesichtspunkte kommt es freilich nicht wesentlich an. Wesentlich ist vielmehr, dass der nicht erfolgreiche Studienabschluss der Erstrevisionswerberin nach dem Gesagten keinen Umstand darstellt, der in maßgeblicher Weise das gegen einen Verbleib der Erstrevisionswerberin im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge ihrer Aufenthaltsdauer im Inland entscheidend relativieren könnte. Die gegen die Revisionswerber erlassenen Rückkehrentscheidungen erweisen sich davon ausgehend als rechtswidrig.
14 Das schlägt auch auf die Entscheidung über die Anträge nach § 55 AsylG 2005 durch. Denn nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist es unzulässig, den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 trotz Vorliegens der Voraussetzung nach Abs. 1 Z 1 dieser Bestimmung - die Erteilung des Aufenthaltstitels ist gemäß § 9 Abs. 2 BFA-VG zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK geboten - wegen Nichtvorlage von Identitätsdokumenten zurückzuweisen (VwGH 17.11.2016, Ra 2016/21/0314, Rn. 16, und VwGH 26.1.2017, Ra 2016/21/0168, Rn. 29). Dass es, entgegen der offenkundig vom BVwG vertretenen Ansicht, in diesem Zusammenhang aber von vornherein nicht darauf ankommen kann, ob die erforderlichen Dokumente innerhalb der von der Behörde dazu eingeräumten Frist vorgelegt wurden (sondern nur darauf, ob diese bis zur Bescheiderlassung präsentiert wurden, was in der Beschwerde vorgebracht worden war und ungeprüft blieb), ist somit nur zur Vollständigkeit anzumerken.
15 Das angefochtene Erkenntnis war daher zur Gänze gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen der prävalierenden Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
16 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte schon gemäß § 39 Abs. 2 Z 4 VwGG abgesehen werden.
17 Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 26. Juni 2019
Schlagworte
Besondere RechtsgebieteEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:2019:RA2019210092.L00Im RIS seit
04.09.2019Zuletzt aktualisiert am
04.09.2019