TE Bvwg Erkenntnis 2019/6/27 W124 2156834-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 27.06.2019
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Entscheidungsdatum

27.06.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
B-VG Art. 133 Abs4

Spruch

W124 2156849-1/15E

W124 2156834-1/19E

W124 2156844-1/11E

W124 2156838-1/11E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. FELSEISEN als Einzelrichter über die Beschwerden von

1.) XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX ,

2.) XXXX StA: Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX

3.) XXXX , StA: Afghanistan, vertreten durch die Kindesmutter XXXX , als gesetzliche Vertreterin, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX ,

4.) XXXX , StA: Afghanistan, vertreten durch die Kindesmutter XXXX , als gesetzliche Vertreterin, geben den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX ,

nach einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

A)

Den Beschwerden wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG 2005) i.d.g.F. der Status von Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX , kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Die Erst- bis ViertbeschwerdeführerInnen (BF1 bis BF4) gelangten am XXXX mit Hilfe eines Schleppers unberechtigt in das Bundesgebiet und stellten am selben Tag gegenständliche Anträge auf internationalen Schutz.

Bei der Einvernahme der BF 1 durch die Landespolizeidirektion Steiermark am XXXX gab diese an, dass sie wegen ihrer Kinder zum Zwecke eines besseren Lebens geflüchtet sei, da diese bedroht worden seien. Sie könne dabei nicht angeben, ob es die Taliban bzw. die IS gewesen sei. Der zweite Grund sei gewesen, dass es in ihrem Heimatland keine Arbeit gegeben und sie ein besseres Leben für ihre Familie gegeben habe.

In der mit der BF 1 am XXXX vor dem BFA aufgenommenen Niederschrift führte die BF 1 im Wesentlichen aus, dass Sie als 14-jährige mit ihrer Tante und deren Familie wegen ihres Vaters verlassen habe. Sie würde in der afghanischen Gesellschaft nicht akzeptiert werden, weil Sie ohne jemanden zu heiraten vom Haus ihres Vaters geflüchtet sei, weshalb Sie und ihren Ehemann die Todesstrafe erwarten würde. Die Taliban, denen sie versprochen worden sei, würde Sie überall finden.

Für die beiden Kinder (BF 3 und BF 4) würde es in Afghanistan keine Schule geben und sei die Sicherheitslage sehr schlecht. Die BF wisse nicht, was Sie erwarten würde, wenn Sie in XXXX ankommen würde. Afghanistan würde nicht sicher sein, es sei Krieg und würden alle 24 Stunden unschuldige Menschen sterben. Als Frau würde Sie sich in Österreich wohl fühlen. Sie könne alleine einkaufen und auf die Straße gehen können. Sie müsse keine Burka tragen und würde sich um die Kinder kümmern. Die BF 1 würde Angst vor ihrer eigenen Familie haben. Wenn ihr Vater sie gefunden hätte, hätte er den BF 2 getötet. Wenn ihr Vater mitbekommen würde, dass der BF wieder in Afghanistan sein würde, würde er dorthin kommen und die BF 1 umbringen.

Im Iran habe die BF 1 nicht in Ruhe leben können und ständig Angst gehabt, dass BF 2 abgeschoben werden würde, da er keine Genehmigung gehabt habe. Als sie ihren Sohn bekommen habe, habe dieser keine Geburtsurkunde erhalten und keinen Arzt besuchen dürfen, da ihr Sohn keinen Ausweis gehabt habe. Es habe auch die Gefahr bestanden, dass BF 2 in den Krieg gegen den IS ziehen hätte sollen. Es habe damals Krieg geherrscht und seien daher ihre Eltern geflüchtet. Die Sicherheitslage sei sehr schlecht und könne man dort nicht leben.

In der Stellungnahme vom XXXX führte die BF 1 u.a. ergänzend aus, dass sie sich als Frau in Afghanistan nicht auf die Straße trauen würde. Dies sei für sie völlig ausgeschlossen. Die Frauen würden dort von Männern, die mehrere Ehefrauen haben dürften, verfolgt, entführt, missbraucht, geschlagen oder mit Steinen getötet werden. In Afghanistan würden Frauen gegenüber den Männern keine Rechte haben. Sie müssten tun, was ihnen die Männer sagen würden, sie würden den Männern "gehören". Muslimische Männer würden ihren Frauen befehlen zu Hause zu bleiben und ihnen gehorchen. Wenn sie sich wehren würde, könne sie geschlagen werden, sie müsse sich verhüllen und leise sein. Viele Männer würden ihre Herrschaft mit dem Islamismus rechtfertigen, was aber falsch sei. Töchter würden verheiratet werden, alles verlieren und kein Mitspracherecht haben. Die gesamte Lebenssituation sei für die BF 1, als Frau, als Mutter, als Mann, als Kind eine Katastrophe. Sie müssten jeden Tag um ihr Leben bangen.

BF 2 gab in der mit ihm am XXXX vor der Landespolizeidirektion Steiermark aufgenommenen Niederschrift an, dass er als erstes geflüchtet sei, um seinen Kindern ein besseres Leben zu garantieren. Diese seien bedroht worden und könne er nicht angeben, ob es die Taliban oder die IS gewesen sei. Der zweite Grund habe darin bestanden, dass es in seinem Heimatland keine Arbeit gegeben habe und er kein Geld verdient habe. Seine Familie habe ein schwieriges Leben gehabt und habe seine Familie ein besseres Leben führen wollen. In seinem Land würde Hunger, Armut, Krieg und ein ungerechtes Leben herrschen. Kinder würden zur Ehe gezwungen werden. Viele Kinder würden entführt und deshalb einfach verschwinden.

In der mit dem BF am XXXX vor dem BFA aufgenommenen Niederschrift führte dieser im Wesentlichen aus, dass die Mutter des BF 2 und seine Schwiegermutter miteinander befreundet sein würden. Die Mutter des BF 2 sei mehrmals zur Familie der BF 1 gegangen und habe dort einen Heiratsantrag gemacht, welcher vom Vater der BF 1 wegen eines anderen abgelehnt worden sei. Der Vater des BF 2 habe diesen gesagt, dass er große Probleme bekommen würde, wenn er nach Afghanistan abgeschoben werden würde, da er ein Mädchen ohne dieses zu heiraten von Afghanistan in den Iran gebracht habe.

In Afghanistan selbst sei der BF von der Polizei oder den afghanischen Behörden weder belästigt noch bedroht worden. Er sei nie persönlichen Bedrohungen oder Verfolgungen durch die afghanische Regierung ausgesetzt gewesen.

Im Falle einer Rückkehr hätten seine beiden Kinder von Seiten seines Schwiegervaters und von den Personen, die seine Frau heiraten hätten wollen, etwas zu befürchten. Selbiges würde für die Dorfbewohner gelten. Man würde die Kinder als uneheliche Kinder bezeichnen und könnten diese Probleme bekommen bzw. getötet werden. Sie hätten damals Angst gehabt, dass man sie irgendwann finden würde und hätten deshalb nicht in Afghanistan bleiben, sondern in ein anderes Land gehen wollen, indem sie nicht gefunden werden hätten können.

Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden wurden die Anträge der BF 1 bis BF 4 auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG wurden Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die BF Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.). Es wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der BF gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der BF gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).

Begründet wurde dies insbesondere damit, dass die BF 1 auch vor ihrer Ausreise in der Lage gewesen sei, ihre primären Lebensbedürfnisse zu befriedigen und habe auch während eines Aufenthaltes zum Beispiel in XXXX voll für ihren Lebensunterhalt gesorgt, weshalb dies auch im Bedarfsfall möglich sein würde. Sie habe vor ihrer Flucht aus dem Iran für sich im Familienverbund gesorgt und müsse nun davon ausgegangen werden, dass es ihr bei einer Rückkehr nach Afghanistan wieder möglich sein würde, ihre primären Bedürfnisse zu befriedigen, auch wenn dies in einem anderen für die BF sichereren Teil Afghanistans geschehen würde. Von Seiten der Behörde würde es keine Gründe geben, weshalb die BF 1 nicht in ihrem Heimatdistrikt zurückreisen könne. XXXX würde über einen leistungsfähigen Flughafen verfügen und würde von mehreren Linien täglich angeflogen werden.

Es sei der BF 1 zumutbar durch eigene und notfalls auch wenig attraktive Arbeit oder erforderlichenfalls durch Zuwendungen von dritter Seite - auch unter Anbietung ihrer gegebenen Arbeitskraft als Gegenleistung- jedenfalls auch nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten, beizutragen, um das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen zu können. Zu den regelmäßigen zumutbaren Arbeiten würden dabei auch Tätigkeiten gehören, für die es keine oder wenig Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt geben würde. Darüber hinaus gebe es für Rückkehrer in Afghanistan besondere Betreuungsangebote und Unterstützung, die von der BF 1 für eine neue Existenzgründung in Anspruch genommen werden könnten.

Es sei in Zusammenschau davon auszugehen, dass die BF 1 auch weiterhin in der Lage sein würde, sich selbst im Familienverbund in ihrem Herkunftsstaat versorgen zu können. Auf Grund der Länderfeststellungen und der Angaben der BF 1 sei im Verfahren davon auszugehen, dass diese in XXXX oder in einem für sie sicheren Teil Afghanistans Fuß fassen und dort ihr Leben entsprechend fortsetzen könne.

Die BF 1 habe weder eine Gefahr in Afghanistan noch irgendeine Verfolgung oder Drohung in ihrem Herkunftsstaat vorbringen können. Zusammengefasst habe die BF 1 keine fundierte Gefahr für ihre Person schildern können. Im Falle einer innerstaatlichen Flucht habe kein reales Risiko ermittelt werden können.

Rechtlich wurde zu BF 1 im Wesentlichen ausgeführt, dass die Begründung des Antrages in der GFK keine Deckung gefunden habe, weil aus den Angaben der BF keine konkret gegen den BF gerichteten staatlichen bzw. quasi-staatlichen Verfolgungen aus asylrechtsrelevanten Gründen abzuleiten gewesen wäre. Die BF 1 habe keine Verfolgung in ihrem Herkunftsstaat glaubhaft wiedergegeben. Zu dem einzig vorgebrachten Fluchtgrund, nämlich einer eventuell bestehenden Bedrohungslage in Afghanistan sei anzuführen, dass es sich hierbei um keine fundierte Bedrohung gehandelt habe.

Zu Spruchpunkt II. wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass von der BF 1 keine schwere Krankheit vorgebracht worden sei und auch nicht die Notwendigkeit zur regelmäßigen Einnahme von Arzneimitteln bestehen würde. Es sei der BF 1 vor ihrer Ausreise leicht möglich gewesen die Kosten für die Ausreise mittels eines Schleppers zu bestreiten bzw. durch den Familienverband aufzubringen. Die BF 1 sei vor ihrer Ausreise in der Lage gewesen die primären Lebensbedürfnisse zu befriedigen. Außerdem beherrsche die BF 1 die unter anderem übliche Landessprache und würde die in Afghanistan bestehenden kulturellen Werte kennen. Es sei davon auszugehen, dass die BF 1 in der Lage sein würde auch unter Inanspruchnahme des Clanverbandes ihren Lebensunterhalt zu bestreiten. In diesem Zusammenhang sei anzuführen, dass die BF 1 weiterhin im Falle der Rückkehr eine entsprechende Rückkehrhilfe in Anspruch nehmen könne.

Hinsichtlich des Privat-, und Familienleben wurde ausgeführt, dass sich die BF 1 während ihres Aufenthaltes darüber im Klaren habe sein müssen, dass der Aufenthalt nur für die Dauer des Asylverfahrens rechtmäßig gewesen sei. In dieser Zeit sei ein etwaig entstandenes Privatleben keinesfalls geeignet gewesen, das Interesse der BF 1 am Interesse des Staates an einem geordneten Fremdenwesen zu stellen. Der BF 1 habe bei der Antragstellung bewusst sein müssen, dass der Aufenthalt in Österreich im Falle der Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz nur ein vorübergehender sein habe dürfen.

Die BF 1 befinde sich das erste Mal im Ausland, ihr Aufenthalt im Iran würde hier als kulturell gleichwertig angesehen werden. Die BF 1 habe einen Großteil ihres bisherigen Lebens im Iran verbracht. Dieser werde dadurch relativiert, weshalb unter Berücksichtigung ihrer individuellen Situation in Österreich insgesamt ein Überwiegen des öffentlichen Interesses an der Aufenthaltsbeendigung festgestellt werden habe können.

Zu BF 4 wurde ausgeführt, dass die gesetzliche Vertreterin den Antrag auf Gewährung desselben Schutzes gestellt habe. Im Hinblick auf das zu führende Familienverfahren, sei erstinstanzlich keine anderslautende Entscheidung im Hinblick auf eine allfällige Asylgewährung oder Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten zu treffen, zumal bis dato keinem Familienangehörigen im Bundesgebiet internationaler Schutz oder subsidiärer Schutz gewährt worden sei. Zu den Gründen für die Nichtzuerkennung im Hinblick auf BF 1 und BF 2 würde auf die diesbezüglichen Ausführungen in deren Bescheiden verwiesen werden.

Gegen die gegenständlichen Bescheide des BFA erhoben die BF 1 bis 4 fristgerecht Beschwerden. Dabei wurde im Wesentlichen die Fluchtgeschichte der BF 1 und des BF 2 neuerlich wiederholt.

Zu BF 1 wurde ausgeführt, dass diese aus dem väterlichen Haushalt unverheiratet geflohen sei, obwohl diese bereits für einen anderen vorgesehen gewesen ist. Hinzu kommt, dass sie aus dem väterlichen Haushalt mit dem Familienangehörigen ihres nunmehrigen Ehemannes geflohen ist, welcher von seinem Vater zuvor als Brautwerber abgewiesen worden ist. Der BF 2 hat demnach die BF 1 aus dem väterlichen Haus entführt. Nach traditioneller afghanischer Auffassung handelt es sich bei BF 3 und BF 4 um Kinder von Eltern, die nicht verheiratet sein dürften und als "Bastarde" gelten und geächtet werden würden. BF 1 und BF 2 würden die Rache der Familie der BF 1 fürchten.

BF 1 mache zudem die schwierige Lage der sozialen Gruppe der afghanischen Frauen geltend, als diese die Freiheit, die sie als Frau in Österreich beanspruchen würde, schätze. Ihre westliche Orientierung sei schon aus ihrem Kleidungsstil ersichtlich sein. Einkäufe und andere Erledigungen würden von dieser eigenständig erledigt werden und würde es ihr ein großes Anliegen sein vorrangig eine gute Ausbildung für Frauen und Mädchen, wie überhaupt eine gute Schulbildung, für ihre Kinder zu haben.

Die Unglaubwürdigkeitsunterstellung der belangten Behörde im Hinblick des gesamten Vorbingens des BF würde nicht als tragfähig erachtet werden. Wenn die belangte Behörde der Meinung sei, dass bei Wahrunterstellung eine asylrelevante Verfolgungsgefahr mangels der erforderlichen Intensität von vornherein auszuschließen sei und deswegen sich alle weiter- führenden Ermittlungen erübrigen würden, habe diese ihre gesetzliche Ermittlungspflicht verletzt.

Die belangte Behörde würde von vornherein jegliche Asylrelevanz verneinen, da im vorliegenden Fall lediglich eine Verfolgungsgefahr von privater Seite ausgehen würde und es an der erforderlichen Intensität für eine asylrelevante Verfolgung mangeln würde. In diesem Zusammenhang wurde auszugsweise das Erkenntnis vom 11.03.2015, VfGH E 1168/2014-14 und VfGH 02.10.2001, B 2136/00 zitiert.

Die Beurteilung der belangten Behörde zur Rückkehrsituation der BF würde in Anbetracht der aktuellen Berichtslage weitgehend verfehlt sein. Geschätzte 40 % der Rückkehrer würden verletzlich sein und nur über unzureichende Existenzgrundlagen sowie einen schlechten Zugang zu Lebensmitteln und Unterkunft verfügen. Außerdem würde die prekäre Sicherheitslage die Rückkehr erschweren. Einigen Schätzungen zufolge nach würden inzwischen 70 Prozent der Bevölkerung XXXX in informellen Siedlungen leben. Die finanzielle Situation und Beschäftigungsmöglichkeiten hätten sich in den letzten Jahren rapide verschlechtert.

Auf Grund der Ausführungen im Länderinformationsblatt würde das BFA sehr oft davon ausgehen, dass eine Rückkehr von afghanischen Asylsuchenden zumutbar sein würde bzw. eine alternative Ansiedelungsmöglichkeit in XXXX oder in einer anderen afghanischen Großstadt bestehen würde. Die Ausführungen von UNHCR und Friederike Stahlmann im Asylmagazin März 2017 würden dazu jedoch im eindeutigen Widerspruch stehen.

Die belangte Behörde habe es hinsichtlich der Rückkehrsituation offensichtlich ganz übersehen, dass es sich hier nicht um einen "alleine stehenden jungen arbeitsfähigen Mann", sondern um eine ganze Familie mit zwei kleinen Kindern handelt. In Afghanistan komme als "Familienernährer" einzig und allein der Familienvater in Frage. Im gegenständlichen Fall müsste der Familienvater alleine eine Ehefrau und zwei kleine Kinder ernähren. Die Angehörigen der Kernfamilie würden nichts zum für das Überleben notwendige Familieneinkommen beitragen.

Auf die Situation der Personengruppe von Frauen, welche aus Europa nach Afghanistan zurückkehren würden, sei die belangte Behörde überhaupt nicht eingegangen. Die BF sei zur Einvernahme modern westlich gekleidet erschienen. Die BF habe die benachteiligte, eingeschränkte und gefahrvolle Situation der Frauen in Afghanistan vor der belangten Behörde in der Einvernahme geltend gemacht. Afghanische Frauen, die einen weniger konservativen Lebensstil angenommen hätten, beispielsweise solche, die aus dem Exil in den Iran oder in Europa nach Afghanistan zurückgekehrt seien, würden nach wie vor als soziale und religiöse Normen überschreitend wahrgenommen werden. Als Folge könnten sie Opfer von häuslicher Gewalt oder anderer Formen der Bestrafung werden, die von Isolation und Stigmatisierung bis hin zu Ehrenmorden auf Grund der über die Familie, die Gemeinschaft oder den Stamm gebrachte Schande reichen würde. Angesichts der weit verbreiteten gesellschaftlichen Diskriminierung und der geschlechtsspezifischen Gewalt würden afghanische Frauen und Mädchen je nach ihrem individuellen Profil und ihren persönlichen Umständen einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein. Das Abweichen von den konventionellen Rollen oder die Überschreitung der gesellschaftlichen und religiösen Normen könne dazu führen, dass Frauen und Mädchen Gewalt, Schikanierungen und Diskriminierungen ausgesetzt sein würden. Frauen mit bestimmten Profilen würden auf Grund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ausgesetzt sein, beispielsweise Opfer von häuslicher oder anderer Formen schwerwiegender Gewalt. Wenn das Abweichen von den traditionellen Rollen als Widerspruch zu den traditionellen Machtstrukturen angesehen werden würde, könne sich die Verfolgungsgefahr auf die Religion oder politische Überzeugung beziehen.

Zusammenfassend wird ausgeführt, dass sich das BFA mit dem Fluchtvorbringen überhaupt nicht auseinandergesetzt habe. Die belangte Behörde habe es unterlassen den Bedarf hinsichtlich subsidiären Schutzes gesondert zu prüfen. Hinsichtlich der Beurteilung der Rückkehrsituation habe das BFA die individuelle Situation einer in Afghanistan vulnerablen Personengruppe (einer Familie mit 2 kleinen Kindern) außer Acht gelassen. Die BF 1 hat die Situation der Personen der Frauen in Afghanistan geltend gemacht. Auf diese wurde nicht eingegangen.

Am XXXX fand vor dem BVwG eine mündliche Verhandlung statt, in welcher die BF 1 und der BF 2 ausführlich zu den ursprünglich behaupteten Fluchtgründen, die diese bewogen hätten Afghanistan zu verlassen, befragt wurden. Unabhängig davon wurde die BF 1 eingehend zu ihrer in Österreich geführten Lebensweise befragt und darauf eingegangen, inwieweit sich diese von der in Afghanistan praktizierten unterscheiden würde. In der Folge wurde BF 2 einerseits auch noch hinsichtlich seines Fluchtvorbingens befragt und anderseits seine Lebensweise bzw. Einstellung näher befragt, bevor diesem die für die Beurteilung der Integration notwendigen Fragen gestellt wurden.

Im Zuge der dem rechtsfreundlichen Rechtsvertreter zur Möglichkeit der Abgabe einer Stellungnahme übermittelten Länderberichte zu Afghanistan führte dieser im Wesentlichen noch einmal aus, dass die BF aus Afghanistan geflüchtet seien, weil der Schwiegervater gegen eine Eheschließung gewesen sei und sie verfolgt habe. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan würden sie umgebracht werden.

Der Schwiegervater des BF 2 sei gegen die Eheschließung mit der BF 1 gewesen. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan würde er sie alle umbringen. Außerdem hätten sie Angst vor den Taliban. Daher hätten sie aus Afghanistan flüchten müssen und einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Mutter und Tochter würden sich in Afghanistan nicht frei bewegen können, als die BF 1 die Rechte, welche für Frauen in Österreich selbstverständlich sein würden, hier genießen würde. Selbiges wünsche sie sich für ihre Tochter. Außerdem würde sie kein Kopftuch tragen, kleide sich westlich und würde sich schminken. Dies deshalb, weil sie sich für einen modernen Kleidungsstil aus freien Stücken entschieden habe. In Afghanistan würde der BF 1 (und später die BF 3) nicht möglich sein, als sie sich dort verschleiern müsste. Anschließend wurden auszugsweise Berichte aus verschiedenen Länderberichten zur Lage von Frauen in Afghanistan zitiert und auszugsweise auf eine Entscheidung des BVwG hingewiesen.

Insofern würden im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan BF 1 und BF 3 massiv in den Rechten des Art 2 und Art 3 EMRK beeinträchtigt sein. Auf Grund der fortwährenden Präsenz der Taliban in Afghanistan würde eine Rückkehr dorthin nicht zumutbar sein. Ebenfalls wolle man das BVwG darauf hinweisen, dass die BF sich bei einer Verfolgung durch den Schwiegervater des BF 2 nicht an den Schutz der Polizei wenden könnten, da das Polizeiwesen in Afghanistan nicht funktionieren würde.

In der Folge wurde auf eine Expertise eines länderkundigen Sachverständigen eines Erkenntnisses des BVwG hingewiesen und gleichzeitig ein Artikel von Friederike Stahlmann, Überleben in Afghanistan zitiert, wonach es in Afghanistan schwierig sein würde minderjährige Kinder unter 5 Jahren durchzubringen. Eine Million Kinder unter fünf Jahren würden unterernährt sein. Es dürfe daher auch nicht davon ausgegangen werden, dass ein Rückkehrer durch entfernte Verwandte oder Stammesmitglieder Unterstützung erfahren könnten.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Zu den Beschwerdeführern:

Die strafgerichtlich unbescholtenen BeschwerdeführerInnen (BF1, BF 3 und BF 4) und der wegen § 107 StGB gefährlicher Drohung Angeklagte bzw. in der Folge mit Diversion erledigtes Verfahren des BF 2 tragen die im Spruch angeführten Namen. Sie sind afghanische Staatsangehörige und gehören der Volksgruppe der Tadschiken an und bekennen sich zur Religion der Sunniten. Die Erstbeschwerdeführerin ist mit dem Zweitbeschwerdeführer verheiratet. Die Dritt-, und der Viertbeschwerdeführer sind die Kinder der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers.

Die Erstbeschwerdeführerin ist in ihrer Wertehaltung überwiegend an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert und es droht ihr im Zusammenhang damit im Fall ihrer Rückkehr Verfolgung aus religiösen und/oder politischen Gründen.

Des Weiteren steht die persönliche Haltung der BF1 über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft im eindeutigen Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen im Herkunftsstaat mehrheitlich unterworfen sind. Die BF1 ist von ihrer persönlichen Wertehaltung her überwiegend an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert.

Eigene und in ihrer Person liegende Gründe einer asylrelevanten Verfolgung der BF2, BF3, BF4 im Herkunftsstaat sind nicht hervorgekommen bzw. als unglaubwürdig zu werten.

Zur Situation der Frauen in Afghanistan

Menschenrechtslage - allgemein

Die Situation der Frauen war bereits vor dem Taliban-Regime durch sehr strenge Scharia-Auslegungen und archaisch-patriarchalische Ehrenkodizes geprägt. So war die Burka auch vor der Taliban-Herrschaft bei der ländlichen weiblichen Bevölkerung ein übliches Kleidungsstück. Viele Frauen tragen sie noch immer, weil sie sich damit vor Übergriffen sicher fühlen. Während Frauenrechte in der Verfassung und teilweise im staatlichen Recht gestärkt werden konnten, liegt ihre Verwirklichung für den größten Teil der afghanischen Frauen noch in weiter Ferne (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 10.01.2012 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, S. 20, Stand: Jänner 2012). Während sich die Situation der Frauen seit dem Ende der Taliban-Herrschaft wesentlich verbessert hat, bleibt die vollumfängliche Durchsetzung der Frauenrechte innerhalb der konservativ-islamischen afghanischen Gesellschaft schwierig. Die Lage der Frauen kann sich allerdings je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark unterscheiden. Afghanistan verpflichtet sich in seiner Verfassung durch die Ratifizierung internationaler Konventionen und durch nationale Gesetze, die Rechte der Frauen zu achten und zu stärken. In der Praxis mangelt es jedoch oftmals an der praktischen Umsetzung dieser Rechte. Viele Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten und im Islam vorgegebenen Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern bestimmt wird, nur in wenigen Fällen möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage - oder aufgrund konservativer Wertevorstellungen nicht gewillt -, Frauenrechte zu schützen [Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage, vom 04.06.2013, S.12]. In den vergangenen Jahren hat sich die Situation der Frauen im Land drastisch verschlimmert [Die Presse vom 15.07.2012]. Anfang Juli 2012 wurde in einem Dorf in der Provinz Parwan, etwa eine Autostunde von Kabul entfernt, eine 22-jährige Frau als (angebliche) Ehebrecherin mit mehreren Schüssen vor einem teilweise jubelnden Publikum hingerichtet; die Provinzregierung beschuldigte die Taliban, die jedoch jede Verantwortung von sich wiesen [Der Spiegel-Online vom 08.07.2012, download am 31.07.2012].

Die Situation afghanischer Frauen hat sich seit dem Sturz der Taliban-Herrschaft teilweise verschlechtert. Die Bewegungsfreiheit bleibt, mit regionalen Unterschieden, stark eingeschränkt. Die registrierten Fälle physischer Gewalt gegenüber Frauen sind seit März 2007 um rund 40 Prozent gestiegen: 2374 registrierte Übergriffe im Jahr 2007 (Januar bis November 2006: 1545 Fälle). Die Dunkelziffer dürfte wesentlich höher liegen. In diesem Zeitraum haben rund 626 Frauen einen Selbstmordversuch begangen. Erzwungene Heiraten, häusliche Gewalt, sexuelle Übergriffe und Vergewaltigungen, Frauenhandel und Ehrenmorde gehören zu den gegen Frauen angewandten Gewaltformen. Die Täter sind meist männliche Familienmitglieder. Wenn Frauen Anzeige erstatten, werden sie oft genau den von ihnen angezeigten Männern ausgeliefert. Vieles deutet darauf hin, dass die staatlichen Akteure in Afghanistan nicht in der Lage oder wegen konservativ-islamischer Wertevorstellungen nicht gewillt sind Frauen zu schützen. Frauen bleiben meist ihrem Schicksal überlassen. Die Direktoren der Departemente für Frauenangelegenheiten in Kandahar, Helmand, Farah, Uruzgan, Wardak und Nuristan erhielten Gewaltandrohungen. Massoma Anwary, Vorsteherin des Departements für Frauenangelegenheiten, überlebte im November 2007 einen Anschlag auf ihr Leben: Täter sind meist bewaffnete Bewegungen oder Führer des konservativ-religiösen Establishments (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update Afghanistan, 21.08.2008).

Die Lage der Frauen unterscheidet sich je nach regionalem und sozialem Hintergrund stark. Auch die unbefriedigende Sicherheitslage in weiten Landesteilen erlaubt es den Frauen nicht, die mit Überwindung der Taliban und ihrer frauenverachtenden Vorschriften erwarteten Freiheiten wahrzunehmen. Die meisten Frauen sind sich ihrer in der Verfassung garantierten Rechte nicht bewusst. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern bestimmt wird sowie kaum qualifizierte Anwälte zur Verfügung stehen, in den seltensten Fällen möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage oder aufgrund konservativer Wertvorstellungen nicht gewillt Frauenrechte zu schützen. (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 10.01.2012 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, S. 20, Stand: Jänner 2012).

Frauen werden weiterhin in Familien-, Erb-, Zivilverfahren sowie im Strafrecht benachteiligt. Dies gilt vor allem hinsichtlich des Straftatbestandes "Ehebruch", wonach selbst Opfer von Vergewaltigungen bestraft werden können. Es gibt Berichte, dass Frauen wegen "Ehebruchs" von Ehemännern oder anderen Familienmitgliedern umgebracht werden (so genannte "Ehrenmorde", die besonders in den paschtunischen Landesteilen vorkommen können). Das durchschnittliche Heiratsalter von Mädchen liegt bei 15 Jahren, obwohl ein Mindestheiratsalter von 16 Jahren gesetzlich verankert ist. Zwangsheirat bereits im Kindesalter, "Austausch" weiblicher Familienangehöriger zur Beilegung von Stammesfehden sowie weit verbreitete häusliche Gewalt kennzeichnen die Situation der Frauen. Opfer sexueller Gewalt sind dabei auch innerhalb der Familie stigmatisiert. Das Sexualdelikt wird in der Regel als "Entehrung" der gesamten Familie aufgefasst. Sexualverbrechen zur Anzeige zu bringen hat aufgrund des desolaten Zustands des Sicherheits- und Rechtssystems wenig Aussicht auf Erfolg. Der Versuch endet u. U. mit der Inhaftierung der Frau, sei es aufgrund unsachgemäßer Anwendung von Beweisvorschriften oder zum Schutz vor der eigenen Familie, die eher die Frau oder Tochter eingesperrt als ihr Ansehen beschädigt sehen will. Viele Frauen sind wegen so genannter Sexualdelikte inhaftiert, weil sie sich beispielsweise einer Zwangsheirat durch Flucht zu entziehen versuchten, vor einem gewalttätigen Ehemann flohen oder weil ihnen vorgeworfen wurde, ein uneheliches Kind geboren zu haben (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 10.01.2012 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, S. 20, 21, Stand: Jänner 2012).

Das Rechtssystem und die afghanische Gesellschaftsordnung diskriminieren Frauen in verschiedener Hinsicht. Insbesondere wegen folgender als Delikte geahndeter Handlungen droht Frauen aus politischen oder religiösen Gründen bzw. wegen der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe eine unverhältnismäßig harte Bestrafung bis hin zu extralegalen Tötungen (auch Ehrenmorde): Verstöße gegen Kleidervorschriften und Moralvorschriften, z. B. berufliche Aktivitäten, Beziehungen zu einem Nichtmuslim, außereheliche sexuelle Kontakte, Zwangsheirat, Mitarbeit bei Frauenorganisationen (Position der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, Asylsuchende aus Afghanistan vom 26.02.2009).

Die Situation der Frauen in Afghanistan hat sich seit dem Jahr 2007 nicht verbessert, Frauen sind besonders gefährdet, Opfer von Misshandlungen zu werden, wenn ihr Verhalten als nicht mit den von der Gesellschaft, der Tradition oder sogar vom Rechtssystem auferlegten Geschlechterrollen vereinbar angesehen wird. Afghanische Frauen, die einen weniger konservativen Lebensstil angenommen haben, beispielsweise solche, die aus dem Exil im Iran oder in Europa zurückgekehrt sind, werden nach wie vor als soziale und religiöse Normen überschreitend wahrgenommen. Als Folge können sie Opfer von häuslicher Gewalt oder anderer Formen der Bestrafung werden, die von der Isolation und Stigmatisierung bis hin zu Ehrenmorden auf Grund der über die Familie, die Gemeinschaft oder den Stamm gebrachte "Schande" reichen. Tatsächliche oder vermeintliche Überschreitungen der sozialen Verhaltensnormen umfassen nicht nur das Verhalten im familiären oder gemeinschaftlichen Kontext, sondern auch die sexuelle Orientierung, das Verfolgen einer beruflichen Laufbahn und auch bloße Unstimmigkeiten über die Art des Auslebens des Familienlebens.

Alleinstehende Frauen oder Frauen ohne männlichen Schutz (mahram) sind weiterhin in Bezug auf eine normale soziale Lebensführung eingeschränkt. Betroffen sind geschiedene, unverheiratete, jedoch nicht jungfräuliche Frauen und Frauen, deren Verlobung gelöst wurde. Außer wenn sie heiraten, was angesichts des gesellschaftlichen Stigmas sehr schwierig ist, sind soziale Unterdrückung und Diskriminierung üblich. Allein lebenden Frauen ohne männliche Unterstützung und Schutz fehlt es infolge der sozialen Einschränkungen, einschließlich der Einschränkungen der Bewegungsfreiheit, grundsätzlich an Mitteln zum Überleben. Dies spiegelt sich im Fall der wenigen Frauen wieder, die ein Frauenhaus aufsuchen konnten. Da es für sie keine Möglichkeit gibt, unabhängig zu leben, sehen sie sich mit einer jahrelangen haftähnlichen Situation im Frauenhaus konfrontiert und entscheiden sich deswegen vielfach für die Rückkehr in die durch Missbrauch geprägte familiäre Situation. Ergebnisse dieser "Versöhnungen" werden nicht weiter beobachtet und Misshandlungen oder Ehrenmorde, die nach der Rückkehr begangen werden, bleiben oft unbestraft. Zwangs- und Kinderheirat werden in Afghanistan nach wie vor weit verbreitet praktiziert und können in unterschiedlichen Formen in Erscheinung treten. Auch ist der Zugang zu Bildung für Mädchen stark eingeschränkt. Darüber hinaus werden Frauenrechtsaktivisten bedroht und eingeschüchtert, insbesondere wenn sie ihre Stimme zu Frauenrechten, der Rolle des Islam oder das Verhalten von Befehlshabern erheben.

Angesichts der weit verbreiteten gesellschaftlichen Diskriminierung und der geschlechtsspezifischen Gewalt können afghanische Frauen und Mädchen - insbesondere in den vom bewaffneten Konflikt betroffenen oder sich unter der faktischen Kontrolle der bewaffneten regierungsfeindlichen Gruppen befindlichen Gebieten - je nach ihrem individuellen Profil und ihren persönlichen Umständen einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein. Das Abweichen von den konventionellen Rollen oder die Überschreitung der gesellschaftlichen und religiösen Normen kann dazu führen, dass Frauen und Mädchen Gewalt, Schikanierungen und Diskriminierungen ausgesetzt sind. Frauen mit bestimmten Profilen können einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt sein, beispielsweise Opfer von häuslicher oder anderer Formen schwerwiegender Gewalt, alleinstehende Frauen oder weibliche Familienvorstände, Frauen mit erkennbaren gesellschaftlichen oder beruflichen Rollen wie Journalistinnen, Menschenrechtsaktivistinnen und in der Gemeindearbeit tätige Frauen (UNHCR's Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Afghan Asylum Seekers, Juli 2009 [deutsche Zusammenfassung vom 10. November 2009]).

Verletzende traditionelle Praktiken in Afghanistan, einschließlich Zwangsverheiratung und Verheiratung von Kindern, Ehrenmorde, Haft für formell nach nationalem Recht nicht strafbares Verhalten und Blutrache, betreffen sowohl Männer als auch Frauen. Letztgenannte jedoch unverhältnismäßig stark. Frauen ohne den effektiven Schutz von Männern oder die Unterstützung durch die Familie sowie allein stehende Frauen im heiratsfähigen Alter sind in Afghanistan rar und werden nach wie vor mit Argwohn betrachtet. Sie sind einem hohen Risiko ausgesetzt, von ihren Familien gegen ihren Willen verheiratet zu werden. Allein stehende Frauen laufen Gefahr durch die afghanische Gemeinschaft geächtet oder Opfer von boshaften Gerüchten zu werden, die ihren Ruf und ihren gesellschaftlichen Status zerstören können. Dies setzt sie einem erhöhten Risiko von Missbrauch, Bedrohungen, Belästigungen und Einschüchterungen durch afghanische Männer aus, einschließlich des Risikos, entführt, sexuell missbraucht oder vergewaltigt zu werden. In der Mehrheit dieser Fälle ist die Regierung nicht in der Lage, diese Frauen effektiv zu schützen (UNHCR's Eligibility Guidelines for Assessing the International Protection Needs of Afghan Asylum Seekers, Dezember 2007).

Seit 2011 hat die afghanische Regierung wichtige Maßnahmen unternommen, um die Situation von Frauen im Land zu verbessern. Dennoch gibt die Situation von Frauen und Mädchen in vielen Bereichen weiterhin Anlass zu großer Sorge. Dies trifft besonders in Gebieten zu, die unter der effektiven Gewalt der Taliban und Hezb-i Islami (Gulbuddin) stehen, in welchen Frauen in einer Vielzahl von Berufen, einschließlich als Staatsbedienstete, Opfer von zielgerichteten Angriffen sind (UNHCR - UN High Commissioner for Refugees: UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, Zusammenfassende Übersetzung, 24.03.2011).

Soziale Gebräuche beschränkten die Bewegungsfreiheit von Frauen ohne einen männlichen Begleiter. Religiöse Organisationen verschärften in einigen Provinzen die soziale Inakzeptanz gegenüber alleine reisenden oder nur alleine das Haus verlassenden Frauen. Der Ulema-Rat für die westliche Region gab eine Deklaration heraus in der Frauen, die sich weiter als 54 Meilen [~87km] von ihrem Haus entfernen, einen männlichen Begleiter benötigen. Außerdem wurde es weiblichen Angestellten in ausländischen Organisationen untersagt, alleine mit einem ausländischen Mann in einem Raum zu arbeiten (US DOS - U.S. Department of State: 2010 Human Rights Report - Afghanistan, 08.04.2011).

AIHRC registrierte im Berichtszeitraum eine steigende Anzahl von Vergewaltigungen, Misshandlungen und ähnlichen v.a. gegen Frauen gerichtete Straftaten. Weitgehend besteht aber Einigkeit darüber, dass diese Zunahme im Wesentlichen darauf zurückzuführen ist, dass solche Straftaten vermehrt angezeigt werden. Auch eine erhöhte Sensibilisierung auf Seiten der afghanischen Polizei und Justiz führt zu einer sich langsam aber stetig verbessernden Lage der Frauen in Afghanistan. Dennoch geschieht es immer wieder, dass Frauen, die entweder eine solche Straftat zur Anzeige bringen oder aber von der Familie aus Gründen der Ehrenrettung angezeigt werden, wegen sog. Sittenverbrechen oder "Verlassen der ehelichen Wohnung" inhaftiert werden. Laut einem Bericht von Human Rights Watch von März 2012 befanden sich in Afghanistan ca. 400 Frauen wegen solcher "Verbrechen" in Haft. Weibliche Opfer von häuslicher Gewalt oder Vergewaltigungen sind meist auf Schutzmöglichkeiten außerhalb der Familie angewiesen, da die Familie oft (mit-)ursächlich für die Notlage ist. Landesweit gibt es Frauenhäuser, deren Angebot reichlich in Anspruch genommen wird. Die Frauenhäuser sind in der afghanischen Gesellschaft höchst umstritten, da immer wieder Gerüchte gestreut werden, diese Häuser seien Orte für unmoralische Handlungen und die Frauen seien in Wahrheit Prostituierte. Das Schicksal von Frauen, die auf Dauer weder zu ihren Familien noch zu ihren Ehemännern zurückkehren können, ist bisher ohne Perspektive. Für diese erste "Generation" von Frauen, die sich seit Ende der Taliban-Herrschaft in den Schutzeinrichtungen eingefunden haben, hat man in Afghanistan bisher keine Lösung gefunden. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt. Auch unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes bisher undenkbar. [Deutsches Auswärtiges Amt, Bericht zur asyl- und abschiebungsrelevanten Lage, vom 04.06.2013, S.12-13].

Das afghanische Parlament hat ein Gesetz verabschiedet, das Männern, die Frauen misshandeln, faktisch Straffreiheit garantiert. Präsident Karzai muss es nur noch unterzeichnen; 05.02.2014. Dem Gesetz zufolge ist es Verwandten künftig verboten, gegen die Peiniger in der eigenen Familie auszusagen. Dies würde die Verfolgung von häuslicher Gewalt erheblich erschweren. Da die Mehrheit der Afghanen in mit Lehm ummäuerten Anlagen im Rahmen von Großfamilienstrukturen lebt, könnten durch das Gesetz somit faktisch alle potentiellen Zeugen von einer Aussage ausgeschlossen werden. (Frankfurter Allgemeine Politik, Afghanistan Neues Gesetz beschneidet Frauenrechte drastisch,

.faz.net/aktuell/politik/ausland/asien/afghanistan-neues-gesetz-beschneidet-frauenrechte-drastisch-12785948.html, download am 12.03.2014)

Bildung/Berufstätigkeit

Frauen waren unter den Taliban (1996-2001) von jeglicher Bildung ausgeschlossen. Die Alphabetisierungsrate bei Frauen liegt Schätzungen zufolge in der Größenordnung von 10%. Nach Angaben von UNICEF können nur 18% der Mädchen und Frauen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren lesen und schreiben. Für die wenigen hochqualifizierten Afghaninnen hat sich jedoch der Zugang zu adäquaten Tätigkeiten bei der Regierung verbessert. Die Entwicklungsmöglichkeiten für Mädchen und Frauen bleiben durch die strenge Ausrichtung an Traditionen und fehlender Schulbildung weiterhin wesentlich eingeschränkt. Wiederholte Gasangriffe auf Mädchenschulen (zuletzt am 25.08.2010, Totja-Oberschule, Kabul - der fünfte mutmaßliche Gasangriff auf eine Mädchenschule in Kabul 2010; 2011 wurden keine derartigen Vorkommnisse bekannt) bestätigen, dass Schulbildung für Mädchen immer noch von einem Teil der Bevölkerung abgelehnt wird (Bericht des deutschen Auswärtigen Amtes vom 10.01.2012 über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, S. 22, Stand: Jänner 2012).

Der Zugang zu Bildung, Gesundheit und Arbeit steht jedoch vielen Frauen nur theoretisch offen, praktisch sind sie die am meisten von der Armut, Diskriminierung und Rechtlosigkeit betroffene Bevölkerungsgruppe geblieben. In vielen Landesteilen sind sie vom öffentlichen Leben weiterhin weitgehend ausgeschlossen. Gezielte Übergriffe radikal-muslimischer Kräfte auf Frauen und Mädchen sind alltäglich. So soll der Schulbesuch von Mädchen verhindert werden (Gesellschaft für bedrohte Völker, Menschenrechtsreport 53, Juni 2008).

Einige lokale Behörden schließen Frauen von jeglicher Erwerbstätigkeit außerhalb des Haushalts oder der Landwirtschaft aus (US Department oft State, Human Rights Report 2008, Afghanistan vom 25.02.2009).

Bedrohungen und Einschüchterungen gegen Frauen im öffentlichen Leben sind dramatisch angewachsen. Die besten Berufsaussichten für Frauen finden sich im öffentlichen Dienst und in internationalen Organisationen. Die Abteilung für Frauenangelegenheiten berichtet von Bedrohungen gegenüber berufstätigen Frauen. Die Lage der Frauen hat sich insofern im Gegensatz zur Zeit vor 2007 verschlechtert, dass die Frauen sich jetzt weniger trauen sich in der Öffentlichkeit zu äußern und die Möglichkeiten, die ihnen in der Öffentlichkeit zu Verfügung stehen, in Anspruch zu nehmen. Früher, vor 2007, sind sie z. B. in den Städten teilweise ohne Begleitung einkaufen gegangen. Heute, wenn möglich, meiden sie die Öffentlichkeit. Es wurden bis jetzt mehrere weibliche Abgeordnete und Journalistinnen getötet. Viele Frauen, die früher im Rahmen der internationalen Organisationen und im Rahmen der Regierungsprogramme in der Öffentlichkeit gearbeitet haben, haben ihre Jobs aufgegeben, weil die Fundamentalisten über sie Schlechtes verbreitet haben. Deshalb wurden sie von ihren Familien eingeschränkt, weil sie dem psychischen Terror der Gesellschaft unterlegen waren, z.B. wenn in der Gesellschaft verbreitet wird, dass die Frau mit dem Chauffeur eine Beziehung hat, kommt das einem Rufmord gleich, sodass die Familie die Frau nicht mehr arbeiten schickt (Human Rights Watch, Word Report 2009 vom 14.01.2009 [Zugriff am 19.05.2009]; UNHCR, Annual Report vom 16.01.2009 [Zugriff am 20.02.2009]; Sachverständigengutachten in der Beschwerdeverhandlung vom 12.12.2008, C6 267.439-0/2008/8E [Zugriff am 19.05.2009]).

Zwangsverheiratungen

Jedes Jahr töten sich mehrere hundert Frauen aus Verzweiflung über Entführungen, Zwangsheirat und Gewalt selbst. Sogar Mädchen im Alter von nur sechs Jahren werden zwangsweise verheiratet. Sie werden nicht nur durch ihre Männer sondern auch durch deren Familienangehörige mit Vergewaltigung und einem Leben in Sklaverei bedroht. Oft dürfen sie nach der Heirat die eigenen Eltern und andere Familienangehörige nicht mehr sehen und es wird ihnen der Schulbesuch verboten. Da viele dieser Mädchen ihre Rechte entweder gar nicht kennen oder zumindest nicht wissen, wie sie diese einfordern können, sehen sie als einzigen Ausweg allzu oft nur die Selbstverbrennung. Gemäß einer Studie der Organisation "Womankind" beklagen 87 Prozent der Frauen, Opfer von Gewalt in der Ehe oder im öffentlichen Leben geworden zu sein (Independent, 25.02.2008). Die Hälfte aller Übergriffe sei sexuell motiviert. Seit März 2007 hat nach UN-Angaben die Zahl der offiziell registrierten Gewalttaten gegen Frauen und Mädchen um 40 Prozent zugenommen (IRIN, 08.03.2008). Diese erschreckenden Zahlen sind vermutlich auf eine gestiegene Bereitschaft bei Frauen zurückzuführen, Gewalttaten anzuzeigen, die zuvor in der hohen Dunkelziffer verschwanden. Mehr als 60 Prozent aller Eheschließungen erfolgten laut "Womankind" unter Zwang. 57 Prozent der Bräute seien jünger als 16 Jahre alt (Gesellschaft für bedrohte Völker, Menschenrechtsreport 53, Juni 2008).

Entsprechend den Berichten der Afghanistan Independent Human Rights Commission sind 68-80 % der Ehen in Afghanistan sog. "Zwangsehen" (South Asia Human Rights Index 2008). Nach den afghanischen Traditionen/Gebräuchen wird eine Witwe an ihren Schwager oder sonstige nahe Verwandte ihres verstorbenen Ehegatten (zwangs)verheiratet (ACCORD-Anfragebeantwortung vom 30.06.2005 [u.a.] betreffend zwangsweise Wiederverheiratung von Witwen).

Gesundheitliche Situation für Frauen

Der Gesundheitszustand der afghanischen Bevölkerung gehört zu den schlechtesten weltweit. Die Lebenserwartung der afghanischen Bevölkerung gehört mit 42 Jahren zu den tiefsten der Welt. Im ganzen Land stehen der afghanischen Bevölkerung lediglich 210 Gesundheitseinrichtungen mit Betten zur Hospitalisierung zur Verfügung. Mit Ausnahme von vier Provinzen beträgt die Ärztedichte landesweit ein Arzt auf 10'000 Einwohner. Gemäß Angaben des deutschen Auswärtigen Amtes besteht in weiten Landesteilen keine medizinische Versorgung. Kinder und Frauen gehören zu den speziell vernachlässigten Personengruppen. Die Müttersterblichkeitsrate ist mit 1600 - 1900 auf 100.000 Geburten weltweit die zweithöchste. Bei rund 70 - 85 Prozent der Geburten war keine dafür ausgebildete Person anwesend. Der Zugang zu medizinischen Einrichtungen ist für Frauen kulturell bedingt schlechter als für Männer. Dies gilt insbesondere dann, wenn kein weibliches Gesundheitspersonal anwesend ist. Im Bereich der psychischen Erkrankungen existieren in Afghanistan nur sehr limitierte Einrichtungen und eine höchst rudimentäre Behandlung (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Update Afghanistan, 21.08.2008). [Auch] für werdende Mütter ist die gesundheitliche Situation noch immer katastrophal. Aufgrund mangelnder ärztlicher Versorgung stirbt eine von neun Müttern bei der Geburt ihres Kindes. Nur im westafrikanischen Staat Sierra Leone ist die Situation ebenso dramatisch. Alle 27 Minuten stirbt in Afghanistan eine Frau aufgrund von Komplikationen während der Schwangerschaft. Nur 14 Prozent aller Frauen wurden im Jahr 2006 während der Geburt von ausgebildetem medizinischen Personal begleitet (Radio Free Asia, 10.05.2008, IRIN, 30.01.2008; Gesellschaft für bedrohte Völker, Menschenrechtsreport 53, Juni 2008). Die durchschnittliche Lebenserwartung für Frauen in Afghanistan liegt bei ca. 44 bis 46 Jahren (South Asia Human Rights Index 2008, bzw. Human Rights Watch, Country Summary Afghanistan, January 2008).

Eine bessere medizinische Versorgung von Frauen und Kindern ist dringend geboten; die Sterblichkeit von Kindern unter 5 Jahren beträgt in Afghanistan 191 pro 1000 Geburten. Eine Behandlung in Krankenhäusern wird von Personen, die sich die entsprechende Anreise leisten können, gewöhnlich in angrenzenden Ländern, insbesondere in Peshawar (Pakistan) durchgeführt (IOM - International Organization for Migration: Länderinformationsblatt Afghanistan, Oktober 2010).

Der vorhandene Anteil an Ärztinnen (23 %) stellt insofern ein Problem dar, da sich Frauen nur von Frauen behandeln lassen wollen bzw. die Ehemänner und Väter nur eine Behandlung durch Frauen zulassen. Ein Grund für den Mangel an weiblichen Ärzten liegt in der schlechten Sicherheitslage in vielen ländlichen Gebieten. In Kabul selbst gibt es zwei Entbindungsstationen.

Vor allem am Land ist die medizinische Behandlung für Frauen deshalb schwierig. Sie erhalten medizinische Hilfe meist von älteren Frauen ohne entsprechende medizinische Instrumente. Dies ist auch ein Grund für die hohe Kinder- und Müttersterblichkeit (BAA: Bericht zur Fact Finding Mission Afghanistan, 20-29. Oktober 2010, Dezember 2010).

Rechtliche Gleichstellung/Diskriminierung

Die Verfassung enthält einen umfangreichen Menschenrechtskatalog, der politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte umfasst. Gemäß Art. 22 haben Männer und Frauen gleiche Rechte und Pflichten. [Es] ist davon auszugehen, dass insbesondere Schuras die Rechte von Frauen tendenziell weniger achten, oft überhaupt nicht. Eine Verteidigung ihrer Rechte ist in einem Land, in dem die Justiz stark konservativ-traditionell geprägt und überwiegend von männlichen Richtern bestimmt wird und in dem kaum qualifizierte Anwältinnen oder Anwälte zur Verfügung stehen, in den seltensten Fällen möglich. Staatliche Akteure aller drei Gewalten sind häufig nicht in der Lage - oder aufgrund konservativer Wertvorstellungen nicht gewillt - Frauenrechte zu schützen (AA - Auswärtiges Amt:

Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Februar 2011).

Obwohl von der Regierung Anstrengungen unternommen werden, um die Gleichberechtigung der Geschlechter voranzutreiben, sind Frauen auf Grund der fortbestehenden Klischees und der herrschenden, sie marginalisierenden Praktiken nach wie vor weit verbreiteten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Alleinstehende Frauen oder Frauen ohne männlichen Schutz (mahram) - einschließlich geschiedenen Frauen, unverheirateter, jedoch nicht jungfräulicher Frauen und Frauen, deren Verlobung gelöst wurde - sind weiterhin gesellschaftlicher Stigmatisierung und allgemeiner Diskriminierung ausgesetzt. Alleinlebende Frauen ohne männliche Unterstützung und Schutz fehlt es grundsätzlich an Mitteln zum Überleben, das sie auf Grund der existierenden sozialen Normen Einschränkungen ausgesetzt sind, einschließlich Einschränkungen der Bewegungsfreiheit (UNHCR - UN High Commissioner for Refugees:

UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender, Zusammenfassende Übersetzung, 24.03.2011).

Die Diskriminierung ist speziell in ländlichen Gebieten und Dörfern stark. Gesellschaftliche Diskriminierung gegen Frauen bestand fort und umfasste häuslichen Missbrauch, Vergewaltigung, Zwangsehe, Zwangsprostitution, den Tausch von Mädchen zur Streitbeilegung, Kidnapping und Ehrenmorde. Es gibt kein spezielles Gesetz gegen sexuelle Belästigung. Frauen erfuhren schwere Diskriminierung durch das Justizsystem. Lokale Praktiken waren diskriminierend, vor allem da in weiten Teilen des Landes die Stammesältesten ihre Entscheidungen auf der Basis der Scharia und Gewohnheitsrechten treffen, die generell gegenüber Frauen diskriminierend sind. Die meisten Frauen haben nur einen beschränkten Zugang zu den lokalen Schuras. Frauenrechtsgruppen berichteten, dass die Regierung aber informell zugunsten von Frauen intervenierte. Amnesty International berichtete, dass nur Anwälte von NGOs weibliche Opfer vor Gericht vertraten. In den meisten Provinzen werden nur ein oder zwei Fälle von häuslicher Gewalt im Jahr strafrechtlich verfolgt (US DOS - U.S.

Department of State: 2010 Human Rights Report - Afghanistan, 08.04.2011).

Einige Frauen versuchen mittels Selbstverbrennung Selbstmord zu begehen um ihrer Situation zu entfliehen. In den ersten neun Monaten des Jahres 2010 dokumentierte die AIHRC 111 Fälle von Selbstverbrennungen. Der Berater des Präsidenten für Gesundheit, gab an, dass geschätzte 2.400 Frauen jährlich Selbstmord begehen (US DOS - U.S. Department of State: 2010 Human Rights Report - Afghanistan, 08.04.2011).

Staatliche Vorgehensweise

Lokale Behörden inhaftierten manchmal Frauen auf Wunsch von Familienmitgliedern, da sie sich den Wünschen der Familie hinsichtlich Wahl des Ehemanns widersetzten. Frauen können außerdem dem Vorwurf der Bigamie ausgesetzt sein, wenn ihr verschwundener Ehemann wieder auftaucht, nachdem die Frau wieder geheiratet hat.

Polizistinnen wurden speziell ausgebildet um Opfern von häuslicher Gewalt zu helfen. Sie beschwerten sich aber, dass sie angewiesen worden wären in den Polizeistationen auf die Opfer zu warten. Dies würde ihre Arbeit behindern, da Anzeigen wegen häuslicher Gewalt nicht gesellschaftlich anerkannt sind und viele Frauen nicht alleine auf die Polizeistationen kommen können. Außerdem gibt es Berichte, dass diese Polizeieinheiten schlecht ausgestattet würden. Insgesamt gibt es 42 so genannte Family Response Units, 29 davon alleine in Kabul, sieben in Mazar, vier in Kunduz und zwei in Bamyan. Drei weitere sollen in Jalalabad entstehen. Diese Einheiten bestehen primär aus Polizistinnen und sollen sich um Gewalt gegen Frauen und Kinder kümmern (US DOS - U.S. Department of State: 2010 Human Rights Report - Afghanistan, 08.04.2011).

Frauenhäuser

Es gab elf formelle Frauenhäuser von NGOs in Afghanistan und fünf informelle. Die Frauenhäuser stellten Frauen Schutz, Unterkunft, Nahrung, Ausbildung und medizinische Versorgung zur Verfügung. Doch der Platz in den Frauenhäusern ist beschränkt und Frauen, die keinen Platz erhalten, enden oft im Gefängnis (US DOS - U.S. Department of State: 2010 Human Rights Report - Afghanistan, 08.04.2011).

Es gibt landesweit ca. 12 bis 17 Frauenhäuser, 3 bzw. 5 davon befinden sich in der Hauptstadt Kabul, wo 2002 das erste Frauenhaus eröffnet wurde. Weiters finden sich Frauenhäuser in den Städten Herat, Mazar-e-Sharif Parwan und Jalalabad. Jedes dieser Frauenhäuser bietet Unterkünfte für ca. 10 bis 40 Frauen. Die meisten der Frauenhäuser bieten - zusätzlich zu einer Unterkunft - juristische Vertretung an und vermitteln Frauen eine Ausbildung. Jenes Frauenhaus in Parwan verschafft den Frauen Zugang zu Staatsanwälten, um so eine strafrechtliche Verfolgung der Täter zu ermöglichen.

Die Frauenhäuser werden ausschließlich von nichtstaatlichen (nationalen und internationalen) Organisationen angeboten, seitens des Staates wurde bislang kein Frauenhaus errichtet. Seitens des Frauenministeriums wird lediglich auf die bestehenden Frauenhäuser verwiesen. Die Frauenhäuser sind vor Übergriffen weitgehend sicher (BAA: Bericht zur Fact Finding Mission Afghanistan, 20-29. Oktober 2010, Dezember 2010).

Die Behörden nahmen einige Frauen in "Schubhaft" um sie vor der Vergeltung von Familienmitgliedern zu schützen oder - wenn kein Platz in Frauenhäusern verfügbar war - um sie vor weiterer Gewalt zu schützen. Laut dem Elimination of Violence Against Women - Gesetz (EVAW) ist die Polizei berechtigt, Personen, die Gewalt gegen Frauen ausüben, zu verhaften, aber weder die Polizei noch die Gerichte sind mit dem neuen Gesetz vollständig vertraut.

Laut UNAMA werden alleinstehende Frauen in der Gesellschaft nicht akzeptiert, deshalb haben Frauen; die nicht bei ihren Familien leben können, keinen Platz zum Leben. Eine Lösung für Frauen, die in Frauenhäusern leben, zu finden, wird auch durch die verbreitete Meinung, dass Frauenhäusern etwas Anrüchiges anhaftet, erschwert. NGOs, die Frauenhäuser in Kabul betreiben, berichteten von einer erhöhten Bereitschaft der Polizei, Frauen in ihre Einrichtungen zu schicken. Dies könnte eine Folge der besseren Ausbildung und des verbesserten Bewusstseins der Polizei sein.

Statt in Frauenhäuser zu gehen "heiraten" Mädchen manchmal ältere Männer um so häuslicher Gewalt zu entkommen. Die "Ehemänner" schützen sie dann. Beobachter berichteten, dass Beamte des Justizsektors diese Praxis bewarben und akzeptieren (US DOS - U.S.

Department of State: 2010 Human Rights Report - Afghanistan, 08.04.2011).

Besonderer Rechtsschutz

Im Juni 2008 wurde der mit Unterstützung von UNIFEM [United Nations Development Fund for Women / Entwicklungsfonds der Vereinten Nationen für Frauen] erarbeitete National Action Plan for Woman of Afghanistan (NAPWA) von der Regierung gebilligt. NAPWA soll helfen, die Situation der Frauen in Afghanistan zu verbessern, insbesondere ihre Diskriminierung zu beenden, die Entfaltung ihrer Fähigkeiten zu ermöglichen und ihnen volle und gleichberechtigte Beteilung in allen Lebensbereichen (Wirtschaft, Gesundheit, Bildung) zu gewähren. Die staatlichen Institutionen sind jedoch bisher nicht fähig, die Vorgabe des NAPWA wirksam durchzusetzen. Oft liegt dies auch den weiterhin bestehenden - den Forderungen des NAPWA entgegenstehenden - kulturell verankerten Traditionen.

Die Situation der Frau in Afghanistan wird in der Theorie durch die Verabschiedung des "Gesetzes zur Beseitigung aller Formen von Diskriminierung gegen Frauen" (EVAW-Gesetz) verbessert, das am 19.7.2009 von Präsident Karzai unterzeichnet wurde. Auch dieses Gesetz wurde am 19.07.2009 von Präsident Karzai unterzeichnet. Das EVAW-Gesetz genießt nach seinem Schlussartikel Vorrang vor allen entgegenstehenden Normen. Es enthält zahlreiche strafbewehrte Bestimmungen und hat zum Ziel, Gewalt gegen Frauen in allen Formen zu bekämpfen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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