RS Lvwg 2019/5/21 LVwG-250144/2/Gf/RoK

JUSLINE Rechtssatz

Veröffentlicht am 21.05.2019
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Rechtssatznummer

1

Entscheidungsdatum

21.05.2019

Norm

Art. 1 B-VG
§Oö Kinderbildungs- und -betreuungsgesetz (OöKBBG)
§12 OöKBBG
§28 OöKBBG
§2 Oö Elternbeitragsverordnung 2018 (OöEBV)
§5 OöEBV
§9 OöEBV
§14 OöEBV

Rechtssatz

* Grundsätzlich wäre es zwar verfehlt, ein Gesetz gleichsam standardmäßig und unreflektiert anhand dessen historischer Materialien auszulegen. Dies würde nämlich im Ergebnis dazu führen, dass ein vorwiegend wegen seiner grundlegend neuen rechtspolitischen Zielvorstellungen demokratisch gewählter Gesetzgeber jeweils das gesamte entgegenstehende Recht ändern bzw. adaptieren müsste. Weil dafür aber angesichts des Umfanges und der Komplexität der bestehenden Rechtsvorschriften die Kürze einer Legislaturperiode in aller Regel nicht hinreicht, würde längerfristig betrachtet somit letztlich ein quasi-Stillstand des gesamten Staatswesens resultieren. Dem Demokratieprinzip des Art. 1 B-VG ist daher insbesondere auch angesichts einer von Verfassungs wegen fehlenden Gewaltenteilung zwischen Gesetzgebung und Verwaltung immanent, dass eine Auslegung von Rechtsvorschriften anhand der Gesetzesmaterialien nur so lange zulässig ist, als diese nicht den prinzipiellen rechtspolitischen Zielsetzungen der aktuell politisch Führungsverantwortlichen, wie bzw. sofern diese insbesondere in Regierungsprogrammen ihren Ausdruck finden, zuwiderlaufen.

* In § 1 Abs. 2 Z. 2 OöKBBG ist als eine der wesentlichen Zielsetzung dieses Gesetzes festgelegt, dadurch eine Verbesserung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf und dadurch die faktische Gleichbehandlung und Gleichstellung der Geschlechter zu ermöglichen; diesem Ziel kommt daher jedenfalls Vorrang vor jenem – im Übrigen in § 1 Abs. 2 OöKBBG gar nicht genannten – Bestreben nach möglichst kostendeckender Führung einer gemeindeeigenen Kinderbetreuungseinrichtung zu;

* Mit dem OöKBBG ist – anderes als im Schulrecht – kein Sprengelsystem eingerichtet; vielmehr können sich die Eltern bei Vorliegen der gesetzlich vorgesehenen Bedingungen (Nichtbestehen einer Betreuungsmöglichkeit in der Gemeinde ihres Wohnsitzes oder Erforderlichkeit aufgrund der familiären Situation bzw. des Kindeswohles) auch für eine im Gebiet einer anderen Gemeinde gelegene Betreuungseinrichtung entscheiden (Wahlfreiheit; vgl. § 12 Abs. 2 iVm § 28 OöKBBG);

* Der in § 28 OöKBBG festgelegten Verpflichtung der Hauptwohnsitzgemeinde, jener Gemeinde, in deren Einrichtung das Kind tatsächlich betreut wird, einen Gastbeitrag zu leisten, kommt einerseits gleichsam die Funktion einer Pönale bzw. positiv formuliert: eines Anreizes dahin zu, die künftige Errichtung einer eigenständigen Betreuungsstätte wohlwollend im Auge zu behalten. Andererseits dient der Gastbeitrag in den Fällen, in denen aus familiären Gründen oder im Interesse des Kindeswohles die hauptwohnsitzfremde Einrichtung besucht wird, offenkundig als Ausgleichsinstrument dafür, dass – vor dem Hintergrund, dass beide Gemeinden eine Landesförderung erhalten – im Ergebnis für die Hauptwohnsitzgemeinde de facto ein vergleichsweise niedrigerer, die Trägergemeinde der Betreuungseinrichtung hingegen einen relativ höheren Aufwand resultiert. Das „Risiko“ der Auslegung der in § 28 Abs. 1 OöKBBG normierten unpräzisen, sich freilich an den in § 1 OöKBBG festgelegten Zielen zu orientieren habenden Gesetzesbegriffe trägt jeweils die aufnehmende Gemeinde.

* Eine Erforderlichkeit aufgrund der familiären Situation und/oder im Interesse des Kindeswohles iSd § 28 Abs. 1 OöKBBG liegt vor, wenn einerseits der Vater des Kindes während der Woche an einem derart weit entfernt gelegenen Arbeitsort tätig ist, sodass er nicht täglich an seinen Wohnsitz zurückkehren kann, und andererseits die Mutter des Kindes ebenfalls berufstätig und sowohl deren Arbeitsstelle als auch die Kinderbetreuungseinrichtung und die von ihren übrigen beiden Kindern besuchte Sprengelschule im Gebiet einer anderen als der Wohnsitzgemeinde liegen und daher zeitlich günstiger erreichbar sind, sodass im konkreten Fall insgesamt die Erreichung der Zielsetzung des § 1 Abs. 2 Z. 2 OöKBBG gewährleistet ist.

* Feststellung des Bestehens eines Anspruches zugunsten der die von den Eltern gewählte Betreuungseinrichtung tragenden Gemeinde gegenüber der Hauptwohnsitzgemeinde dem Grunde nach.

Schlagworte

Demokratie; Auslegung, Interpretation, Gesetzesmaterialien; Gewaltenteilung; Regierungsziele; Diskriminierung; Frauenförderung; Kinderbetreuung; freie Wahl der Betreuungseinrichtung; Kindergarten; Kostentragung der Gemeinde; Doppelfunktion des Gastbeitrages; Interpretationsrisiko; familiäre Situation; Kindeswohl

Anmerkung

Alle Entscheidungsvolltexte sowie das Ergebnis einer gegebenenfalls dazu ergangenen höchstgerichtlichen Entscheidung sind auf der Homepage des Oö LVwG www.lvwg-ooe.gv.at abrufbar.

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:LVWGOB:2019:LVwG.250144.2.Gf.RoK

Zuletzt aktualisiert am

27.08.2019
Quelle: Landesverwaltungsgericht Oberösterreich LVwg Oberösterreich, http://www.lvwg-ooe.gv.at
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