Entscheidungsdatum
18.06.2019Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W102 2176634-1/8E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Werner ANDRÄ als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX (alias XXXX ), StA. Afghanistan, vertreten durch ARGE Rechtsberatung - Diakonie Flüchtlingsdienst, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Wien, vom 16.10.2017, Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 10.09.2018 zu Recht erkannt:
A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG
2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer, afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken, reiste unter Umgehung der Grenzkontrollen in die Republik Österreich ein und stellte am 27.10.2015 erstmals im Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.
Im Rahmen der Erstbefragung am 27.10.2015 gab der Beschwerdeführer zum Fluchtgrund befragt im Wesentlichen an, sein Bruder sei vier Jahre zuvor aufgrund seiner Tätigkeit als Fahrer für ein hohes Regierungsmitglied bedroht worden. Daher habe die ganze Familie nach Pakistan flüchten müssen.
In der niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 12.10.2017 führte der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen auf das Wesentliche zusammengefasst aus, dass sein Bruder Chauffeur für XXXX gewesen sei. Die Familie sei mit dem Tod bedroht worden und sei deshalb nach Pakistan gegangen.
2. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid vom 16.10.2017, zugestellt am 18.10.2017, wies die belangte Behörde den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) sowie hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten § 8 Abs. 1 AsylG iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG ab (Spruchpunkt II.), erteilte dem Beschwerdeführer keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG, erließ gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG und stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.). Begründend führte die belangte Behörde aus, der Beschwerdeführer habe keine konkrete und individuelle Bedrohung vorgebracht und sei, weil er zu seinem Geburtsdatum falsche Angaben gemacht habe, persönlich unglaubwürdig.
3. Gegen den oben dargestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.10.2017 richtet sich die am 15.11.2017 bei der belangten Behörde eingelangte vollumfängliche Beschwerde, in der ausgeführt wird, der Beschwerdeführer werde von den Taliban bedroht, weil ihm von diesen eine gegen sie gerichtete politische Gesinnung unterstellt werde. Dem Bruder sei Asyl zuerkannt worden. Auch wegen des Aufenthaltes in Pakistan bzw. dem Iran drohen ihm Verfolgung. Der Beschwerdeführer sei nicht zu seiner westlichen Einstellung befragt worden. Auch wegen der Volksgruppenzugehörigkeit und Gesinnung erfülle der Beschwerdeführer ein UNHCR-Risikoprofil. Das Vorbringen sei stringent und detailliert. Staatlicher Schutz bestehe nicht. Vorgelegt wurde auch die Niederschrift des Bundesasylamtes zum Antrag des Bruders des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz.
Das Bundesverwaltungsgericht führte zur Ermittlung des entscheidungswesentlichen Sachverhaltes am 10.09.2018 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an der der Beschwerdeführer, seine bevollmächtigter Rechtsvertreter und eine Dolmetscherin für die Sprache Dari teilnahmen. Die belangte Behörde verzichtete auf die Teilnahme.
Im Zuge der mündlichen Verhandlung wurde der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen befragt und hielt sein Vorbringen, er werde wegen der Tätigkeit des Bruders als Fahrer für XXXX und wegen der Weigerung des Bruders, die Taliban bei dessen Ermordung zu unterstützen, im Wesentlichen aufrecht.
Der Beschwerdeführer legte im Lauf des Verfahrens folgende Dokumente vor:
* Einstellungszusagen
* Besuchsbestätigungen für Deutschkurse
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zu Person und Lebensumständen des Beschwerdeführers
Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch angeführten Namen, geboren spätestens am XXXX in XXXX und ist Staatsangehöriger der Islamischen Republik Afghanistan, Angehöriger der Volksgruppe der Tadschiken und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Die Muttersprache des Beschwerdeführers ist Dari.
Der Beschwerdeführer ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
Der Beschwerdeführer stammt aus XXXX , wo er vier Jahre die Schule besuchte. Im Jahr 2011 reiste der Beschwerdeführer mit seiner Familie nach Pakistan aus, wo der Beschwerdeführer diverse Hilfstätigkeiten verrichtete und in einer Bäckerei arbeitete.
Die Familie des Beschwerdeführers bestehend aus seinen Eltern und zwei jüngeren Brüdern lebt unverändert in Pakistan. Zu ihnen besteht Kontakt.
Der Bruder des Beschwerdeführers hält sich seit dem Jahr 2011 im Bundesgebiet auf. Ihm wurde mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13.05.2015 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Der Bruder des Beschwerdeführers war im Jahr 2011 als Chauffeur für XXXX tätig und wurde von einem Bekannten, der Mitglied der Taliban war, aufgefordert, einen Anschlag auf XXXX zu verüben. Der Bruder des Beschwerdeführers verweigerte auch nach mehrmaliger Aufforderung die Zusammenarbeit und verriet den geplanten Anschlag an seinen Arbeitgeber. Dies zog zumindest die Verhaftung des Bekannten durch die afghanische Polizei nach sich. Daraufhin wurde der Bruder des Beschwerdeführers telefonisch bedroht und in XXXX auf der Straße angegriffen.
Darum reiste die gesamte Familie nach Pakistan aus.
Im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat drohen dem Beschwerdeführer Übergriffe bis hin zur Tötung durch die Taliban aufgrund von Sippenhaftung, weil er Bruder eines "Verräters" in den Augen der Taliban ist.
Der Beschwerdeführer kann sich den ihm drohenden Übergriffen nicht durch Niederlassung in einem anderen Landesteil entziehen. Dass die afghanischen Behörden den Beschwerdeführer vor Übergriffen der Taliban schützen können, ist nicht zu erwarten.
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zu Person und Lebensumständen des Beschwerdeführers
Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers, seiner Staatsangehörigkeit und Herkunft, seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, sowie seinen Sprachkenntnissen ergeben sich aus seinen gleichbleibenden und glaubwürdigen Angaben vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, in der Beschwerde sowie in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht. Auch die belangte Behörde ging in ihrem Bescheid bereits von der Glaubwürdigkeit der diesbezüglichen Angaben des Beschwerdeführers aus.
Das festgestellte spätestmögliche Geburtsdatum ergibt sich aus dem medizinischen Sachverständigengutachten zur Volljährigkeitsbeurteilung, dem der Beschwerdeführer nicht auf gleicher fachlicher Ebene entgegengetreten ist.
Die Feststellung zur Unbescholtenheit des Beschwerdeführers ergibt sich aus dem im Akt einliegenden aktuellen Strafregisterauszug.
Die Feststellung zum Verbleib der Familienangehörigen des Beschwerdeführers ergeben sich aus dessen gleichbleibenden Angaben im gesamten Verfahren.
Die Feststellung dazu, dass dem Bruder des Beschwerdeführers mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 13.05.2015 der Status des Asylberechtigten zuerkannt worden ist, ergibt sich aus dem Akt zum Verfahren des Bruders, in den das Bundesverwaltungsgericht Einsicht genommen hat. Der seitherige Aufenthalt des Bruders im Bundesgebiet ergibt sich daraus, dass Hinweise auf eine zwischenzeitige Ausreise im Lauf des Verfahrens nicht hervorgekommen sind. Insbesondere lässt sich im Zentralen Melderegister, in das das Bundesverwaltungsgericht Einsicht genommen hat, eine durchgehende aufrechte Meldung des Bruders im Bundesgebiet entnehmen.
Zur Glaubhaftigkeit des festgestellten Verwandtschaftsverhältnisses zwischen dem Beschwerdeführer und seinem Bruder ist auszuführen, dass der Bruder den Beschwerdeführer bereits in seinem Verfahren im Zuge seiner Einvernahme vor dem Bundesasylamt am 24.02.2012 als in Pakistan aufhältigen Angehörigen aufzählt. Auch der Beschwerdeführer nannte im gesamten Verfahren durchgehend seinen Bruder als in Österreich mit dem Status des Asylberechtigten aufhältigen Verwandten. Übereinstimmend sind auch die Angaben zur letzten Andresse der Familie in XXXX , sowie die Angaben zum Zeitpunkt der Ausreise nach Pakistan. Auch die Angehörigen der Kernfamilie stimmen in den Angaben beider konsistent und gleichbleibend überein
2.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers
Die Feststellungen zu den Gründen für die Ausreise aus dem Herkunftsstaat basieren auf dem rechtskräftigen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgericht vom 13.05.2015, W122 425539-1, mit dem dem Bruder des Beschwerdeführers der Status des Asylberechtigten zuerkannt wurde.
Dazu, dass der Beschwerdeführer aufgrund seines Verwandtschaftsverhältnisses zum Bruder im Wege der Sippenhaftung in diese Gefährdung einbezogen wird, ist den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018 (in der Folge UNHCR-Richtlinien; Abschnitt III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel A. Riskoprofile, Unterkapitel 1. Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung und der internationalen Gemeinschaft einschließlich der internationalen Streitkräfte verbunden sind oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen, Buchstabe k) Familienangehörige von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich mit der Regierung oder mit der internationalen Gemeinschaft verbunden sind, oder diese tatsächlich oder vermeintlich unterstützen, S. 54 f.) zu entnehmen, dass es zu Angriffen auf Familienangehörige von "Unterstützern" der Regierung durch Regierungsfeindliche Kräfte kommt, die als Vergeltungsmaßnahme nach dem Prinzip der Sippenhaft erfolgen. Es komme zu Schikanen, Entführungen, Gewalt und Tötung. Vor diesem Hintergrund erscheint das Vorbringen des Beschwerdeführers, auch ihm drohe Verfolgung wegen der beruflichen Tätigkeit des Bruders und wegen des "Verrates" in Augen der Taliban damit plausibel.
Dazu, dass sich der Beschwerdeführer dieser Gefährdung nicht durch Niederlassung in einem anderen Staatsteil entziehen kann, ist auszuführen, dass es sich bei XXXX - jenem Mann, für den der Bruder gearbeitet und bezüglich dessen der Bruder Attentatspläne verraten und vereitelt hat - um eine bekannte Person des öffentlichen Lebens handelt, die als Talibangegner und Regierungsvertreter schon bisher im Fokus der Öffentlichkeit und auch der Taliban stand und angesichts ihrer aktuellen politischen Aktivitäten (Kandidatur als XXXX im aktuellen XXXX , davor XXXX ) voraussichtlich weiterhin im Fokus stehen wird. Unter Berücksichtigung des grundsätzlich landesweiten Wirkungsradius der Taliban (vgl. UNHCR-Richtlinien; Abschnitt III. Internationaler Schutzbedarf, Kapitel C. Interne Flucht-, Neuansiedelungs- oder Schutzalternative, Unterkapitel 1. Analyse der Relevanz, S. 120 ff.), zieht das Bundesverwaltungsgericht die große Bekanntheit des ursprünglichen Anschlagszieles in Erwägung und geht dadurch bedingt von einem in Relation zu anderen Angehörigen von Personen, die tatsächlich oder vermeintlich die Regierung unterstützen, von einem deutlich erhöhten tatsächlichen Verfolgungsrisikos aus sowie davon, dass die Gefahr, dass die Taliban ihre Zugriffsmöglichkeiten in Großstädten tatsächlich dafür nützen könnten, den Beschwerdeführer anzugreifen, groß ist. Folglich ist nicht zu erwarten, dass der Beschwerdeführer sich der Bedrohung durch Niederlassung in einem anderen Landesteil entziehen kann.
Die Feststellung, dass die afghanischen Behörden den Beschwerdeführer vor Übergriffen der Taliban nicht schützen können, gründet sich insbesondere auf die Berichtslage zur Menschenrechtslage, zur mangelnden Effizient und Zuverlässigkeit der Sicherheitsbehörden, sowie zum mangelnden Rechtsschutz im Herkunftsstaat. Dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Afghanistan, Gesamtaktualisierung am 29.06.2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 26.03.2019 (in der Folge Länderinformationsblatt) lässt sich entnehmen, dass eine Missachtung der Rechtsstaatlichkeit sowie Straffreiheit im Fall von Menschenrechtsverletzungen in Afghanistan weit verbreitet sind (Kapitel 10. Allgemeine Menschenrechtslage). Auch berichtet wird von weitverbreiteter Korruption und Drohungen gegen Richter oder Bestechungen sowie davon, dass das kodifizierte Recht unterschiedlich eingehalten und Gerichte gesetzliche Vorschriften häufig zugunsten der Scharia oder lokaler Gepflogenheiten missachten (Kapitel 4. Rechtsschutz/Justizwesen). Damit übereinstimmend berichten auch die UNHCR-Richtlinien von einem Klima der Straflosigkeit, davon, dass die Täter von Menschenrechtsverletzungen selten zur Rechenschaft gezogen werden, von Korruption, Machtmissbrauch und Erpressung (Abschnitt II. Überblick über die Situation in Afghanistan, Kapitel C. Die Menschenrechtssituation, 2. Die Fähigkeit und Bereitschaft des Staates, Zivilisten vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen, S. 34 f.) Demnach kann der Beschwerdeführer zu seinem Schutz nicht auf ein funktionierendes Justizwesen zurückgreifen.
Zur Seriosität und Plausibilität der herangezogenen Informationsquellen zur Lage im Herkunftsstaat ist darauf hinzuweisen, dass die Staatendokumentation des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl nach § 5 Abs. 2 BFA-VG verpflichtet ist, gesammelte Tatsachen nach objektiven Kriterien wissenschaftlich aufzuarbeiten und in allgemeiner Form zu dokumentieren, womit die länderkundlichen Informationen, die sie zur Verfügung stellt, einen qualitätssichernden Objektivierungsprozess für die Gewinnung von Informationen zur Lage im Herkunftsstaat durchlaufen. Auch stammen die im Länderinformationsblatt zitierten Unterlagen von angesehen Einrichtungen. Außerdem ist den UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes besondere Beachtung zu schenken (VwGH 23.01.2019, Ra 2018/18/0521 mwN). Auch hebt Art 10 Abs. 1 lit. b) Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes die Bedeutung von UNHCR durch dessen explizite Nennung als Quelle für Herkunftslandinformationen besonders hervor (Vgl. auch VwGH 13.12.2018, Ra 2018/18/0533). Das Bundesverwaltungsgericht stützt seine Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat und seine Beweiswürdigung zu den Fluchtgründen daher auf die angeführten Quellen, wobei einer Beweiswürdigung im Detail oben erfolgt ist.
3. Rechtliche Beurteilung:
3.1. Zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers
Gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (in der Folge AsylG) ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht, dem Fremden keine innerstaatliche Fluchtalternative gemäß § 11 AsylG offen steht und dieser auch keinen Asylausschlussgrund gemäß § 6 AsylG gesetzt hat.
Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht einer Person, wenn sie sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb des Herkunftsstaates befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.
Nach der ständigen Rechtsprechung des VwGH kommt einer von Privatpersonen bzw. privaten Gruppierung ausgehenden, auf einem Konventionsgrund beruhenden Verfolgung Asylrelevanz zu, wenn der Staat nicht gewillt oder nicht in der Lage ist, diese Verfolgungshandlungen hintanzuhalten (VwGH 08.09.2015, Ra 2015/18/0010 mwN).
Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Entscheidend für die Frage, ob eine ausreichend funktionierende Staatsgewalt besteht, ist vielmehr, ob für einen von dritter Seite Verfolgten trotz staatlichen Schutzes der Eintritt eines - asylrelevante Intensität erreichenden - Nachteiles aus dieser Verfolgung mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten ist (VwGH 30.08.2018, Ra 2017/18/0119 mwN).
Für die Asylgewährung kommt es nach der ständigen Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinne der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Nicht zwingend erforderlich ist, dass der Betroffene bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde ("Vorverfolgung"). Insbesondere reicht "Vorverfolgung" für sich genommen nicht aus, weil entscheidend ist, dass der Betroffene im Zeitpunkt der Entscheidung weiterhin mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste (zuletzt VwGH 25.09.2018, Ra 2017/01/0203).
Der VwGH hat in seiner Rechtsprechung den Familienverband als "soziale Gruppe" gemäß Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK anerkannt. Verfolgung kann daher schon dann Asylrelevanz zukommen, wenn ihr Grund in der bloßen Angehörigeneigenschaft des Asylwerbers, somit in seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe iSd Art. 1 Z 2 GFK, etwa jener der Familie liegt (Vgl. VwGH vom 13.11.2014, Ra 2014/18/0011 mwN).
Wie festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt konnte der Beschwerdeführer glaubhaft machen, dass er aufgrund seiner Eigenschaft als Angehöriger des Bruders im Wege der Sippenhaftung durch die Taliban in die gegen den Bruder gerichtete Verfolgung einbezogen wird. Damit konnte er glaubhaft machen, dass ihm im Fall der Rückkehr in den Herkunftsstaat im Sinne der oben zitierten Judikatur Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe des Bruders durch Privatpersonen droht.
Zur mangelnden Schutzfähigkeit im Sinne der oben zitierten Judikatur ist dem festgestellten Sachverhalt zu entnehmen, dass der Beschwerdeführer Schutz der afghanischen Behörden vor Übergriffen der Taliban nicht zu erwarten hat.
3.2. Zum Nichtvorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative
Nach § 3 Abs. 3 Z 1 AsylG ist der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht.
Schutz ist gewährleistet, wenn in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates keine wohlbegründete Furcht nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention vorliegen kann und die Voraussetzungen zur Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG in Bezug auf diesen Teil des Herkunftsstaates nicht gegeben sind.
Wie festgestellt und beweiswürdigend ausgeführt kann sich der Beschwerdeführer Übergriffen durch die Taliban nicht durch Niederlassung in einem anderen Landesteil entziehen. Eine innerstaatliche Fluchtalternative steht ihm damit nicht zur Verfügung.
3.3. Zur Nichtanwendbarkeit des § 3 Abs. 4 AsylG idF BGBl. I Nr. 24/2016
Der Vollständigkeit halber wird angemerkt, dass § 3 Abs 4 AsylG idF BGBl. I Nr. 24/2016 - demzufolge eine Aufenthaltsberechtigung als Asylberechtigter zunächst befristet für drei Jahre zukommt - nach § 75 Abs. 24 AsylG auf Fremde, die einen Antrag auf internationalen Schutz vor dem 15.11.2015 gestellt haben, nicht anzuwenden. Nachdem der Beschwerdeführer seinen Antrag auf internationalen Schutz am 27.10.2015 gestellt hat, ist § 3 Abs. 4 AsylG idF BGBl. I Nr. 24/2016 daher nicht anzuwenden.
Nachdem im Verfahren keine Anhaltspunkte für das Vorliegen von Asylausschlussgründen gemäß § 6 AsylG hervorgekommen sind, war dem Beschwerdeführer gemäß § 3 Abs. 1 AsylG der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG war die Entscheidung über die Asylgewährung mit der Feststellung zu verbinden, dass dem Beschwerdeführer damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
4. Unzulässigkeit der Revision:
Die Revision ist nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG abhängt. Das Bundesverwaltungsgericht folgt in seiner rechtlichen Beurteilung der Asylrelevanz des Fluchtvorbringens des Beschwerdeführers unter
A) zitierten ständigen Rechtsprechung, wobei für die danach
notwendigen Sachverhaltsfeststellungen ausschließlich beweiswürdigende Erwägungen maßgebend waren.
Schlagworte
asylrechtlich relevante Verfolgung, private Verfolgung,European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2019:W102.2176634.1.00Zuletzt aktualisiert am
27.08.2019