RS Vfgh 2019/6/18 E5004/2018

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Veröffentlicht am 18.06.2019
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Index

L4000 Anstandsverletzung, Bettelei, Ehrenkränkung, Lärmerregung

Norm

EMRK Art10
Wr Landes-SicherheitsG §1 Abs1
VfGG §7 Abs1

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Freiheit der Meinungsäußerung durch Verhängung einer Verwaltungsstrafe auf Grund Schwenkens einer Fahne mit der Aufschrift "A.C.A.B." – all cops are bastards – bei einem Fußballmatch mangels Vorliegens einer Anstandsverletzung; Unverhältnismäßigkeit der Bestrafung wegen nicht ausreichender Beachtung der Art und Umstände der Äußerung

Rechtssatz

Die Äußerung einer Meinung als solche kann, sofern sie nicht aus anderen - zulässigen - Gründen verpönt ist, grundsätzlich keine Anstandsverletzung sein. Wird hingegen die Meinung in einer Art und Weise in der Öffentlichkeit geäußert, die die Grenzen des Anstandes in einer Weise überschreitet, die einen Eingriff im Interesse der Aufrechterhaltung der Ordnung zwingend erscheinen lässt, kann eine Bestrafung wegen Anstandsverletzung zulässig sein.

Das Verwaltungsgericht Wien (VGW) bezieht sich in seiner Entscheidung in erster Linie auf Entscheidungen des VwGH, der den Tatbestand der Verletzung des öffentlichen Anstandes durch ein Verhalten erfüllt erachtet, das mit den allgemeinen Grundsätzen der Schicklichkeit nicht in Einklang steht und das einen groben Verstoß gegen diejenigen Pflichten darstellt, die jedermann in der Öffentlichkeit zu beachten hat. Der VfGH hat jedoch stets - in Ergänzung - darauf hingewiesen, dass es bei der Beurteilung des tatbestandsmäßigen Verhaltens nicht bloß auf den Wortlaut einer Äußerung allein ankommt, sondern auch auf Art und Umstand der Äußerung, also wie und wo welche Öffentlichkeit und von wem diese Öffentlichkeit mit dieser Meinung konfrontiert wird (vgl VfSlg 10700/1985).

Der hier bekämpften Entscheidung liegt eine Bestrafung wegen Schwenkens einer Fahne, nämlich eines mehrere Quadratmeter großen Transparentes, mit dem Aufdruck ACAB während eines Fußballspieles in einem Stadion zugrunde. Das Schwenken des Transparentes sollte primär auf das angespannte Verhältnis zwischen manchen Fußballfans und der Polizei hinweisen und die ablehnende Haltung gegenüber dem Stand der Polizei als Teil der staatlichen Ordnungsmacht zum Ausdruck bringen. Das Schwenken dieses Transparentes stellt keine konkrete "Beschimpfung" bestimmter anderer Personen, hier Polizeibeamter, dar.

Bedenkt man hier die in der Rsp entwickelten Kriterien, übersieht das VGW, dass das Hochhalten von derartigen Transparenten bei einem Fußballspiel durch Fans - sofern nicht anderes Verhalten ohnehin durch andere Normen (vgl insb §39 Abs2 iVm §40 PyrotechnikG 2010, §82 SicherheitspolizeiG, ArtIII Z3 und Z4 EGVG sowie das VerbotsG) strafbewehrt ist - jedenfalls in einer Gesamtsicht nicht geeignet ist, den Tatbestand der Anstandsverletzung zu erfüllen. Diese im Fußballstadion so geäußerte Kritik ist mit Blick auf die in einer demokratischen Gesellschaft besondere Bedeutung und Funktion der Meinungsäußerungsfreiheit bei Beachtung aller Umstände des Falles hinzunehmen.

Entscheidungstexte

Schlagworte

Meinungsäußerungsfreiheit, Anstandsverletzung, Sicherheitspolizei, Strafe (Verwaltungsstrafrecht)

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:2019:E5004.2018

Zuletzt aktualisiert am

06.08.2020
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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