TE Bvwg Erkenntnis 2019/6/19 W128 2196705-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 19.06.2019
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Entscheidungsdatum

19.06.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs2
AsylG 2005 §3 Abs5
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W128 2196705-1/22E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Michael FUCHS-ROBETIN als Einzelrichter über die Beschwerde des afghanischen Staatsangehörigen XXXX geboren am XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 30.03.2018, Zl. 1070574310-150549536, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 13.11.2018, zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX wird gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG) der Status des Asylberechtigten zuerkannt.

Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG wird festgestellt, dass XXXX kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der XXXX geborene Beschwerdeführer, ein afghanischer Staatsangehöriger (nunmehr) ohne Glaubenszugehörigkeit und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara, reiste (spätestens) am 22.05.2015 illegal in das Bundesgebiet ein und brachte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz ein.

Dazu gab er zusammengefasst Folgendes an: Er sei im Iran geboren und aufgewachsen. Sein Vater sei drogensüchtig; die iranische Regierung und sein Vater hätten gewollt, dass er nach Syrien "in den Krieg" gehen solle. Dies habe er verweigert. Im Falle einer Rückkehr habe er Angst vor seinem Vater.

In Folge legte der Beschwerdeführer einen Obsorgebeschluss des Bezirksgerichts XXXX vom 19.10.2015 vor.

2. Aufgrund von Zweifeln an der behaupteten Minderjährigkeit des Beschwerdeführers wurde die Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens zur Altersfeststellung vorgesehen. Basierend auf dem medizinischen Gutachten vom 19.08.2015 wurde die Volljährigkeit des Beschwerdeführers festgestellt und als Geburtsdatum der XXXX festgesetzt.

3. Bei seiner Einvernahme vor dem BFA am 15.01.2018 gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen Folgendes an:

Im Iran habe er die Schule bis zur achten Klasse besucht und danach in einer Zementfabrik, Schuhfabrik sowie als Bauarbeiter gearbeitet und habe hin und wieder Gelegenheitsjobs angenommen. Er sei geborener "Moslem, Schiit; aber kein praktizierender Moslem". Seine Fluchtgründe würden sich ausschließlich auf den Iran beziehen, in Afghanistan habe er sich noch nie aufgehalten. Seine Familie lebe seit ca. 25 bis 30 Jahren im Iran, wo er eine Aufenthaltsberechtigung gehabt habe, die jedoch nicht mehr verlängert worden sei. Im Iran würden afghanische Migranten nicht gut behandelt. Die iranische Regierung führe eine Liste, in die man sich einschreiben könne, um an Kampfhandlungen im syrischen Bürgerkrieg teilnehmen zu können. Sein Vater habe den Namen des Beschwerdeführers auf diese Liste gesetzt. Etwas später habe seine Mutter davon erfahren, woraufhin diese seinen Onkel kontaktiert habe, welcher die Flucht des Beschwerdeführers organisiert habe.

Weiters habe er vor drei Jahren eine Beziehung zur Tochter eines "Seyed" gehabt. Die Seyed seien schiitische Iraner und würden sich als direkte Nachkommen des Propheten Mohammed sehen. Nach jahrelanger Bekanntschaft sei er mit ihr eine Beziehung eingegangen. Eines Tages habe er einen Film von sich und seiner Freundin beim Geschlechtsverkehr angefertigt. Dieses "Tape" habe die Familie seiner Freundin zu Gesicht bekommen, woraufhin der Vater und der Bruder seiner Freundin zu ihm nachhause gekommen seien und nach dem Beschwerdeführer gesucht hätten. Die Anhänger der "Seyed" heiraten vorwiegend untereinander; wer eine außereheliche Beziehung eingehe, sei ein "Kafar". Er sei daher auch im Iran nicht mehr in Sicherheit.

Der Beschwerdeführer sei noch nie in Afghanistan gewesen; er wisse jedoch, dass Schiiten und Hazara in Afghanistan nicht gut behandelt würden. In Afghanistan habe er "niemanden". Er leide an Schlafstörungen und nehme Medikamente ein.

Sein Vater, seine drei Brüder und seine Schwester hielten sich nach wie vor im Iran auf. Seine Mutter sei vor etwa zwei Monaten eines natürlichen Todes gestorben. In Österreich lebe er in einem Heim, besuche Deutsch- und Englischkurse. Er spiele Fußball und Futsal in einem Verein und besuche Malkurse an der Universität.

In Folge legte der Beschwerdeführer seinen österreichischen Studentenausweis, sein Studienblatt vom 16.03.2016, Lehrveranstaltungszeugnisse der Akademie der bildenden Künste vom 25.01.2017 und 04.06.2016, Studienbestätigungen, ein Deutschkurszertifikat A2 von Österreich Schweiz Deutschland vom 02.02.2017, einen psychiatrischen Befundbericht des psychosozialen Zentrums vom 08.01.2018 und ein Konvolut zahlreicher Kursbesuchsbestätigungen sowie Empfehlungsschreiben vor.

4. Mit dem angefochtenen Bescheid wies das BFA den Antrag des Beschwerdeführers sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchteil I.) als auch des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 i.V.m. § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchteil II.) ab. Unter einem sprach das BFA aus, dass dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt werde (Spruchteil III.), gegen ihn gestützt auf § 52 Abs. 2 Z 2 FPG, § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG und § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) eine Rückkehrentscheidung erlassen werde (Spruchteil IV.) sowie gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt werde, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchteil V.). Gemäß § 55 Abs. 1a FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchteil VI.).

Begründend führte das BFA Folgendes aus:

Der Beschwerdeführer sei afghanischer Staatsangehöriger, schiitischen Glaubens und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Er sei ledig und habe keine Kinder. Seine Muttersprache sei Dari, er spreche auch fließend Farsi. Der Beschwerdeführer leide seit dem Ableben seiner Mutter an Schlafstörungen und an einer posttraumatischen Belastungs- sowie einer depressiven Störung. Er habe im Iran acht Jahre die Schule besucht. Danach habe er in einer Zementfabrik und als Bauarbeiter gearbeitet sowie hin und wieder Gelegenheitsjobs ausgeübt. Er sei mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftslandes vertraut.

Dem Beschwerdeführer drohe keine asylrelevante Verfolgung in Afghanistan: Abgesehen davon, dass sein Vorbringen in Bezug auf die Verfolgung durch die Familie seiner ehemaligen Freundin äußert vage "ohne eine lebensnahe Geschichte" geschildert worden sei, beziehe sich dieses ausschließlich auf den Iran und entfalte daher keine Asylrelevanz. Befragt, was er im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte, habe der Beschwerdeführer angegeben, dass er noch nie in Afghanistan gewesen sei und die Taliban Hazara umbringen würden. Es hätten sich jedoch keine konkreten Anhaltspunkte dafür ergeben, dass der Beschwerdeführer als Angehöriger der Volkgruppe der Hazara und Zugehöriger der schiitischen Religionsgemeinschaft aktuell oder künftig einer asylrelevanten Verfolgung in Afghanistan ausgesetzt wäre. Auch der sogenannte "Islamische Staat" (IS) sei nur regional tätig und es würden Sicherheitsleute gegen den IS vorgehen. Bei seiner Erstbefragung habe der Beschwerdeführer weiters angegeben, dass er im Falle einer Rückkehr Angst vor seinem Vater habe. Dazu sei festzuhalten, dass sich der Vater des Beschwerdeführers nach wie vor im Iran aufhalte; in Afghanistan gebe es jedoch kein Melderegister und es handle sich um eine private Auseinandersetzung.

Zur Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten sei festzuhalten, dass sich der Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr als volljähriger, arbeitsfähiger und junger Mann mit achtjähriger Schulbildung und Berufserfahrung selbst versorgen könne. Seine psychische Erkrankung sei in Kabul medizinisch behandelbar. So würden notwenige Medikamente und psychiatrische Einrichtungen zur Verfügung stehen. Weiters könne ihn sein Onkel, der die Ausreise nach Europa finanziert habe, finanziell unterstützen. Es könne somit nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Fall einer Rückkehr nach Kabul in eine existenzgefährdende Notlage geraten würde, weshalb ihm kein subsidiärer Schutz zu gewähren sei. Kabul sei über den internationalen Flughafen sicher erreichbar. Zudem stehe es dem Beschwerdeführer frei sich in anderen sicheren Regionen Afghanistans wie Herat Stadt oder Mazar-e-Sharif niederzulassen.

Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen sei dem Beschwerdeführer nicht zu erteilen, da keiner der in § 57 AsylG genannten Gründe zutreffen würde.

Zur Rückkehrentscheidung sei festzuhalten, dass keine Integrationsverfestigung festgestellt werden könne. Der Beschwerdeführer habe keine Familienangehörigen oder Verwandte im Bundesgebiet. Es liege daher kein schützenswertes Familienleben in Österreich vor. Auch halte sich der Beschwerdeführer erst seit einem kurzen Zeitraum im österreichischen Bundesgebiet auf und er habe keine hervorzuhebenden integrativen Schritte gesetzt. So sei deutlich auf die höchstgerichtliche Judikatur zu verweisen, wonach selbst bei weitreichenden Integrationsschritten ein etwa dreijähriger Aufenthalt als nicht ausreichend erachtet werde, um eine Ausweisung für dauerhaft unzulässig zu erklären. Der Integrationswille des Beschwerdeführers sei daher nicht über die öffentlichen Interessen (illegale Einreise) einer geordneten Zuwanderung zu stellen.

Eine Abschiebung nach Afghanistan sei zulässig, da keine der in Art. 2 oder 3 EMRK garantierten Rechte oder die Protokolle Nr. 6 und 13 zur EMRK verletzt würden.

Sohin sei der Beschwerdeführer zu einer freiwilligen Ausreise binnen 14 Tagen ab Rechtskraft des Bescheides verpflichtet.

5. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde, in welcher zusammengefasst Folgendes vorbracht wurde:

Das BFA habe festgestellt, dass der Beschwerdeführer mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftslandes vertraut sei, da er in einer afghanischen Familie und somit in einem afghanischen Kontext aufgewachsen sei. Dem sei zu entgegnen, dass der Beschwerdeführer im Iran geboren und aufgewachsen sei und somit einerseits aufgrund der Sprache, äußerer Merkmale wie Kleidung und Erscheinungsbild leicht als "Iraner" zu identifizieren, sei, andererseits fehlten dem Beschwerdeführer jegliche Kenntnisse über die kulturellen Gepflogenheiten und sozialen Regeln in Afghanistan. Er falle daher in die von UNHRC angeführte Risikogruppe, der "verwestlicht" wahrgenommenen Personen bzw. "westlich-orientierte" Rückkehrer. Sein Vorbringen, dass er von der Familie seiner damaligen Freundin verfolgt werde, sei sehr detailliert und lebensnah geschildert worden. Der Beschwerdeführer könne sich nicht erklären, wie und ob das Video, welches ihn und seine damalige Freundin beim Geschlechtsverkehr zeige, in Umlauf geraten sei. Das Video zeuge jedoch von einem Verhältnis, dass außerehelich bzw. vorehelich geführt worden sei und welches nach islamischem Recht sowohl im Iran als auch in Afghanistan ein Verbrechen darstelle. Außerdem fürchte der Beschwerdeführer die Verbreitung der Aufnahme. Die Ausführungen zur Sicherheitslage in Afghanistan würden zeigen, dass der Beschwerdeführer überall in Afghanistan gefährdet wäre, insbesondere unter Betrachtung der besonderen individuellen Gefährdungsfaktoren (Schiite, Hazara, Rückkehrer, Sprachfärbung, Sozialisierung im Iran, psychische Erkrankung). Hätte das BFA aktuelle Länderberichte zur Situation von schiitischen Hazara in Afghanistan herangezogen, so hätte es feststellen müssen, dass diese weiterhin verfolgt und ermordet würden. Abschließend sei festzuhalten, dass der Beschwerdeführer in Österreich vorbildlich integriert sei und es würde eine Vielzahl sozialer Kontakte bestehen.

Weiters legte er einen psychiatrischen Befundbericht des psychosozialen Zentrums vom 08.05.2018 und ein Empfehlungsschreiben sowie eine Kursbesuchsbestätigung vor.

6. Mit Schreiben vom 13.09.2018 legte der Beschwerdeführer einen weiteren psychiatrischen Befundbericht des psychosozialen Zentrums vom 04.09.2018 vor.

7. Mit Schreiben vom 13.10.2018 legte der Beschwerdeführer eine ergänzende Stellungnahme vor, in der im Wesentlichen Folgendes ausgeführt wurde:

Aus den aktuellen Länderinformationen zu Afghanistan (EASO Bericht vom Juni 2018) gehe hervor, dass ehemalige Muslime mit Sanktionen zu rechnen hätten. So bestehe für den Beschwerdeführer die Gefahr einer Verfolgung, da er vom Glauben abgefallen sei. Im Falle einer Rückkehr könne vom Beschwerdeführer nicht erwartet werden, dass er sich als Muslim ausgebe. So würde dieser Umstand den Beschwerdeführer in seinen grundlegenden Rechten beschneiden und könne er sein Menschenrecht auf Religionsfreiheit nicht ausüben. Überdies handle es sich beim Beschwerdeführer um einen aufgeschlossenen, jungen Mann, welcher seine Rechte kenne und diese auch wahrnehme. Er würde im Falle einer Rückkehr nicht von seinen Ansichten abweichen.

Weiters legte der Beschwerdeführer ein Konvolut an Empfehlungsschreiben und eine Bestätigung des IGGÖ vom 18.09.2018, wonach der Beschwerdeführer kein Mitglied des IGGÖ ist, vor.

8. Am 13.11.2018 fand eine öffentliche, mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt, an der der Beschwerdeführer sowie seine Rechtsberaterin teilnahmen. Ein Vertreter des BFA ist entschuldigt (siehe Schreiben vom 09.08.2018) nicht erschienen.

9. Mit Schreiben vom 04.12.2018 legte der Beschwerdeführer den Flüchtlingsausweis seiner verstorbenen Mutter und die iranische Schulbesuchsbestätigung seines Bruders aus dem Jahr 2014/2015 vor.

Bei der Untersuchung dieser Dokumente im Rahmen der Echtheitsüberprüfung ergaben sich keine Hinweise auf das Vorliegen einer Verfälschung.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zum Beschwerdeführer

1.1.1. Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger ohne Glaubenszugehörigkeit und Angehöriger der Volksgruppe der Hazara. Er trägt den im Spruch angeführten Namen und ist in Quom, Iran, geboren. Der Beschwerdeführer hat keine Kenntnis über sein tatsächliches Geburtsdatum. Laut einem über Auftrag des BFA eingeholten gerichtsmedizinischen Gutachten wies der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt seiner Untersuchung am 07.08.2015 ein Mindestalter von 18 Jahren auf, weshalb das Geburtsdatum mit XXXX festgesetzt wurde.

Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Kinder. Er verfügt über eine achtjährige Schulbildung sowie Berufserfahrung und spricht Farsi und etwas Dari.

Der Beschwerdeführer verließ den Iran Anfang 2015; er war noch nie in Afghanistan aufhältig und kennt den Herkunftsort seiner Familie nicht. Sein Vater, seine drei Brüder und seine Schwester halten sich nach wie vor im Iran auf. Seine Mutter ist eines natürlichen Todes gestorben. Der Beschwerdeführer verfügt über keine Verwandten in Afghanistan.

Er reiste (spätestens) am 22.05.2015 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein.

Er leidet an Schlafstörungen und einer posttraumatischen Belastungsstörung sowie einer depressiven Störung.

Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan als Moslem geboren, fühlt sich jedoch keiner Religionsgemeinschaft zugehörig. Im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan besteht für den Beschwerdeführer die Gefahr, aufgrund seines Abfalls vom Islam (Apostasie) eine unmenschliche Behandlung zu erfahren. Der Beschwerdeführer versteht seine Konfessionslosigkeit als innere Überzeugung und als identitätsstiftendes Merkmal.

Der Beschwerdeführer ist strafgerichtlich unbescholten.

1.2. Zur hier relevanten Situation in Afghanistan

1.2.1. Allgemeine Sicherheitslage

Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil. Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen.

Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen.

Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren. Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF; diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu. Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen. Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder.

Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben. Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten.

Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert; auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen. Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 04.06.2019, S. 66 ff.)

1.2.2. Religionsfreiheit/Apostasie

Etwa 99.7% der Bevölkerung sind Muslime, davon sind 84.7 bis 89.7% Sunniten. Schätzungen zufolge, sind etwa 10 bis 19% der Bevölkerung Schiiten. Andere in Afghanistan vertretene Glaubensgemeinschaften wie z.B. Sikhs, Hindus, Baha¿i und Christen machen zusammen nicht mehr als 1% der Bevölkerung aus. Offiziell lebt noch ein Jude in Afghanistan.

Laut Verfassung ist der Islam die Staatsreligion Afghanistans. Anhänger anderer Religionen sind frei, ihren Glauben im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften auszuüben. Der politische Islam behält in Afghanistan die Oberhand; welche Gruppierung - die Taliban (Deobandi-Hanafismus), der IS (Salafismus) oder die afghanische Verfassung (moderater Hanafismus) - religiös korrekter ist, stellt jedoch weiterhin eine Kontroverse dar. Diese Uneinigkeit führt zwischen den involvierten Akteuren zu erheblichem Streit um die Kontrolle bestimmter Gebiete und Anhängerschaft in der Bevölkerung. Das afghanische Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist, enthält keine Definition von Apostasie. Laut der sunnitisch-hanafitischen Rechtsprechung gilt die Konversion vom Islam zu einer anderen Religion als Apostasie. Jeder Konvertit soll laut islamischer Rechtsprechung drei Tage Zeit bekommen, um seinen Konfessionswechsel zu widerrufen. Sollte es zu keinem Widerruf kommen, gilt Enthauptung als angemessene Strafe für Männer, während Frauen mit lebenslanger Haft bedroht werden. Ein Richter kann eine mildere Strafe verhängen, wenn Zweifel an der Apostasie bestehen. Auch kann die Regierung das Eigentum des/der Abtrünnigen konfiszieren und dessen/deren Erbrecht einschränken. Des Weiteren ist gemäß hanafitischer Rechtsprechung Proselytismus illegal. Dasselbe gilt für Blasphemie, die in der hanafitischen Rechtsprechung unter die Kapitalverbrechen fällt (USDOS 15.8.2017) und auch nach dem neuen Strafgesetzbuch unter der Bezeichnung "religionsbeleidigende Verbrechen" verboten ist. Zu Verfolgung von Apostasie und Blasphemie existieren keine Berichte.

Die Religionsfreiheit hat sich seit 2001 zwar verbessert, jedoch wird diese noch immer durch Gewalt und Drangsale gegen religiöse Minderheiten und reformerische Muslime behindert. Anhänger religiöser Minderheiten und Nicht-Muslime werden durch das geltende Recht diskriminiert; so gilt die sunnitisch-hanafitische Rechtsprechung für alle afghanischen Bürger/innen unabhängig von ihrer Religion (AA 5.2018). Wenn weder die Verfassung noch das Straf- bzw. Zivilgesetzbuch bei bestimmten Rechtsfällen angewendet werden können, gilt die sunnitisch-hanafitische Rechtsprechung. Laut Verfassung sind die Gerichte dazu berechtigt, das schiitische Recht anzuwenden, wenn die betroffene Person dem schiitischen Islam angehört. Gemäß der Verfassung existieren keine eigenen, für Nicht-Muslime geltende Gesetze.

Laut Verfassung soll der Staat einen einheitlichen Lehrplan, der auf den Bestimmungen des Islam basiert, gestalten und umsetzen; auch sollen Religionskurse auf Grundlage der islamischen Strömungen innerhalb des Landes entwickelt werden. Der nationale Bildungsplan enthält Inhalte, die für Schulen entwickelt wurden, in denen die Mehrheiten entweder schiitisch oder sunnitisch sind; ebenso konzentrieren sich die Schulbücher auf gewaltfreie islamische Bestimmungen und Prinzipien. Der Bildungsplan beinhaltet Islamkurse, nicht aber Kurse für andere Religionen. Für Nicht-Muslime an öffentlichen Schulen ist es nicht erforderlich, am Islamunterricht teilzunehmen. Christen berichteten, die öffentliche Meinung stehe ihnen und der Missionierung weiterhin feindselig gegenüber. Mitglieder der christlichen Gemeinschaft, die meistens während ihres Aufenthalts im Ausland zum Christentum konvertierten, würden aus Furcht vor Vergeltung ihren Glauben alleine oder in kleinen Kongregationen in Privathäusern ausüben. Hindus, Sikhs und Schiiten, speziell jene, die den ethnischen Hazara angehören, sind Diskriminierung durch die sunnitische Mehrheit ausgesetzt.

Beobachtern zufolge sinkt die gesellschaftliche Diskriminierung gegenüber der schiitischen Minderheit weiterhin; in verschiedenen Gegenden werden dennoch Stigmatisierungsfälle gemeldet. Mitglieder der Taliban und des IS töten und verfolgen weiterhin Mitglieder religiöser Minderheiten aufgrund ihres Glaubens oder ihrer Beziehungen zur Regierung. Da Religion und Ethnie oft eng miteinander verbunden sind, ist es schwierig, einen Vorfall ausschließlich durch die religiöse Zugehörigkeit zu begründen.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 04.06.2019, S. 309 ff.)

Eine Konversion vom Islam wird als Apostasie, also als Glaubensabfall betrachtet und gemäß den Auslegungen des islamischen Rechts durch die Gerichte mit dem Tode bestraft. Zwar wird Apostasie im afghanischen Strafgesetzbuch nicht ausdrücklich als Straftat definiert, sie fällt jedoch nach allgemeiner afghanischer Rechtsauffassung unter die nicht weiter definierten "ungeheuerlichen Straftaten", die laut Strafgesetzbuch nach der islamischen Hanafi-Rechtslehre bestraft werden und in den Zuständigkeitsbereich der Generalstaatsanwaltschaft fallen. Damit wird Apostasie als Straftat behandelt, obwohl nach der afghanischen Verfassung keine Handlung als Straftat eingestuft werden darf, sofern sie nicht als solche gesetzlich definiert ist. Geistig zurechnungsfähige männliche Bürger über 18 Jahren und weibliche Bürger über 16 Jahren, die vom Islam konvertieren und ihre Konversion nicht innerhalb von drei Tagen widerrufen, riskieren die Annullierung ihrer Ehe und eine Enteignung ihres gesamten Grundes und sonstigen Eigentums. Außerdem können sie von ihren Familien und Gemeinschaften zurückgewiesen werden und ihre Arbeit verlieren. Personen, die vom Islam zu einer anderen Religion übertreten, müssen Berichten zufolge um ihre persönliche Sicherheit fürchten.

Bekehrungsversuche, um Personen zum Übertritt vom Islam zu einer anderen Religion zu bewegen, sind Berichten zufolge laut der Hanafi Rechtslehre ebenfalls rechtswidrig und es stehen darauf dieselben Strafen wie für Apostasie. Berichten zufolge herrscht in der öffentlichen Meinung eine feindliche Einstellung gegenüber missionarisch tätigen Personen und Einrichtungen. Rechtsanwälte, die Angeklagte vertreten, denen Apostasie zur Last gelegt wird, können, so wird berichtet, selbst der Apostasie bezichtigt und mit dem Tod bedroht werden. In der Regel haben Beschuldigte laut Berichten indes keinen Zugang zu einem Verteidiger oder zu anderen Verfahrensgarantien.

Die Taliban haben Berichten zufolge Personen und Gemeinschaften getötet, angegriffen und bedroht, die in der Wahrnehmung der Taliban gegen islamische Grundsätze, Normen und Werte gemäß der Auslegung durch die Taliban verstoßen haben.

In Gebieten, in denen die Taliban versuchen, die lokale Bevölkerung von sich zu überzeugen, nehmen sie Berichten zufolge eine mildere Haltung ein. Sobald sich jedoch die betreffenden Gebiete unter ihrer tatsächlichen Kontrolle befinden, setzen die Taliban ihre strenge Auslegung islamischer Prinzipien, Normen und Werte durch. Es liegen Berichte über Taliban vor, die für das Ministerium der Taliban für die Förderung der Tugend und Verhinderung des Lasters tätig sind, in den Straßen patrouillieren und Personen festnehmen, weil diese sich den Bart abrasiert haben oder Tabak konsumieren. Frauen ist es Berichten zufolge nur in Begleitung ihres Ehemanns oder männlicher Familienmitglieder gestattet, das Haus zu verlassen und ausschließlich zu einigen wenigen genehmigten Zwecken wie beispielsweise einen Arztbesuch. Frauen und Männer, die gegen diese Regeln verstoßen, wurden Berichten zufolge mit öffentlichen Auspeitschungen bestraft, ja sogar getötet. In Gebieten, die von mit dem Islamischen Staat verbundenen Gruppen kontrolliert werden, wird Berichten zufolge ein sittenstrenger Lebensstil durch strikte Vorschriften und Bestrafungen durchgesetzt. Es wird berichtet, dass Frauen strenge Regeln, einschließlich Kleidungsvorschriften, und eingeschränkte Bewegungsfreiheit auferlegt wurden.

(UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2015, Punkt III.

5. c.)

Für den Vorwurf vom Glauben abgefallen, also Apostat zu sein müssen in Afghanistan nicht die in der klassischen Sharia vorgegebenen Bedingungen erfüllt sein. Es reicht oft auch die Verletzung von den jeweils geltenden religiösen und sozialen Erwartungen, denn auch soziale Umgangsformen werden in Afghanistan in der Regel religiös legitimiert. Diese Umgangsformen, alltägliches Verhalten und Habitus verändern sich jedoch häufig durch die sehr andere soziale und kulturelle Prägung während des Aufenthalts in Europa.

Typische Unterstellungen gegenüber Exilafghanen (besonders junge Männer außerhalb der Kontrolle ihrer Familien) sind außerdem Konsum von Schweinefleisch, außereheliche Beziehungen und Missachtung von rituellen Vorschriften. Mitunter basiert das auf extremen Zerrbildern des Lebens in Europa. Die Konsequenzen reichen, wie das in qualitativen Studien schon ausführlich dokumentiert ist, von sozialem Ausschluss aufgrund der Stigmatisierung bis hin zu Mord. Anzeichen von Verwestlichung erregen jedoch auch das Misstrauen der Taliban."

(ACCORD Bericht zu Afghanistan: Entwicklung der wirtschaftlichen Situation, der Versorgungs- und Sicherheitslage in Herat, Mazer-e Sharif (Provinz Balkh) und Kabul 2010-2018 vom 07.12.2018, S. 247f.)

1.2.3. Hazara

In Afghanistan leben laut Schätzungen vom Juli 2017 mehr als 34.1 Millionen Menschen. Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht. Schätzungen zufolge, sind 40% Pashtunen, rund 30% Tadschiken, ca. 10% Hazara und 9% Usbeken. Auch existieren noch andere ethnische Minderheiten, wie z.B. die Aimaken, die ein Zusammenschluss aus vier semi-nomadischen Stämmen mongolisch, iranischer Abstammung sind, sowie die Belutschen, die zusammen etwa 4 % der Bevölkerung ausmachen.

Artikel 4 der Verfassung Afghanistans besagt: "Die Nation Afghanistans besteht aus den Völkerschaften der Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Paschai, Nuristani, Aimaq, Araber, Kirgisen, Qizilbasch, Gojar, Brahui und anderen Völkerschaften. Das Wort ‚Afghane' wird für jeden Staatsbürger der Nation Afghanistans verwendet." Die afghanische Verfassung schützt sämtliche ethnische Minderheiten. Neben den offiziellen Landessprachen Dari und Paschtu wird in der Verfassung (Art. 16) sechs weiteren Sprachen ein offizieller Status in jenen Gebieten eingeräumt, wo die Mehrheit der Bevölkerung (auch) eine dieser Sprachen spricht. Diese weiteren in der Verfassung genannten Sprachen sind Usbekisch, Turkmenisch, Belutschisch, Pashai, Nuristani und Pamiri. Es gibt keine Hinweise, dass bestimmte soziale Gruppen ausgeschlossen werden. Keine Gesetze verhindern die Teilnahme der Minderheiten am politischen Leben. Nichtsdestotrotz beschweren sich unterschiedliche ethnische Gruppen keinen Zugang zu staatlicher Anstellung in Provinzen haben, in denen sie eine Minderheit darstellen.

Hazara

Die schiitische Minderheit der Hazara macht etwa 10% der Bevölkerung aus. Die Hazara besiedelten traditionell das Bergland in Zentralafghanistan, das sich zwischen Kabul im Osten und Herat im Westen erstreckt und unter der Bezeichnung Hazaradschat (azarajat) bekannt ist. Das Kernland dieser Region umfasst dieProvinzen Bamyan, Ghazni, Daikundi und den Westen der Provinz Wardak. Es können auch einzelne Teile der Provinzen Ghor, Uruzgan, Parwan, Samangan, Baghlan, Balkh, Badghis, und Sar-e Pul dazugerechnet werden. Wichtige Merkmale der ethnischen Identität der Hazara sind einerseits ihr ethnisch-asiatisches Erscheinungsbild, woraus gern Schlussfolgerungen über eine turko-mongolische Abstammung der Hazara gezogen werden; andererseits gehören ethnische Hazara hauptsäch dem schiitischen Islam an (mehrheitlich Zwölfer-Schiiten). Eine Minderheit der Hazara, die vor allem im nordöstlichen Teil des Hazaradschat leben, sind Ismailiten.

Die Hazara-Gemeinschaft/Gesellschaft ist traditionell strukturiert und basiert auf der Familie bzw. dem Klan. Die sozialen Strukturen der Hazara werden manchmal als Stammesstrukturen bezeichnet; dennoch bestehen in Wirklichkeit keine sozialen und politischen Stammesstrukturen. Das traditionelle soziale Netz der Hazara besteht größtenteils aus der Familie, obwohl gelegentlich auch politische Führer einbezogen werden können. Nicht weniger wichtig als Religion und Abstammung ist für das ethnische Selbstverständnis der Hazara eine lange Geschichte von Unterdrückung, Vertreibung und Marginalisierung. Jahrzehntelange Kriege und schwere Lebensbedingungen haben viele Hazara aus ihrer Heimatregion in die afghanischen Städte, insbesondere nach Kabul, getrieben. Dennoch hat sich die Lage der Hazara, die während der Taliban- Herrschaft besonders verfolgt waren, grundsätzlich verbessert; vornehmlich aufgrund von Bildung und vor allem auf ökonomischem und politischem Gebiet. Hazara in Kabul gehören jetzt zu den am besten gebildeten Bevölkerungsgruppen und haben auch eine Reihe von Dichtern und Schriftstellern hervorgebracht. Auch wenn es nicht allen Hazara möglich war diese Möglichkeiten zu nutzen, so haben sie sich dennoch in den Bereichen Bildung, öffentliche Verwaltung und Wirtschaft etabliert.

So haben Hazara eine neue afghanische Mittelklasse gegründet. Im Allgemeinen haben sie, wie andere ethnische Gruppen auch, gleichwertigen Zugang zum Arbeitsmarkt. Nichtsdestotrotz, sind sie von einer allgemein wirtschaftlichen Verschlechterung mehr betroffen als andere, da für sie der Zugang zu Regierungsstellen schwieriger ist - außer ein/e Hazara ist selbst Abteilungsleiter/in. Einer Quelle zufolge existiert in der afghanischen Gesellschaft die Auffassung, dass andere ethnische Gruppierungen schlecht bezahlte Jobs Hazara geben. Einer weiteren Quelle zufolge, beschweren sich Mitglieder der Hazara-Ethnie über Diskriminierung während des Bewerbungsprozesses, da sie anhand ihrer Namen leicht erkennbar sind.

Die Ausnahme begründen Positionen bei NGOs und internationalen Organisationen, wo das Anwerben von neuen Mitarbeitern leistungsabhängig ist. Arbeit für NGOs war eine Einnahmequelle für Hazara - nachdem nun weniger Hilfsgelder ausbezahlt werden, schrauben auch NGOs Jobs und Bezahlung zurück, was unverhältnismäßig die Hazara trifft. So berichtet eine weitere Quelle, dass Arbeitsplatzanwerbung hauptsächlich über persönliche Netzwerke erfolgt; Hazara haben aber aufgrund vergangener und anhaltender Diskriminierung eingeschränkte persönliche Netzwerke.

Gesellschaftliche Spannungen bestehen fort und leben lokal in unterschiedlicher Intensität gelegentlich wieder auf; soziale Diskriminierung gegen schiitische Hazara basierend auf Klasse, Ethnie oder religiösen Ansichten finden ihre Fortsetzung in Erpressungen (illegale Steuern), Zwangsrekrutierung, Zwangsarbeit, physischer Misshandlung und Festnahmen. Die Hazara sind im nationalen Durchschnitt mit etwa 10% in der Afghan National Army und der Afghan National Police repräsentiert.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 04.06.2019, S. 319 ff.)

1.2.4. Medizinische Versorgung

Gemäß Artikel 52 der afghanischen Verfassung muss der Staat allen Bürgern kostenfreie primäre Gesundheitsversorgung in öffentlichen Einrichtungen gewährleisten; gleichzeitig sind im Grundgesetz die Förderung und der Schutz privater Gesundheitseinrichtungen vorgesehen. Allerdings ist die Verfügbarkeit und Qualität der Grundbehandlung durch Mangel an gut ausgebildeten Ärzten und Assistenzpersonal (v.a. Hebammen), mangelnde Verfügbarkeit von Medikamenten, schlechtes Management sowie schlechte Infrastruktur begrenzt. Dazu kommt das starke Misstrauen der Bevölkerung in die staatlich finanzierte medizinische Versorgung. Die Qualität der Kliniken variiert stark. Es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen. Berichten zufolge haben rund 10 Millionen Menschen in Afghanistan keinen oder nur eingeschränkten Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Viele Afghanen suchen, wenn möglich, privat geführte Krankenhäuser und Kliniken auf. Die Kosten von Diagnose und Behandlung dort variieren stark und müssen von den Patienten selbst getragen werden. Daher ist die Qualität der Behandlung stark einkommensabhängig. Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung.

In den letzten zehn Jahren hat die Flächendeckung der primären Gesundheitsversorgung in Afghanistan stetig zugenommen. Das afghanische Gesundheitssystem hat in dieser Zeit ansehnliche Fortschritte gemacht. Gründe dafür waren u. a. eine solide öffentliche Gesundheitspolitik, innovative Servicebereitstellung, Entwicklungshilfen usw. Einer Umfrage der Asia Foundation (AF) zufolge hat sich 2017 die Qualität der afghanischen Ernährung sowie der Gesundheitszustand in den afghanischen Familien im Vergleich zu 2016 gebessert. Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) hat mit Unterstützung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) einen Strategieplan für den Gesundheitssektor (2011-2015) und eine nationale Gesundheitspolicy (2012-2020) entwickelt, um dem Großteil der afghanischen Bevölkerung die grundlegende Gesundheitsversorgung zu garantieren.

Trotz signifikanter Verbesserungen im Bereich des Deckungsgrades und der Qualität der Gesundheitsversorgung wie auch einer Reduzierung der Sterberate von Müttern, Säuglingen und Kindern unter fünf Jahren liegen die afghanischen Gesundheitsindikatoren weiterhin unter dem Durchschnitt der einkommensschwachen Länder. Des Weiteren hat Afghanistan eine der höchsten Unterernährungsraten der Welt. Etwa 41% der Kinder unter fünf Jahren leiden unter chronischer Unterernährung. Sowohl Frauen als auch Kinder leiden an Vitamin- und Mineralstoffmangel. In den Bereichen Mütter- und Kindersterblichkeit kam es zu erheblichen Verbesserungen: Während die Müttersterblichkeit früher bei 1.600 Todesfällen pro 100.000 Geburten lag, belief sie sich im Jahr 2015 auf 324 Todesfälle pro 100.000 Geburten. Allerdings wird von einer deutlich höheren Dunkelziffer berichtet. Bei Säuglingen liegt die Sterblichkeitsrate mittlerweile bei 45 Kindern pro 100.000 Geburten und bei Kindern unter fünf Jahren sank die Rate im Zeitraum 1990 bis 2016 von 177 auf 55 Sterbefälle pro 1.000 Kindern. Trotz der Fortschritte sind diese Zahlen weiterhin kritisch und liegen deutlich über dem regionalen Durchschnitt. Weltweit sind Afghanistan und Pakistan die einzigen Länder, die im Jahr 2017 Poliomyelitis-Fälle zu verzeichnen hatten; nichtsdestotrotz ist deren Anzahl bedeutend gesunken. Impfärzte können Impfkampagnen sogar in Gegenden umsetzen, die von den Taliban kontrolliert werden. In jenen neun Provinzen, in denen UNICEF aktiv ist, sind jährlich vier Polio-Impfkampagnen angesetzt. In besonders von Polio gefährdeten Provinzen wie Kunduz, Faryab und Baghlan wurden zusätzliche Kampagnen durchgeführt.

Krankenkassen und Gesundheitsversicherung

Das afghanische Gesundheitsministerium (MoPH) bietet zwei Grundversorgungsmöglichkeiten an: das "Essential Package of Health Services" (EPHS) und das "Basic Package of Health Services" (BPHS), die im Jahr 2003 eingerichtet wurden. Beide Programme sollen standardisierte Behandlungsmöglichkeiten in gesundheitlichen Einrichtungen und Krankenhäusern garantieren. Die im BPHS vorgesehenen Gesundheitsdienstleistungen und einige medizinische Versorgungsmöglichkeiten des EPHS sind kostenfrei. Jedoch zahlen Afghanen und Afghaninnen oft aus eigener Tasche, weil sie private medizinische Versorgungsmöglichkeiten bevorzugen, oder weil die öffentlichen Gesundheitsdienstleistungen die Kosten nicht ausreichend decken. Es gibt keine staatliche Unterstützung für den Erwerb von Medikamenten. Die Kosten dafür müssen von den Patienten getragen werden. Nur privat versicherten Patienten können die Medikamentenkosten zurückerstattet werden.

Medizinische Versorgung wird in Afghanistan auf drei Ebenen gewährleistet: Gesundheitsposten (HP) und Gesundheitsarbeiter (CHWs) bieten ihre Dienste auf Gemeinde- oder Dorfebene an; Grundversorgungszentren (BHCs), allgemeine Gesundheitszentren (CHCs) und Bezirkskrankenhäuser operieren in den größeren Dörfern und Gemeinschaften der Distrikte. Die dritte Ebene der medizinischen Versorgung wird von Provinz- und Regionalkrankenhäusern getragen. In urbanen Gegenden bieten städtische Kliniken, Krankenhäuser und Sonderkrankenanstalten jene Dienstleistungen an, die HPs, BHCs und CHCs in ländlichen Gebieten erbringen. 90% der medizinischen Versorgung in Afghanistan werden dennoch nicht direkt vom Staat zur Verfügung gestellt, sondern von nationalen und internationalen NGOs, die über ein Vertragssystem beauftragt werden. Über dieses Vertragssystem wird sowohl primäre als auch sekundäre und tertiäre medizinische Versorgung zur Verfügung gestellt. Allerdings mangelt es an Investitionen in medizinische Infrastruktur. Der Bauzustand vieler Kliniken ist schlecht. Während in den Städten ein ausreichendes Netz von Krankenhäusern und Kliniken besteht, ist es in den ländlichen Gebieten für viele Afghanen schwierig, eine Klinik oder ein Krankenhaus zu erreichen.

Beispiele für Behandlung psychischer erkrankter Personen in Afghanistan

In der afghanischen Bevölkerung leiden viele Menschen an unterschiedlichen psychischen Erkrankungen. Die afghanische Regierung ist sich der Problematik bewusst und hat geistige Gesundheit als Schwerpunkt gesetzt. Jedoch ist der Fortschritt schleppend und die Leistungen außerhalb von Kabul sind dürftig. In der afghanischen Gesellschaft werden Menschen mit körperlichen und psychischen Behinderungen als schutzbedürftig betrachtet. Sie sind Teil der Familie und werden genauso wie Kranke und Alte gepflegt. Daher müssen körperlich und geistig Behinderte sowie Opfer von Missbrauch eine starke familiäre und gemeinschaftliche Unterstützung sicherstellen.

Die Infrastruktur für die Bedürfnisse mentaler Gesundheit entwickelt sich langsam. So existieren z. B. in Mazar-e Sharif ein privates neuropsychiatrisches Krankenhaus (Alemi Hospital) und ein öffentliches psychiatrisches Krankenhaus. In Kabul existiert eine weitere psychiatrische Klinik. Landesweit bieten alle Provinzkrankenhäuser kostenfreie psychologische Beratungen an, die in einigen Fällen sogar online zur Verfügung stehen. Mental erkrankte Personen können beim Roten Halbmond, in entsprechenden Krankenhäusern und bei anderen Nichtregierungsorganisationen behandelt werden. Einige dieser NGOs sind die International Psychological Organisation (IPSO) in Kabul, die Medica Afghanistan und die PARSA.

Traditionell mangelt es in Afghanistan an einem Konzept für psychisch Kranke. Sie werden nicht selten in spirituellen Schreinen unter teilweise unmenschlichen Bedingungen "behandelt" oder es wird ihnen durch eine "Therapie" mit Brot, Wasser und Pfeffer der "böse Geist ausgetrieben". Es gibt jedoch aktuelle Bemühungen, die Akzeptanz und Kapazitäten für psychiatrische Behandlungsmöglichkeiten zu stärken und auch Aufklärung sowohl über das Internet als auch in Form von Comics (für Analphabeten) zu betreiben. Beispielweise wurde in der Provinz Badakhshan durch internationale Zusammenarbeit ein Projekt durchgeführt, bei dem konventionelle und kostengünstige e-Gesundheitslösungen angewendet werden, um die vier häufigsten psychischen Erkrankungen zu behandeln: Depressionen, Psychosen, posttraumatische Belastungsstörungen und Suchterkrankungen. Erste Evaluierungen deuten darauf hin, dass in abgelegenen Regionen die Qualität der Gesundheitsversorgung verbessert werden konnte. Auch die gesellschaftliche Stigmatisierung psychisch Erkrankter konnte reduziert werden.

Trotzdem findet die Behandlung von psychischen Erkrankungen - insbesondere Kriegstraumata - abgesehen von einzelnen Projekten von NGOs nach wie vor nicht in ausreichendem Maße statt.

Krankenhäuser in Afghanistan

Theoretisch ist die medizinische Versorgung in staatlichen Krankenhäusern kostenlos. Dennoch ist es üblich, dass Patienten Ärzte und Krankenschwestern bestechen, um bessere bzw. schnellere medizinische Versorgung zu bekommen (IOM 5.2.2018). Eine begrenzte Anzahl an staatlichen Krankenhäusern in Afghanistan bietet kostenfreie medizinische Versorgung. Privatkrankenhäuser gibt es zumeist in größeren Städten wie Kabul, Jalalabad, Mazar-e Sharif, Herat und Kandahar. Die Behandlungskosten in diesen Einrichtungen variieren. Für den Zugang zur medizinischen Versorgung sind der Besitz der afghanischen Staatsbürgerschaft und die Mitnahme eines gültigen Ausweises bzw. der Tazkira erforderlich.

In öffentlichen Krankenhäusern in den größeren Städten Afghanistans können leichte und saisonbedingte Krankheiten sowie medizinische Notfälle behandelt werden. Es besteht die Möglichkeit, dass Beeinträchtigungen wie Herz-, Nieren-, Leber- und Bauchspeicheldrüsenerkrankungen, die eine komplexe, fortgeschrittene Behandlung erfordern, wegen mangelnder technischer bzw. fachlicher Expertise nicht behandelt werden können. Chirurgische Eingriffe können nur in bestimmten Orten geboten werden, die meist einen Mangel an Ausstattung und Personal aufweisen. Wenn eine bestimmte medizinische Behandlung in Afghanistan nicht möglich ist, sehen sich Patienten gezwungen ins Ausland, meistens nach Indien, in den Iran, nach Pakistan und in die Türkei zu reisen. Da die medizinische Behandlung im Ausland kostenintensiv ist, haben zahlreiche Patienten, die es sich nicht leisten können, keinen Zugang zu einer angemessenen medizinischen Behandlung.

Beispiele für Nichtregierungsinstitutionen vor Ort

Ärzte ohne Grenzen (MSF)

Médecins sans Frontières (MSF) ist in verschiedenen medizinischen Einrichtungen in Afghanistan tätig: im Ahmad Shah Baba Krankenhaus und im Dasht-e Barchi Krankenhaus in Kabul, in der Entbindungsklinik in Khost, im Boost Krankenhaus in Lashkar Gah (Helmand) sowie im Mirwais Krankenhaus und anderen Einrichtungen in Kandahar.

Das Komitee des internationalen Roten Kreuz (ICRC)

Auch die Sicherheitslage hat erhebliche Auswirkungen auf die medizinische Versorgung. Für den Zeitraum von Dezember 2017 bis März 2018 wurden Berichten zufolge insgesamt 48 Zwischenfälle in 13 Provinzen registriert. Nach mehreren Angriffen mit Todesfolge auf Mitarbeiter des ICRC, hat das Internationale Komitee des Roten Kreuzes 2017 einen erheblichen Teil seines Personals im Land abgezogen. Trotzdem blieb im Laufe des Jahres 2017 das ICRC landesweit aktiv. Tätigkeiten des Komitees zur Förderung der Gesundheitsfürsorge waren z.B. der Transport von Kriegsverwundeten in nahe liegende Krankenhäuser für weitere medizinische Versorgung, die Bereitstellung von Medikamenten und medizinischer Ausstattung zur Unterstützung einiger staatlicher Krankenhäuser, die Bereitstellung von medizinischer Unterstützung für das Mirwais Krankenhauses in Kandahar, die Unterstützung von Gesundheitsdienstleistungen in zwei Gefängnissen (Kandahar und Herat) usw.

International Psychosocial Organization (IPSO) in Kabul

IPSO bietet landesweit psychosoziale Betreuung durch Online-Beratung und Projektfeldarbeit mit insgesamt 280 psychosozialen Therapeuten, wovon die Hälfte Frauen sind. Die Online-Beratung steht von 8-19 Uhr kostenfrei zur Verfügung; angeboten werden ebenso persönliche Sitzungen in Beratungszentren der Krankenhäuser. Einige der Dienste dieser Organisation sind auch an Universitäten und technischen Institutionen verfügbar. Unter anderem ist IPSO in den Provinzen Nangarhar, Kabul, Herat, Bamyan, Badakhshan, Balkh, Jawzjan und Laghman tätig.

Medica Afghanistan in Kabul

Medica Afghanistan bietet kostenfreie psychosoziale Einzel- und Gruppentherapien an. Die Leistungen sind nur für Frauen zugänglich und werden in Kabul in unterschiedlichen Frauenhäusern und -gefängnissen sowie Jugendzentren angeboten. Auch werden die Leistungen der Organisation in drei Hauptkrankenhäusern, im "Women's Garden, im Ministeirum für Frauenangelegenheiten (MoWA) und an weiteren Standorten in Kabul angeboten.

Parsa Afghanistan

Parsa ist seit 1996 als registrierte NGO in Afghanistan tätig. Die Organisation spezialisiert sich u.a. auf psychologische Leistungen und Ausbildung von afghanischem Fachpersonal, das in sozialen Schutzprogrammen tätig ist und mit vulnerablen Personen arbeitet. Zu diesen Fachkräften zählen Mitarbeiter in Zentren für Binnenvertriebene, Frauenhäusern und Waisenhäusern sowie Fachkräfte, die in lokalen Schulen am Projekt "Healthy Afghan Girl" mitarbeiten und andere Unterstützungsgruppen.

Weitere Projekte

Das Telemedizinprojekt des Mobilfunkanbieters Roshan, verbindet Ärzte in ländlichen Gegenden mit Spezialisten im französischen Kindermedizininstitut in Kabul und dem Aga Khan Universitätskrankenhaus in Pakistan. Durch eine Hochgeschwindigkeits-Videoverbindung werden mittellose Patienten auf dem Land von Fachärzten diagnostiziert. Unter anderem bietet die von Roshan zur Verfügung gestellte Technologie afghanischen Ärzten die Möglichkeit, ihre medizinischen Kenntnisse zu erweitern und auf den neuesten Stand zu bringen.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 04.06.2019, S. 362 ff.)

1.2.5. Rückkehr

Als Rückkehrer werden jene afghanischen Staatsbürger bezeichnet, die nach Afghanistan zurückgekehrt sind, nachdem sie mindestens sechs Monate im Ausland verbracht haben. Dazu zählen sowohl im Ausland registrierte Afghanen, die dann die freiwillige Rückkehr über UNHCR angetreten haben, als auch nicht-registrierte Personen, die nicht über UNHCR zurückgekehrt sind, sondern zwangsweise rückgeführt wurden. Insgesamt sind in den Jahren 2012 bis 2017 1.821.011 Personen nach Afghanistan zurückgekehrt. Die Anzahl der Rückkehrer/innen hat sich zunächst im Jahr 2016 im Vergleich zum Zeitraum 2012-2015, um 24% erhöht, und ist im Jahr 2017 um 52% zurückgegangen. In allen drei Zeiträumen war Nangarhar jene Provinz, die die meisten Rückkehrer/innen zu verzeichnen hatte (499.194); zweimal so viel wie Kabul (256.145). Im Jahr 2017 kehrten IOM zufolge insgesamt 98.191 Personen aus Pakistan und 462.361 Personen aus Iran zurück (sowohl freiwillig, als auch zwangsweise). Im Jahr 2018 kehrten mit Stand 21. März 1.052 Personen aus angrenzenden Ländern und nicht-angrenzenden Ländern zurück. Bis Juli 2017 kehrten aus Europa und der Türkei 41.803 Personen nach Afghanistan zurück.

Unterstützung durch verschiedene Organisationen Vorort

Die afghanische Regierung kooperierte mit UNHCR, IOM und anderen humanitären Organisationen, um IDPs, Flüchtlingen, rückkehrenden Flüchtlingen und anderen betroffenen Personen Schutz und Unterstützung zu bieten. Die Fähigkeit der afghanischen Regierung vulnerable Personen zu unterstützen, einschließlich Rückkehrer aus Pakistan und dem Iran, bleibt begrenzt und ist weiterhin auf die Hilfe der internationalen Gemeinschaft angewiesen.

Auch wenn scheinbar kein koordinierter Mechanismus existiert, der garantiert, dass alle Rückkehrer die Unterstützung erhalten, die sie benötigen, und dass eine umfassende Überprüfung stattfindet, können Personen, die freiwillig oder zwangsweise nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dennoch verschiedene Unterstützungsformen in Anspruch nehmen. Eine Reihe unterschiedlicher Organisationen ist für Rückkehrer und Binnenvertriebene (IDP) in Afghanistan zuständig. Außerdem erhalten Rückkehrer Unterstützung von der afghanischen Regierung, den Ländern, aus denen sie zurückkehren, und internationalen Organisationen (z.B. IOM) sowie lokalen Nichtregierungsorganisationen (NGO). Nichtsdestotrotz scheint das Sozialkapital die wichtigste Ressource zu sein, die Rückkehrer zur Verfügung steht, da keine dezidiert staatlichen Unterbringungen für Rückkehrer existieren und familiäre Unterbringungsmöglichkeiten für Rückkehrer daher als die zuverlässigste und sicherste Möglichkeit erachtet werden.

So kehrt der Großteil der (freiwilligen bzw. zwangsweisen) Rückkehrer direkt zu ihren Familien oder in ihre Gemeinschaften zurück. Für jene, die diese Möglichkeit nicht haben sollten, stellen die Regierung und IOM eine temporäre Unterkunft zur Verfügung. Hierfür stand bislang das Jangalak-Aufnahmezentrum zur Verfügung, das sich direkt in der Anlage des Ministeriums für Flüchtlinge und Repatriierung in Kabul befand und wo Rückkehrende für die Dauer von bis zu zwei Wochen untergebracht werden konnten. Seit September 2017 nutzt IOM nicht mehr das Jangalak-Aufnahmezentrum, sondern das Spinzar Hotel in Kabul als temporäre Unterbringungsmöglichkeit. Auch hier können Rückkehrer für maximal zwei Wochen untergebracht werden.

Unterstützung durch die afghanische Regierung

Hilfeleistungen für Rückkehrer durch die afghanische Regierung konzentrieren sich auf Rechtsbeistand, Arbeitsplatzvermittlung, Land und Unterkunft (wenngleich sich das Jangalak- Aufnahmezentrum bis September 2017 direkt in der Anlage des Ministeriums für Flüchtlinge und Repatriierung in Kabul befand, wurde dieses dennoch von IOM betrieben und finanziert). Seit 2016 erhalten die Rückkehr nur Hilfeleistungen in Form einer zweiwöchigen Unterkunft. Neue politische Rahmenbedingungen für Rückkehrer und IDPs wurden von unterschiedlichen afghanischen Behörden, dem Ministerium für Flüchtlinge und Repatriierung (MoRR) und internationalen Organisationen geschaffen und sind im Dezember 2016 in Kraft getreten. Diese Rahmenbedingungen gelten sowohl für Rückkehrer aus der Region (Iran und Pakistan), als auch für jene, die aus Europa zurückkommen oder IDPs sind. Soweit dies möglich ist, sieht dieser mehrdimensionale Ansatz der Integration unter anderem auch die individuelle finanzielle Unterstützung als einen Ansatz der "whole of community" vor.

Demnach sollen Unterstützungen nicht nur Einzelnen zugutekommen, sondern auch den Gemeinschaften, in denen sie sich niederlassen. Die Rahmenbedingungen sehen die Grundstücksvergabe als entscheidend für den Erfolg anhaltender Lösungen. Hinsichtlich der Grundstücksvergabe wird es als besonders wichtig erachtet, das derzeitige Gesetz zu ändern, da es als anfällig für Korruption und Missmanagement gilt. Auch wenn nicht bekannt ist, wie viele Rückkehrer aus Europa Grundstücke von der afghanischen Regierung erhalten haben - und zu welchen Bedingungen - sehen Experten dies als möglichen Anreiz für jene Menschen, die Afghanistan schon vor langer Zeit verlassen haben und deren Zukunftsplanung von der Entscheidung europäischer Staaten über ihre Abschiebungen abhängig ist.

Die Rolle unterschiedlicher Netzwerke für Rückkehrer

Die Großfamilie ist die zentrale soziale Institution in Afghanistan und bildet das wichtigste soziale Sicherheitsnetz der Afghanen. Alle Familienmitglieder sind Teil des familiären Netzes. Die Großfamilie trägt zu Schutz, Betreuung und Versorgung ihrer Mitglieder bei. Sie bildet auch eine wirtschaftliche Einheit; die Männer der Familie sind verpflichtet, die Mitglieder der Großfamilie zu unterstützen und die Familie in der Öffentlichkeit zu repräsentieren. Auslandsafghanen pflegen zumeist enge Kontakte mit ihren Verwandten in Afghanistan. Quellen zufolge verlieren nur sehr wenige Afghanen in Europa den Kontakt zu ihrer Familie. Die Qualität des Kontakts mit der Familie hängt möglicherweise auch davon ab, wie lange die betreffende Person im Ausland war bzw. wie lange sie tatsächlich in Afghanistan lebte, bevor sie nach Europa migrierte. Der Faktor geographische Nähe verliert durch technologische Entwicklungen sogar an Wichtigkeit. Der Besitz von Mobiltelefonen ist mittlerweile "universell" geworden und digitale Kommunikation wird eine zunehmende Selbstverständlichkeit, vor allem in den Städten.

Quellen zufolge halten Familien in Afghanistan in der Regel Kontakt zu ihrem nach Europa ausgewanderten Familienmitglied und wissen genau Bescheid, wo sich dieses aufhält und wie es ihm in Europa ergeht. Dieser Faktor wird in Asylinterviews meist heruntergespielt und viele Migranten, vor allem Minderjährige, sind instruiert zu behaupten, sie hätten keine lebenden Verwandten mehr oder jeglichen Kontakt zu diesen verloren.

Neben der Familie als zentrale Stütze der afghanischen Gesellschaft, kommen noch weitere, wichtige Netzwerke zum Tragen, wie z. B. der Stamm, der Clan und die lokale Gemeinschaft. Diese basieren auf Zugehörigkeit zu einer Ethnie, Religion oder anderen "professionellen" Netzwerken sowie politische Netzwerke usw. Die unterschiedlichen Netzwerke haben verschiedene Aufgaben und unterschiedliche Einflüsse - auch unterscheidet sich die Rolle der Netzwerke zwischen den ländlichen und städtischen Gebieten. Ein Netzwerk ist für das Überleben in Afghanistan wichtig. So sind einige Rückkehrer auf soziale Netzwerke angewiesen, wenn es ihnen nicht möglich ist, auf das familiäre Netz zurückzugreifen. Ein Mangel an Netzwerken stellt eine der größten Herausforderungen für Rückkehrer dar, was möglicherweise zu einem neuerlichen Verlassen des Landes führen könnte. Die Rolle sozialer Netzwerke - der Familie, der Freunde und der Bekannten - ist für junge Rückkehrer besonders ausschlaggebend, um sich an das Leben in Afghanistan anzupassen. Sollten diese Netzwerke im Einzelfall schwach ausgeprägt sein, kann die Unterstützung verschiedener Organisationen und Institutionen in Afghanistan in Anspruch genommen werden.

(Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation zu Afghanistan vom 04.06.2019, S. 371 ff.)

1.2.6. Risi

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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