TE Bvwg Erkenntnis 2019/3/21 L521 2138450-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 21.03.2019
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Entscheidungsdatum

21.03.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §11
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs3 Z1
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1 Z2
AsylG 2005 §58 Abs3
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
AVG §6
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
EMRK Art2
EMRK Art3
EMRK Art8
FPG §46
FPG §50 Abs1
FPG §50 Abs2
FPG §50 Abs3
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
StGB §223
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2
VwGVG §31 Abs1

Spruch

L521 2138450-1/33E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch Dr. Peter Lechenauer und Dr. Margrit Swozil, Rechtsanwälte in 5020 Salzburg, Hubert-Sattler-Gasse 10, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.10.2016, Zl XXXX , nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 03.12.2018 zu Recht:

A)

I. Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

II. Der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels gemäß § 55 AsylG 2005 wird gemäß § 6 AVG 1991 mangels Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichtes zurückgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Artikel 133 Absatz 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte im Gefolge seiner schlepperunterstützten unrechtmäßigen Einreise in das Bundesgebiet am 29.05.2015 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung am 30.05.2015 vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Landespolizeidirektion Wien gab der Beschwerdeführer an, den Namen

XXXX zu führen und Staatsangehöriger der Türkei zu sein. Er sei am

XXXX geboren und habe zuletzt in XXXX gelebt, Angehöriger der kurdischen Volksgruppe und des sunnitischen Glaubens sowie ledig. Er beherrsche die türkische Sprache und habe in XXXX fünf Jahre die Grundschule besucht. Seine Eltern, vier Schwestern und ein Bruder seien in der Türkei oder einem anderen Drittstaat aufhältig.

Im Hinblick auf seinen Reiseweg brachte der Beschwerdeführer zusammengefasst vor, nach einem etwa dreijährigen Aufenthalt in einem Militärkrankenhaus wegen psychischer Gründe etwa am 15.05.2015 illegal mit einem Lastkraftwagen schlepperunterstützt von Istanbul ausgehend nach Österreich gereist zu sein.

Zu den Gründen der Ausreise befragt, führte der Beschwerdeführer aus, seine Schwester sei umgebracht worden. Man habe auch ihn mit dem Tode bedroht. Bei einer Rückkehr in die Türkei fürchte er den sicheren Tod.

3. Mit Urteil eines österreichischen Bezirksgerichtes vom 16.11.2015, rechtskräftig seit 20.11.2015, wurde der Beschwerdeführer wegen Urkundenfälschung nach § 223 Abs. 2 StGB und wegen Erschleichung einer Leistung nach § 149 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Wochen, bedingt unter einer Probezeit von drei Jahren, verurteilt.

4. Nach Zulassung des Verfahrens wurde der Beschwerdeführer am 29.01.2016 vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg, im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in türkischer Sprache niederschriftlich von dem zur Entscheidung berufenen Organwalter einvernommen.

Zunächst wurde das auf der Aufenthaltskarte des Beschwerdeführers angeführte Geburtsdatum nach Abgleich mit dem vorliegenden Nüfus von Amts wegen auf XXXX korrigiert.

In der Folge bestätigte der Beschwerdeführer, bis dato der Wahrheit entsprechende Angaben gemacht zu haben. Die Niederschrift der Erstbefragung sei ihm jedoch nicht übersetzt worden.

Zu seinen Lebensumständen befragt gab der Beschwerdeführer an, zuletzt gemeinsam mit XXXX Eltern in einem Haus in einem Dorf in der Provinz XXXX gewohnt zu haben. In der Stadt XXXX besitze seine Familie eine Wohnung. Seine Familie produziere mit 300 Bienenstöcken Honig. Er habe in der Türkei zehn Jahre die Schule besucht, wobei er das Gymnasium in der zweiten Klasse abgebrochen habe. In Österreich verfüge er über keine nahen Angehörigen. Er hätte zuletzt vor etwa eineinhalb Monaten ein Telefongespräch mit seiner Mutter geführt.

Zum Ausreisegrund befragt gab der Beschwerdeführer an, dass er ein jesidisches Mädchen geliebt hätte. Diese ethnisch-religiöse Gruppe verbiete eine Eheschließung ihrer Mädchen mit muslimischen Männern. Nach Kenntnis von dieser Liebesbeziehung seien beide Elternpaare gegen diese Verbindung gewesen. Sein Vater habe ihm mit der Enterbung gedroht. Nach sechsmonatiger Dauer der Beziehung hätten sie sich zu einem Onkel von ihm begeben. Von seiner Familie hätten nur dieser Onkel und seine Mutter die Beziehung gebilligt. Sein Onkel habe gemeinsam mit einer Gruppe von älteren Männer die Eltern seiner Freundin zur Lösung dieses Problems aufgesucht. Diese hätten aber nicht überzeugt werden können, sondern in der Folge gedroht, dass er und seine Freundin sterben müssten. Sein Onkel und seine Mutter hätten ihnen geraten, die Stadt möglichst schnell zu verlassen. Vor dem Verlassen der Stadt habe der Bruder seiner Freundin diese mit einer Pistole erschossen. Er sei zu dieser Zeit nicht zu Hause gewesen. Bei seiner Rückkehr hätte er vor dem Haus viele Polizisten gesehen und sei daraufhin in Ohnmacht gefallen. Als er wieder zu Bewusstsein gekommen sei, habe er sich in einem Krankenhaus in XXXX wiedergefunden. Er sei etwa ein Jahr lang in verschiedenen türkischen Krankenhäusern gewesen, weshalb ihn die Familie seiner Freundin nicht finden habe können.

Nachgefragt zu Details gab der Beschwerdeführer insbesondere an, dass er nicht wisse, wie das Verfahren bezüglich der Ermordung seiner Freundin ausgegangen sei. Er habe sich ein Jahr in Behandlung befunden und wisse nichts. Er sei auch nicht in der Lage gewesen nachzufragen. Seine Freundin sei im Jahr 2011 erschossen worden. Den Monat oder Tag wisse er nicht mehr. Es sei im Sommer beziehungsweise warm gewesen. Nach seiner Behandlung habe er eineinhalb bis zwei Jahre bei einem Freund in Istanbul gewohnt. Er habe sich nicht getraut, das Haus zu verlassen. Lediglich in der Nacht habe er das Haus verlassen, wobei er sein Gesicht versteckt habe. Die Eltern seiner Freundin hätten im Fernsehen eine Vermisstenanzeige samt Fotografie geschaltet, um ihn zu finden. Danach habe er Angst gehabt, dass ihn jemand in Istanbul erkenne, weshalb er nach Antalya und in der Folge nach Europa gefahren sei. In Istanbul habe er nachts in einem Hotel als Abwäscher gearbeitet.

Des Weiteren wurden dem Beschwerdeführer auch Fragen bezüglich seiner Integration in Österreich gestellt.

Im Gefolge seiner Einvernahme brachte der Beschwerdeführer unter anderem eine Beschuldigtenvernehmung wegen des Verdachtes der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 und 2 StGB vor einem österreichischen Landesgericht vom 04.06.2015, eine psychiatrische Sachverständigenbestellung durch eine österreichische Staatsanwaltschaft, einen Entlassungsbrief einer österreichischen Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie vom 18.06.2015, einen vorläufigen Entlassungsbrief einer österreichischen Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie vom 30.06.2015 und einen Einstellungsbeschluss eines österreichischen Bezirksgerichtes in einer Pflegschaftssache den Beschwerdeführer betreffend vom 09.07.2015 jeweils in Kopie bei.

Im Übrigen wurden dem Beschwerdeführer die aktuellen landeskundlichen Informationen zur Türkei ausgefolgt und eine Stellungnahme binnen zwei Wochen hiezu freigestellt.

Binnen der gesetzten Frist langte keine Stellungnahme des Beschwerdeführers bei der belangten Behörde ein.

5. Am 04.02.2016 richtete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl aufgrund der vom Beschwerdeführer in der Einvernahme vorgelegten Bescheinigungsmittel bezüglich seines Gesundheitszustandes an die zuständige österreichische Staatsanwaltschaft ein Ersuchen um Übermittlung des von dieser in Auftrag gegebenen Sachverständigengutachtens.

6. In Entsprechung dieses Ersuchens langte am 12.02.2016 bei der belangten Behörde ein neuropsychiatrisches Gutachten den Beschwerdeführer betreffend vom 18.06.2015 ein.

7. Mit Schreiben der belangten Behörde vom 09.06.2016 wurde Primar Dr. XXXX , Facharzt für Neurologie, mit der Erstellung eines medizinischen Gutachtens zum aktuellen Gesundheitszustand des Beschwerdeführers beauftragt. Diesem Auftrag wurde mit dem Gutachten vom 28.06.2016 entsprochen.

8. Mit Schreiben des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.07.2016 wurden dem Beschwerdeführer die aktuellen länderkundlichen Informationen zur Türkei zur Wahrung des Parteiengehörs übermittelt und ihm die Möglichkeit eingeräumt, dazu binnen zwei Wochen schriftlich Stellung zu nehmen.

Binnen der gesetzten Frist langte keine Stellungnahme des Beschwerdeführers bei der belangten Behörde ein.

9. Mit Schreiben des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.08.2016 wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass sich just während der ihm eingeräumten Frist zur Stellungnahme in der Türkei Entwicklungen ereignet hätten, die in den landeskundlichen Feststellungen noch nicht abgebildet, allerdings entscheidungsrelevant seien. Daher wurden dem Beschwerdeführer die relevanten integrierten Kurzinformationen des aktuellen Länderinformationsblattes zur Türkei zur Wahrung des Parteiengehörs übermittelt und ihm die Möglichkeit eingeräumt, dazu binnen zwei Wochen schriftlich Stellung zu nehmen.

Binnen der gesetzten Frist langte keine Stellungnahme des Beschwerdeführers bei der belangten Behörde ein.

10. Mit dem im Spruch bezeichneten Bescheid des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 05.10.2016 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 wurde sein Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei ebenso abgewiesen (Spruchpunkt II). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG wurde nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass dessen Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG betrage die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung (Spruchpunkt IV).

Begründend führte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl - soweit für das Beschwerdeverfahren von Relevanz - nach der Wiedergabe der Einvernahmen des Beschwerdeführers und den Feststellungen zu dessen Person insbesondere aus, es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat einer staatlichen Bedrohung beziehungsweise Verfolgung ausgesetzt gewesen sei. In diesem Zusammenhang habe auch nicht festgestellt werden können, dass er persönlich Probleme mit Ämtern und Behörden in seinem Herkunftsstaat gehabt hätte beziehungsweise solche zu befürchten wären. Weder habe er einen der in der Genfer Flüchtlingskonvention taxativ aufgezählten Fluchtgründe vorgebracht, noch habe ein solcher amtsseitig festgestellt werden können. Der Beschwerdeführer habe keine gegen ihn selbst gerichtete Bedrohungshandlung vorgebracht, sondern die Ermordung seiner Lebensgefährtin und die Sorge nun auch verfolgt zu werden. Er habe von seinem Herkunftsstaat bereits präventiven Schutz vor einer möglichen Privatverfolgung erhalten. Der Beschwerdeführer habe im Zuge des Verfahrens mehrfach äußerst widersprüchliche Angaben getätigt und erreiche sein Vorbringen keine Asylrelevanz. Es hätten sich im Verwaltungsverfahren keine begründeten Hinweise auf eine Flüchtlingseigenschaft ergeben. Dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl seien auch keine Umstände bekannt, dass in der Türkei eine solche extreme Gefährdungslage bestünde, dass gleichsam jeder, der dorthin zurückkehrt, einer Gefährdung im Sinne der Art. 2 und 3 EMRK ausgesetzt wäre, oder eine derartige humanitäre Katastrophe vorherrschte, dass das Überleben von Personen mangels Nahrung und Wohnraum tatsächlich in Frage gestellt wäre. Die beim Beschwerdeführer diagnostizierte Angst und Anpassungsstörung mit einer leichtgradigen depressiven Reaktion stelle kein Rückkehrhindernis dar, zumal er bereits in seinem Herkunftsstaat medizinisch behandelt worden sei. Es habe nicht festgestellt werden können, dass der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr in die Türkei in eine die Existenz bedrohende Notlage geraten würde. Er verfüge über private und familiäre Anknüpfungspunkte in der Heimat und würde er deshalb nach seiner Rückkehr auch Unterstützungs- und Unterkunftsmöglichkeiten vorfinden. Was das Privat- und Familienleben betrifft, so wurde festgestellt, dass der Beschwerdeführer in der Türkei eine schulische Ausbildung erhalten habe. Er habe als Imker gearbeitet und sei zuletzt in Istanbul erwerbstätig gewesen. Er lebe in Österreich ausschließlich von Geldern aus öffentlicher Hand und habe keine engen Kontakte zu Personen, die zum dauernden Aufenthalt in Österreich berechtigt seien. Im Bundesgebiet befänden sich keine Familienangehörigen oder nahen Angehörigen. Vom Bestehen eines sonstigen nennenswerten sozialen Umfeldes in Österreich habe er nichts berichtet. Der Beschwerdeführer habe keine für seine Integration sprechenden Unterlagen vorgelegt. Die Möglichkeit einer legalen Beschäftigungsaufnahme sei ihm mangels gesetzlicher Voraussetzungen verwehrt. Seine Einreise sei zum Zwecke der Verschaffung einer dauerhaften Niederlassung in Österreich unter Umgehung der Einreise- und Niederlassungsvorschriften und nicht aufgrund einer Verfolgung und der daraus resultierenden Schutzsuche erfolgt. Der Aufenthalt im Bundesgebiet sei nur durch illegale Einreise und der unbegründeten Stellung eines Asylantrages vorübergehend legalisiert gewesen. Er habe damit rechnen müssen, dass sein ausschließlich aufgrund der Asylantragstellung vorübergehend gestatteter Aufenthalt im Bundesgebiet im Fall der Nichtzuerkennung von Asyl und subsidiärem Schutz ende. Der Aufenthalt in Österreich sei niemals als sicher anzusehen gewesen. Der Beschwerdeführer kenne die in seinem Herkunftsstaat herrschenden sozialen und kulturellen Werte und beherrsche nach wie vor die dort gesprochene Sprache auf Muttersprachenniveau. Der Beschwerdeführer sei im Zeitraum seines vorübergehenden Aufenthalts in Österreich rechtskräftig verurteilt worden und somit vorbestraft. Ein schützenswertes Privatleben in Österreich sei nicht entstanden.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl legte seiner Entscheidung aktuelle Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers zugrunde (vgl. die Seiten 17 bis 64 des angefochtenen Bescheides).

In der rechtlichen Beurteilung wird begründend dargelegt, warum der seitens des Beschwerdeführers vorgebrachte Sachverhalt keine Grundlage für eine Subsumierung unter den Tatbestand des § 3 AsylG 2005 biete, zumal der Beschwerdeführer jedenfalls staatlichen Schutz in Anspruch nehmen könnte und warum auch nicht vom Vorliegen einer Gefahr im Sinne des § 8 Abs. 1 AsylG 2005 ausgegangen werden könne. Zudem wurde ausgeführt, warum ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt wurde, weshalb gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung erlassen und festgestellt wurde, dass die Abschiebung in die Türkei zulässig sei.

11. Mit Verfahrensanordnungen des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.10.2016 wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt und der Beschwerdeführer ferner gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass er verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.

12. Mit E-Mail vom 19.10.2016 ersuchte die zum damaligen Zeitpunkt bevollmächtigte Rechtsberatungsorganisation um einen Termin - möglichst am 21.10.2016 um 08.00 Uhr - zur Akteneinsicht.

13. Mit E-Mail vom 20.10.2016 teilte die belangte Behörde der zum damaligen Zeitpunkt bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation mit, dass diesem kurzfristig gestellten Ersuchen nicht entsprochen werden konnte, da am gewünschten Tag kein freier Termin mehr zur Verfügung gestanden sei.

14. Gegen den am 07.10.2016 durch Hinterlegung zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.10.2016 richtet sich die im Wege der zum damaligen Zeitpunkt bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation mit Schreiben vom 21.10.2016 fristgerecht eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In dieser werden zunächst in umfassender Weise verfassungsrechtliche Bedenken betreffend die zweiwöchige Beschwerdefrist gemäß § 16 Abs. 1 BFA-VG kundgetan.

Des Weiteren wird der angefochtene Bescheid in vollem Umfang wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Mangelhaftigkeit des Verfahrens bekämpft und moniert, dass die belangte Behörde den Anforderungen an ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren nicht entsprochen habe, zumal die im angefochtenen Bescheid getroffenen Länderfeststellungen unvollständig seien und teilweise nicht mehr die vom Verwaltungsgerichtshof geforderte Aktualität erfüllen würden. Vor allem habe die belangte Behörde zum Thema Blutrache beziehungsweise Ehrenmorde mangelhaft recherchiert. Das Bundesamt habe es unterlassen, über die juristische Grundlage hinaus, Länderberichte zu recherchieren, in welchem Umfang "Ehrenmorde" unter Motivation von Blutrache tatsächlich stattfänden und zu ermitteln, ob von Seiten des türkischen Staates mit einem präventiven Schutz vor Verfolgung zu rechnen sei. In diesem Zusammenhang wird auszugsweise aus einem Themenpapier der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 23.10.2013 zitiert, wonach Ehrenmorde vor allem unter der kurdischen Bevölkerung verbreitet seien und neben Frauen auch Männer von Ehrenmorden betroffen seien. Auslöser sei eine "schamlose Beziehung" und als solche sei auch die Beziehung zu seiner Freundin qualifiziert worden. Zur strafrechtlichen Ahndung werde ausgeführt, dass die Anwendung von Artikel 82 des Strafgesetzbuches in der Praxis nicht einheitlich gehandhabt werde. Das Gesetz werde zum Teil eng ausgelegt und würden Ehrenmorde zum Teil nicht als Tötungen aufgrund des Brauchtums behandelt, weswegen von der Anwendbarkeit von Artikel 82 abgesehen werde. Es werde auch darauf hingewiesen, dass der Zugang zu staatlichem Schutz für von Gewalt betroffene Personen in der Türkei noch immer mangelhaft sei. Hinsichtlich der Frage, ob in einem Fall, wie jenem des Beschwerdeführers, der türkische Staat bereit sei, Schutz vor Gewalt zu gewähren, sei zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer Kurde sei und Kurden Diskriminierungen in der türkischen Gesellschaft ausgesetzt seien. Diesbezüglich wird nochmals auszugsweise auf das Themenpapier der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 23.10.2013 verwiesen.

Ferner wird angemerkt, dass nach dem Rechtsberatungsgespräch ein Antrag auf Akteneinsicht gestellt worden sei. Diesen habe die belangte Behörde abgelehnt. Es sei jedoch aufgrund der Angaben des Beschwerdeführers auch ohne Akteneinsicht davon auszugehen, dass insbesondere der Verlaufsdekurs vom 05.06.2015 (in der Beschwerde unrichtig: 05.06.2016) ohne Dolmetscher stattgefunden habe. Auch die Beschuldigtenvernehmung vom 04.06.2015 (in der Beschwerde unrichtig: 04.06.2016) habe vermutlich ohne Dolmetscher stattgefunden.

Des Weiteren wird ausgeführt, dass die belangte Behörde zu Unrecht lediglich von einer Angst- und Anpassungsstörung mit leichtgradiger depressiver Reaktion ausgehe. Laut Entlassungsbrief einer österreichischen Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie vom 09.09.2016 leide der Beschwerdeführer an einer posttraumatischen Belastungsstörung und schweren depressiven Episoden ohne psychotische Symptome. Der Beschwerdeführer sei von 01.09.2016 bis 09.09.2016 stationär aufgenommen worden.

Darüber hinaus wendet sich der Beschwerdeführer gegen die Beweiswürdigung des belangten Bundesamtes und moniert, dass die belangte Behörde zu Unrecht davon ausgegangen sei, dass der Beschwerdeführer während seines Aufenthaltes im Krankenhaus in der Türkei unter (ständigem) Polizeischutz gestanden sei. Beim Verlaufsdekurs vom 05.06.2015 (in der Beschwerde unrichtig: 05.06.2016) sei kein Dolmetscher anwesend gewesen. Was die Angaben zum Polizeischutz betreffe, handle es sich nach Ansicht des Beschwerdeführers um ein Missverständnis. Die türkische Polizei habe den Beschwerdeführer nicht geschützt beziehungsweise habe den Beschwerdeführer nicht beschützen können. Im Gegenteil, die türkische Polizei habe dem Beschwerdeführer gegenüber zu verstehen gegeben, dass es sich um eine Angelegenheit zwischen Kurden handle, die die Kurden untereinander ausmachen müssten.

Der Beschwerdeführer werde aufgrund der Beziehung zu einer Frau von deren Familie verfolgt. Die Verfolgung sei von Asylrelevanz, weil die Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe (in eine Blutfehde Verstrickte) im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention drohe. Die Verfolgung sei zudem auch religiös motiviert. Der türkische Staat sei nicht willens beziehungsweise nicht in der Lage, den Beschwerdeführer vor Verfolgung durch die Familie der getöteten Freundin zu schützen. Ebenso wenig stünde dem Beschwerdeführer eine innerstaatliche Fluchtalternative offen.

Was die Integration betrifft, wird angemerkt, dass sich der Beschwerdeführer um eine dauerhafte Integration bemühe. Er spreche sehr gut Deutsch und versuche seine Sprachkenntnisse weiter zu verbessern. Der Beschwerdeführer habe bereits eine Freundin aus Deutschland und würden sie eine Heirat beabsichtigen. Insoweit die Arbeitsmöglichkeiten für Asylwerber in Österreich eingeschränkt seien, sei es ihm bisher nicht geglückt, sich selbständig zu machen.

Abschließend wird beantragt, das Bundesverwaltungsgericht möge

* eine mündliche Verhandlung samt nochmaliger Einvernahme anberaumen;

* Erhebungen im Herkunftsland zur Prüfung der Richtigkeit und Konsistenz der Angaben durchführen;

* den angefochtenen Bescheid - allenfalls nach Verfahrensergänzung - zur Gänze beheben und dem Beschwerdeführer den Status des Asylberechtigten zuerkennen;

* in eventu Spruchpunkt II des angefochtenen Bescheides - allenfalls nach Verfahrensergänzung - beheben und dem Beschwerdeführer den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkennen;

* in eventu Spruchpunkt III des angefochtenen Bescheides beheben und dahingehend abändern, dass die Rückkehrentscheidung für auf Dauer unzulässig erklärt werde und dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus Gründen des Artikel 8 EMRK erteilt werde;

* in eventu den angefochtenen Bescheid ersatzlos beheben und zur Verfahrensergänzung und neuerlichen Entscheidung an das Bundesamt zurückverweisen.

Dem Rechtsmittelschriftsatz sind - jeweils in Kopie - die Seiten 14 bis 17 und 20 des Themenpapiers der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom 23.10.2013 sowie der Entlassungsbrief einer österreichischen Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie vom 09.09.2016 angeschlossen.

15. Die Beschwerdevorlage langte am 31.10.2016 beim Bundesverwaltungsgericht ein. Zur Beschwerde vom 21.10.2016 nahm die belangte Behörde im Zuge der Beschwerdevorlage Stellung. Aufgrund einer Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses wurde das Beschwerdeverfahren mit 11.01.2017 zunächst der Gerichtsabteilung L514 des Bundesverwaltungsgerichtes und infolge einer weiteren Verfügung des Geschäftsverteilungsausschusses mit 27.06.2018 der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichtes zugewiesen.

16. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 03.08.2018 wurde Primar Dr. XXXX , Facharzt für Neurologie, zum Sachverständigen bestellt und mit der Erstellung eines medizinischen Gutachtens zum aktuellen Gesundheitszustand des Beschwerdeführers beauftragt.

17. Mit Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 12.09.2018 wurden dem Beschwerdeführer seitens des Bundesverwaltungsgerichtes - unter Setzung einer vierwöchigen Frist zur Stellungnahme - die aktuellen länderkundlichen Informationen zur Lage in der Türkei vom 03.07.2018 und das medizinische Gutachten vom 17.08.2018 zur Kenntnis gebracht.

18. Zu den aktuellen länderkundlichen Informationen zur Lage in der Türkei vom 03.07.2018 und zum Gutachten vom 17.08.2018 nahm der Beschwerdeführer im Wege der zum damaligen Zeitpunkt bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation mit Schreiben vom 09.10.2018 Stellung.

In dieser wird zunächst unter auszugsweiser Zitierung der übermittelten Länderberichte zur Thematik der "Ehrenmorde" dargelegt, dass diese das Vorbringen des Beschwerdeführers bestätigen würden. Ferner wird aus den aktuellen Länderinformationen des britischen Innenministeriums zur Situation der Kurden in der Türkei vom September 2018 zitiert, wonach Kurden weiterhin in verschiedenen Bereichen diskriminiert werden.

Zum medizinischen Gutachten wird festgehalten, dass der Gutachter zur Frage der Orientiertheit und Einvernahmefähigkeit davon ausgehe, dass der Beschwerdeführer in der Lage sei, seine Fluchtgründe lückenlos und schlüssig zu schildern. Gleichzeitig gehe der Gutachter aber davon aus, dass der Beschwerdeführer zur Behandlung seiner rezidivierenden depressiven Störung Medikamente einnehme. In Frage würden alle gängigen Antidepressiva und Neuroleptika unter Beachtung der Nebenwirkungen kommen. Der Gutachter führe nicht aus, welche (Neben-)Wirkungen die gängigen Antidepressiva und Neuroleptika haben könnten. Wären die angeführten (Neben-)Wirkungen der Medikamente beschrieben worden, hätte das Gutachten zu dem Schluss kommen müssen, dass der Beschwerdeführer unter Einfluss von Medikamenten eventuell nicht orientiert und aus diesem Grunde nicht einvernahmefähig gewesen sei. Das Gutachten sei in diesem Punkt unschlüssig.

Was das Privat- und Familienleben betrifft, so habe der Beschwerdeführer zwischenzeitlich eine italienische Staatsbürgerin geehelicht, die seit ihrer Geburt in Deutschland lebe. Der Beschwerdeführer habe eine gute Beziehung zu den Kindern seiner Gattin und würden die Ehegattin und die Kinder den Beschwerdeführer regelmäßig in Salzburg besuchen. Der Beschwerdeführer wolle zu seiner Gattin nach Deutschland ziehen.

Abschließend wird die ergänzende Befragung des Gutachters zu den Wirkungen und Nebenwirkungen der eingenommenen Antidepressiva und Neuroleptika und deren mögliche Einflussnahme auf die Orientiertheit und Einvernahmefähigkeit des Beschwerdeführers beantragt. Ferner wird hilfsweise beantragt, die Frist für die freiwillige Ausreise des Beschwerdeführers auf vier Monate zum Zwecke der Familienzusammenführung mit seiner Ehegattin in Deutschland zu verlängern. Der Beschwerdeführer benötige Zeit für die Beschaffung eines türkischen Reisepasses in Österreich und eines Einreisevisums.

19. Am 17.10.2018 langte - infolge einer entsprechende Aufforderung des Bundesverwaltungsgerichtes - seitens der zum damaligen Zeitpunkt bevollmächtigten Rechtsberatungsorganisation ein Auszug aus dem Heiratseintrag einer österreichischen Standesamtsbehörde vom 27.06.2018 in Kopie und einer Verlustmeldung bezüglich des türkischen Reisepasses des Beschwerdeführers vom 27.06.2018 in Kopie beim Bundesverwaltungsgericht ein.

20. In der Folge langte am 13.11.2018 die Vollmachtsbekanntgabe des Dr. Peter Lechenauer und der Dr. Margrit Swozil, Rechtsanwälte in 5020 Salzburg, Hubert-Sattler-Gasse 10, ein.

21. Mit Note vom 14.11.2018 übermittelte das Bundesverwaltungsgericht dem Beschwerdeführer zu Handen seiner rechtsfreundlichen Vertretung aktualisierte Informationen zur Lage in der Türkei und stellte ihm eine Stellungnahme hiezu frei.

22. Am 29.11.2018 langte im Wege der rechtsfreundlichen Vertretung eine Stellungnahme des Beschwerdeführers zu den übermittelten länderkundlichen Berichten beim Bundesverwaltungsgericht ein. Der Beschwerdeführer tätigte unter Zitierung verschiedener Länderberichte Ausführungen zu einem ihm drohenden Einzug zum Militärdienst und legte dar, dass die übermittelte Länderinformation angesichts der gegenwärtigen Situation in der Türkei als nicht mehr aktuell bezeichnet werden könne. In diesem Zusammenhang wird zur Frage der jüngsten politischen Lage, insbesondere zur Praxis der Wehrpflicht, die Einholung einer entsprechenden aktuellen Länderinformation beantragt.

23. Am 03.12.2018 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein des Beschwerdeführers und eines Dolmetschers für die türkische Sprache durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde dem Beschwerdeführer einerseits Gelegenheit gegeben, neuerlich seine Ausreisemotivation umfassend darzulegen sowie die aktuelle Lageentwicklung in der Türkei und die Lage von Kurden in der Türkei anhand aktueller Länderdokumentationsunterlagen erörtert, wobei die hiezu abgegebene Stellungnahme des Beschwerdeführers vom 28.11.2018 verlesen wurde. Ferner wurde die Gattin des Beschwerdeführers, XXXX , als Zeugin einvernommen und erstatte Primar Dr. XXXX Facharzt für Neurologie, in der Verhandlung ein ergänzendes Gutachten aufgrund des Vorhaltes in der Stellungnahme vom 09.10.2018 zur Frage der Orientiertheit und Einvernahmefähigkeit.

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist der mündlichen Verhandlung entschuldigt ferngeblieben und hat die Abweisung der gegenständlichen Beschwerde mit Schreiben vom 09.11.2018 beantragt.

Im Gefolge der mündlichen Verhandlung brachte der Beschwerdeführer einen Auszug aus dem Heiratseintrag einer österreichischen Standesamtsbehörde vom 27.06.2018, eine Meldebestätigung vom 30.11.2017, einen arbeitsrechtlichen Vorvertrag, eine Unterschriftenliste von Unterstützern, einen türkischen Staatsbürgerschaftsnachweis vom 24.08.2017 und ein türkisches Ehefähigkeitszeugnis in Vorlage.

24. Am 06.12.2018 langte im Wege seiner rechtsfreundlichen Vertretung eine Stellungnahme des Beschwerdeführers zu den ihr mit Note vom 14.11.2018 übermittelten länderkundlichen Informationen beim Bundesverwaltungsgericht ein, wobei festgehalten wurde, dass am 28.11.2018 versehentlich eine falsche Stellungnahme eingebracht wurde.

Der Stellungnahme ist ein Deutschzertifikat Niveau A1 vom 28.11.2018 angeschlossen.

25. Am 21.12.2018 und am 21.01.2019 langten im Wege seiner rechtsfreundlichen Vertretung zwei als Mitteilung beziehungsweise Stellungnahme titulierte Schreiben des Beschwerdeführers zur Frage eines unionsrechtlichen Aufenthaltsrechtes des Beschwerdeführers in der Bundesrepublik Deutschland als Angehöriger einer Unionsbürgerin ein.

26. Am 15.03.2019 langte schließlich eine Verständigung des Landesgerichtes XXXX über eine strafgerichtliche Verurteilung des Beschwerdeführers beim Bundesverwaltungsgericht ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Verfahrensbestimmungen

Gemäß § 27 des Bundesgesetzes über das Verfahren der Verwaltungsgerichte (Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz - VwGVG), BGBl. I 33/2013 idF BGBl. I Nr. 57/2018, hat das Verwaltungsgericht, soweit es nicht Rechtswidrigkeit wegen Unzuständigkeit der Behörde gegeben findet, den angefochtenen Bescheid, die angefochtene Ausübung unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt und die angefochtene Weisung auf Grund der Beschwerde (§ 9 Abs. 1 Z 3 und 4 VwGVG) oder auf Grund der Erklärung über den Umfang der Anfechtung (§ 9 Abs. 3 VwGVG) zu überprüfen.

Gemäß § 28 Absatz 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist, die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen.

Gemäß § 28 Absatz 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.

2. Feststellungen:

2.1. Der Beschwerdeführer führt den im Spruch angegebenen Namen und ist Staatsangehöriger der Türkei. Er wurde am XXXX in XXXX geboren und wuchs in der gleichnamigen Provinz auf. Vor seiner Ausreise lebte der Beschwerdeführer für etwa eineinhalb bis zwei Jahre bei einem Freund in Istanbul. Er ist Angehöriger der kurdischen Volksgruppe und der sunnitischen Glaubensrichtung sowie ledig. Der Beschwerdeführer beherrscht - außer der kurdischen Sprache - Türkisch in Wort und Schrift. Die Identität des Beschwerdeführers steht fest.

Nach einem fünfjährigen Besuch der Grundschule in seinem Heimatdorf, besuchte er drei Jahre eine Hauptschule und ein Jahr ein Lyzeum, wobei er Letzteres nicht abschloss. Zur Bestreitung seines Lebensunterhaltes war der Beschwerdeführer gemeinsam mit seinem Vater als Imker tätig. Vor seiner Ausreise ging der Beschwerdeführer auch längere Zeit einer Erwerbstätigkeit als Abwäscher in Istanbul nach. Seinen Wehrdienst in der türkischen Armee hat der Beschwerdeführer etwa in den Jahren 2004 und 2005 abgeleistet.

Der Beschwerdeführer lebte vor seinem Aufenthalt in Istanbul und der anschließenden Ausreise gemeinsam mit XXXX Eltern in einem Haus in der Provinz XXXX . Seine Eltern halten sich noch immer dort auf.

In der Türkei leben außer XXXX Eltern noch drei Schwestern. Zwei weitere Schwestern und ein Bruder halten sich in der Bundesrepublik Deutschland auf. Der Beschwerdeführer hat keinen Kontakt zu seinen Geschwistern.

Im Mai 2015 verließ der Beschwerdeführer die Türkei illegal und schlepperunterstützt mit einem Lastkraftwagen und gelangte auf dem Landweg nach Österreich, wo er am 29.05.2015 den verfahrensgegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz stellte.

2.2. Der Beschwerdeführer gehört keiner politischen Partei oder politisch aktiven Gruppierung an und hatte in seinem Herkunftsstaat keine Schwierigkeiten aufgrund seines Religionsbekenntnisses zu gewärtigen. Der Beschwerdeführer gehört nicht der Gülen-Bewegung an und war nicht in den versuchten Militärputsch in der Nacht vom 15.07.2016 auf den 16.07.2016 verstrickt.

Vor der Ausreise des Beschwerdeführers wurde die der ethno-religiösen Gruppe der Jesiden angehörende Lebensgefährtin des Beschwerdeführers an einem nicht feststellbaren Tag im Jahr 2011 oder 2013 oder 2014 von deren Familie getötet, weil diese Familie die Beziehung zum sich zum sunnitischen Islam bekennenden Beschwerdeführer missbilligte.

Es kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer vor seiner Ausreise aus seinem Herkunftsstaat einer individuellen Gefährdung oder psychischer und/oder physischer Gewalt durch staatliche Organe oder durch Dritte ausgesetzt war oder er im Falle einer Rückkehr dorthin einer solchen mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt wäre.

Insbesondere kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer in seinem Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit durch Familienangehörige seiner Lebensgefährtin psychischer und/oder physischer Gewalt aus dem Motiv der "Blutrache" ausgesetzt ist. Ferner kann nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer im Rückkehrfall mit Strafverfolgung zu rechnen hätte bzw. er aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit Defiziten beim Zugang zu staatlichem Schutz ausgesetzt wäre.

Die türkischen Behörden sind willens und fähig, der Begehung von Gewaltverbrechen wirksam mit sicherheitsbehördlichen Maßnahmen sowie im Wege der Strafjustiz zu begegnen.

Ihm steht im Falle einer Rückkehr in die Türkei auch eine zumutbare und taugliche Aufenthaltsalternative in einer Großstadt wie Istanbul zur Verfügung. Dort kam es bereits in der Vergangenheit - während des mehrmonatigen Aufenthalts vor der Ausreise - zu keiner individuellen Verfolgung der dem sunnitischen Mehrheitsglauben und der kurdischen Volksgruppe angehörenden Beschwerdeführer durch Dritte und wären die existentiellen Lebensgrundlagen des Beschwerdeführers dort angesichts der finanziellen Unterstützung durch in der Provinz XXXX lebende Familienmitglieder - etwa durch Überweisungen - oder durch Aufnahme einer eigenen beruflichen Tätigkeit gesichert. Die Sicherheitslage in der Türkei ist als angespannt zu bezeichnen und ist die Türkei nach wie vor mit einer gewissen terroristischen Bedrohung durch Gruppierungen wie den Islamischen Staat oder der PKK konfrontiert. Die Millionenmetropole Istanbul gilt als vergleichsweise sicher. Istanbul erlitt im Jahr 2016 zwei Anschläge mit mehr als 52 Toten. In der Silvesternacht 2016/2017 verzeichnete Istanbul einen weiteren Anschlag mit 39 Todesopfern. Für die Jahre 2017 und 2018 sowie das bisherige erste Quartal 2019 sind den herangezogenen Länderfeststellungen hingegen keine terroristischen Angriffe entnehmbar, weshalb hier von einer stabilen Sicherheitslage auszugehen ist. Die Stadt Istanbul ist für den Beschwerdeführer auch direkt erreichbar.

Es kann nicht festgestellt werden, dass dem Beschwerdeführer im Falle einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat die Todesstrafe droht. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung des Beschwerdeführers festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge in der Türkei.

2.3. Der Beschwerdeführer ist ein arbeitsfähiger Mensch mit bestehenden Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat und einer - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherten Existenzgrundlage. Er verfügt über Berufserfahrung als Imker und als Abwäscher im Gastronomiebereich.

Physisch weist der Beschwerdeführer keine maßgeblichen körperlichen Einschränkungen oder Erkrankungen auf.

Der Beschwerdeführer leidet an einer rezidivierenden depressiven Störung, welche im Sommer 2018 leicht- bis mittelgradig ausgeprägt war. Anfang Dezember 2018 fühlte er sich subjektiv beschwerdefrei und ist nicht von einer dauerhaften Behandlungsbedürftigkeit des Krankheitsbildes auszugehen. Im Fall einer Abschiebung des Beschwerdeführers in die Türkei ist eine kurz- bis mittelfristige Verschlechterung der depressiven Störung möglich. Eine signifikante Verschlechterung des Gesundheitszustandes, insbesondere ein lebensbedrohlicher Zustand im Fall einer Rückführung in die Türkei ist nicht anzunehmen.

Die österreichischen Behörden würden eine Abschiebung in der Form gestalten, dass zur Vorbeugung gegen allfällige gesundheitliche Beeinträchtigungen darauf geachtet wird, in Hinblick auf ein allfälliges Suizidrisiko durch entsprechende medizinische Unterstützung besondere Sorge zu tragen.

Der Beschwerdeführer befindet sich derzeit in keiner medikamentösen antidepressiven Therapie. Bis Anfang November 2018 wurden die Medikamente Risperdal und Sertralin vom Beschwerdeführer eingenommen.

Dem Beschwerdeführer steht in der Türkei der Zugang zu ärztlicher Hilfe und zu einer adäquaten Krankenbehandlung offen.

Der Beschwerdeführer verfügt für den Fall der Rückkehr über ein türkisches Identitätsdokument (Nüfus) im Original und über eine Wohnmöglichkeit bei Verwandten in der Provinz XXXX .

2.4. Der Beschwerdeführer hält sich seit Ende Mai 2015 in Österreich auf. Er reiste rechtswidrig in Österreich ein, ist seither Asylwerber und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel.

Am 22.06.2018 ging der Beschwerdeführer mit einer italienischen Staatsbürgerin, die in XXXX in der Bundesrepublik Deutschland wohnhaft ist, eine Ehe ein. Der Beschwerdeführer wird von seiner Gattin und deren minderjährigen Kindern so oft wie möglich in Österreich besucht. Ein gemeinsamer Wohnsitz besteht derzeit nicht. Der Beschwerdeführer und seine Ehefrau beabsichtigen, gemeinsam in der Bundesrepublik Deutschland zu leben.

Der Beschwerdeführer erlangte zur Eheschließung beim türkischen Generalkonsulat in Salzburg am 04.12.2017 einen Auszug aus dem türkischen Geburtenregister und bereits am 24.08.2017 eine Bestätigung über seine türkische Staatsbürgerschaft. Die Beantragung einer Aufenthaltskarte als Familienangehöriger einer EU-Bürgerin bei den deutschen Behörden bzw. beim zuständigen Honorarkonsulat der Bundesrepublik Deutschland erachtet der Beschwerdeführer als unzumutbar, da er keinen türkischen Reisepass besitze und als Asylwerber auch keinen Reisepass beantragen könne.

Der Beschwerdeführer bezieht derzeit Leistungen der staatlichen Grundversorgung für Asylwerber und lebt in einer Unterkunft für Asylwerber in Salzburg. Der Beschwerdeführer ist derzeit nicht legal erwerbstätig und für niemanden sorgepflichtig. Er verfügt über einen arbeitsrechtlichen Vorvertrag mit einem Restaurant (Kebabimbiss) in Salzburg über eine Beschäftigung im Ausmaß von 40 Wochenstunden.

Der Beschwerdeführer pflegt normale soziale Kontakte. Er besucht(e) mehrere Deutschkurse. Er beherrscht die deutsche Sprache in einem für die alltägliche Verständigung ausreichenden Umfang und hat am 23.11.2018 die Prüfung auf dem Niveau A1 abgelegt. Der Beschwerdeführer ist kein Mitglied in in einem Verein. Gemeinnützigen Tätigkeiten ist der Beschwerdeführer - von Hilfstätigkeiten bei der Caritas - nicht nachgegangen.

2.5. Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom 16.11.2015, rechtskräftig seit 20.11.2015, wegen Urkundenfälschung nach § 223 Abs. 2 StGB und wegen Erschleichung einer Leistung nach § 149 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Wochen, bedingt unter einer Probezeit von drei Jahren, verurteilt.

Ferner wurde der Beschwerdeführer mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 04.03.2019, rechtskräftig am selben Tag, wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung gemäß § 84 Abs. 4 StGB zu einer Freiheitsstrafe von sechs Monaten, bedingt unter einer Probezeit von drei Jahren, verurteilt. Dem Schuldspruch zufolge hat der Beschwerdeführer am 02.07.2018 in Salzburg einen Dritten durch Versetzen mehrere Faustschläge zu Sturz gebracht und dabei in Form einer Fraktur des rechten Daumens verletzt, wobei die Verletzung eine mehr als 24 Tage währende Gesundheitsschädigung und Berufsunfähigkeit nach sich zog. Der Beschwerdeführer erklärte in der mündlichen Strafverhandlung, auf Rechtsmittel zu verzichten.

Sein Aufenthalt war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Z. 3 FPG geduldet. Der Aufenthalt des Beschwerdeführers im Bundesgebiet ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Der Beschwerdeführer wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

2.6. Zur gegenwärtigen Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der abgekürzt zitierten und dem Beschwerdeführer offengelegten Quellen getroffen:

1. Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems per 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder der Großen Türkischen Nationalversammlung, ein Einkammerparlament, werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

In der Verfassung wird die Einheit des Staates festgeschrieben, wodurch die türkische Verwaltung zentralistisch aufgebaut ist. Es gibt mit den Provinzen, den Landkreisen und den Gemeinden (belediye/mahalle) drei Verwaltungsebenen. Die Gouverneure der 81 Provinzen werden vom Innenminister ernannt und vom Staatspräsidenten bestätigt. Den Landkreisen steht ein vom Innenminister ernannter Regierungsvertreter vor. Die Bürgermeister und Dorfvorsteher werden vom Volk direkt gewählt, doch ist die politische Autonomie auf der kommunalen Ebene stark eingeschränkt (bpb 11.8.2014).

Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Der Kandidat der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Muharrem Ince, erhielt 30.6%. Der seit November 2016 inhaftierte ehemalige Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtas, erhielt 8,4% und die Vorsitzende der neu gegründeten Iyi-Partei, Meral Aksener, erreichte 7,3%. Die übrigen Mitbewerber lagen unter einem Prozent. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Internationale Wahlbeobachter der ODIHR-Beobachtermission konstatieren in ihrem vorläufigen Bericht vielfältige Verstöße gegen den Fairnessgrundsatz (u.a. ungleicher Medienzugang, Wahl unter Ausnahmezustand) die aber die Legitimität des Gesamtergebnisses insgesamt nicht in Frage stellen. Der Wahlkampf fand freilich in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).

Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018).

Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).

In der Nacht vom 15.7. auf den 16.7.2016 kam es zu einem versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee. Insbesondere Istanbul und Ankara waren von bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen. In Ankara kam es u.a. zu Angriffen auf die Geheimdienstzentrale und das Parlamentsgebäude. In Istanbul wurde der internationale Flughafen vorrübergehend besetzt. Der Putsch scheiterte jedoch. Kurz vor Mittag des 16.7.16 erklärte der türkische Ministerpräsident Yildirim, die Lage sei vollständig unter Kontrolle (NZZ 17.7.2016). Mehr als 300 Menschen kamen ums Leben (Standard 18.7.2016). Sowohl die regierende islamisch-konservative Partei AKP als auch die drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien - CHP, MHP und die pro-kurdische HDP - hatten sich gegen den Putschversuch gestellt (SD 16.7.2016). Unmittelbar nach dem gescheiterten Putsch wurden 3.000 Militärangehörige festgenommen. Gegen 103 Generäle wurden Haftbefehle ausgestellt (WZ 19.7.2016a). Das Innenministerium suspendierte rund 8.800 Beamte, darunter 7.900 Polizisten, über 600 Gendarmen sowie 30 Provinz- und 47 Distriktgouverneure (HDN 18.7.2016). Über 150 Höchstrichter und zwei Verfassungsrichter wurden festgenommen (WZ 19.7.2016a; vgl. HDN 18.7.2016). Die Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter zeigte sich tief betroffenen über die aktuellen Entwicklungen in der Türkei. Laut Richtervereinigung dürfen in einem demokratischen Rechtsstaat Richterinnen und Richter nur in den in der Verfassung festgelegten Fällen und nach einem rechtsstaatlichen und fairen Verfahren versetzt oder abgesetzt werden (RIV 18.7.2016).

Staatspräsident Erdogan und die Regierung sahen den im US-amerikanischen Exil lebenden Führer der Hizmet-Bewegung, Fethullah Gülen, als Drahtzieher der Verschwörung und forderten dessen Auslieferung (WZ 19.7.2016b). Präsident Erdogan und Regierungschef Yildirim sprachen sich für die Wiedereinführung der 2004 abgeschafften Todesstrafe aus, so das Parlament zustimmt (TS 19.7.2016; vgl. HDN 19.7.2016). Neben zahlreichen europäischen Politikern machte daraufhin auch die EU-Außenbeauftragte, Federica Mogherini, klar, dass eine EU-Mitgliedschaft der Türkei unvereinbar mit Einführung der Todesstrafe ist. Zudem sei die Türkei Mitglied des Europarates und somit an die europäische Menschrechtskonvention gebunden (Spiegel 19.7.2016).

Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen

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Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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