Entscheidungsdatum
29.03.2019Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W198 2188105-1/11E
W198 2188107-1/11E
W198 2188072-1/11E
W198 2188110-1/11E
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Karl SATTLER als Einzelrichter über die Beschwerden von 1. XXXX , geboren am XXXX (BF1), 2. XXXX , geboren am XXXX (BF2), 3. mj. XXXX , geboren am XXXX (BF3), 4. mj. XXXX , geboren am XXXX (BF4), alle Staatsangehörigkeit Afghanistan, BF3 und BF4 vertreten durch den Vater XXXX als gesetzlicher Vertreter, alle vertreten durch die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, diese vertreten durch Mag. Marion ERNST, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.01.2018, Zlen XXXX , XXXX , XXXX und XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 25.03.2019 zu Recht erkannt:
A)
I. Die Beschwerden gegen Spruchpunkt I. der angefochtenen Bescheide werden gemäß
§ 3 Abs. 1 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.
II. Den Beschwerden gegen Spruchpunkt II. der angefochtenen Bescheide wird stattgegeben und mj. XXXX sowie mj. XXXX gemäß
§ 8 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 sowie XXXX und XXXX gemäß
§ 8 Abs. 1 Z 1 iVm § 34 Abs. 3 AsylG 2005 der Status von subsidiär
Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
III. Gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 wird mj. XXXX und mj. XXXX sowie
XXXX und XXXX jeweils eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 29.03.2020 erteilt.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang
1. Die BF1 und der BF2 sind illegal in die Republik Österreich eingereist und haben am 31.10.2015 Anträge auf internationalen Schutz gestellt.
2. Gleichzeitig wurde jeweils ein Antrag auf internationalen Schutz für die BF3, am XXXX geborenes Kind der BF1 und des BF2 sowie für den BF4, am XXXX geborenes Kind der BF1 und des BF2, gestellt.
3. Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 31.10.2015 gab die BF1 an, dass ihr Aufenthalt im Iran bis zu ihrer Heirat legal gewesen sei. Nach ihrer Verheiratung hätte ihr Mann keine Aufenthaltsgenehmigung mehr gehabt und sei ihre Aufenthaltsgenehmigung ebenfalls nicht mehr verlängert worden. Ohne Dokumente sei das Leben im Iran sehr problematisch. Ihre Kinder könnten keine Schule besuchen und es bestünde die Gefahr, dass sie nach Afghanistan abgeschoben werden. Sie sei noch nie in Afghanistan gewesen und kenne niemanden dort.
4. Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 31.10.2015 gab der BF2 zu seinem Fluchtgrund an, dass er bereits als Kind Afghanistan verlassen hätte. Bis vor zehn Jahren sei sein Aufenthalt im Iran legal gewesen. Danach sei seine Aufenthaltsgenehmigung nicht verlängert worden, weswegen das Leben im Iran immer schwieriger geworden sei. Seine Frau sei im Iran geboren und aufgewachsen, kenne Afghanistan nicht und als illegale Person im Iran bestünde die Gefahr, dass die Familie nach Afghanistan abgeschoben werde. Als Illegale könnten seine Kinder keine Schule besuchen und hätten keine Zukunft.
5. Die BF1 wurde am 28.11.2017 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari niederschriftlich einvernommen. Dabei gab sie an, dass sie im Iran geboren und aufgewachsen sei und bis zu ihrer Ausreise gelebt hätte. Ihre beiden Kinder seien im Iran geboren worden. Zu ihren Fluchtgründen befragt, führte sie aus, dass sie aufgrund der Probleme ihres Ehemannes, der keine Aufenthaltsgenehmigung im Iran gehabt und deswegen viele Probleme gehabt hätte, den Iran verlassen hätte. Ihr Mann hätte ihrer Mutter beim Umzug von Mashad nach Teheran geholfen. Unterwegs seien sie nach Personalausweis oder Dokumenten gefragt worden. Da ihr Mann keine Aufenthaltsgenehmigung hatte, wurde er auf eine Polizeistation mitgenommen. Ihr Mann sei in einem Abschiebezentrum gewesen. Die Behörden hätten gesagt, dass er nach Afghanistan abgeschoben werden soll oder nach Syrien in den Bürgerkrieg ziehen müsse. Ihr Ehemann hätte dann beschlossen, dass er nach Syrien in den Bürgerkrieg ziehen werde. Später sei er zurück nach Hause gekommen und hätten sie sich danach entschieden, den Iran zu verlassen.
6. Der BF2 wurde am 28.11.2017 beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari ebenfalls niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er an, dass er in Kabul geboren sei, Afghanistan wegen des Krieges im Alter von acht Jahren gemeinsam mit seinen Eltern verlassen hätte und illegal in den Iran gegangen sei. Zu seinem Fluchtgrund führte der BF2 aus, dass er im Iran keine Aufenthaltsgenehmigung gehabt hätte. Am Weg zur Arbeit, hätten ihn die Iraner belästigt. Manchmal hätte er die iranische Polizei, wenn sie ihn aufgrund seiner fehlenden Aufenthaltsgenehmigung festgenommen hätten bestochen, worauf sie ihn wieder freiließen. Er hätte der Familie seiner Frau beim Umzug von Mashad nach Teheran geholfen. Dabei seien sie von iranischen Behörden angehalten und nach Ausweisen gefragt worden. Er sei dann in ein Zentrum für afghanische Flüchtlinge gebracht worden. Als er in diesem Zentrum gewesen sei, sei jeden Tag ein Mullah gekommen, der gepredigt und gesagt hätte, dass sie in den Bürgerkrieg nach Syrien müssten. Er hätte sich gedacht, dass es besser sei nach Afghanistan zurückzukehren, als in Syrien Krieg zu führen. Nachdem er sich über die Vorteile, die es gegeben hätte, wenn er nach Syrien in den Krieg ginge informiert hätte, hätte er sich angemeldet. Da er nicht in den Krieg ziehen wollte, hätte er binnen ein oder zwei Wochen den ganzen Haushalt und Goldschmuck verkauft, die Wohnung zurückgegeben und seien sie illegal mit einem Schlepper über Teheran, ausgereist. Drei Tage seien sie in Teheran bei der Mutter der Frau gewesen, bevor der Bruder seiner Frau einen Schlepper besorgt hätte. Dann seien sie von Teheran ihn die Türkei gereist.
7. Mit nunmehr angefochtenen Bescheiden vom 22.01.2018 wurden die Anträge der BF1, des BF2, der BF3 und des BF4 auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG wurde eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkte III und IV). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.).
In der Bescheidbegründung traf die belangte Behörde jeweils Feststellungen zu den Personen der BF, zu deren Fluchtgrund, zur Situation im Falle der Rückkehr und zur Situation im Herkunftsstaat. Es wurde ausgeführt, dass eine asylrelevante Verfolgung in Afghanistan nicht glaubhaft gemacht werden habe können. Es seien auch keine Gründe hervorgekommen, die eine Gewährung von subsidiärem Schutz rechtfertigen würden.
8. Gegen verfahrensgegenständlich angefochtene Bescheide vom 22.01.2018 erhoben die BF1, der BF2, die BF3 und der BF4 mit Schriftsatz ihrer rechtsfreundlichen Vertretung vom 26.02.2018 (bei der belangten Behörde einlangend) fristgerecht in vollem Umfang Beschwerde. Die angefochtenen Bescheide würden unter Rechtswidrigkeit des Inhalts, unrichtiger rechtlicher Beurteilung und Mangelhaftigkeit des Verfahrens aufgrund fehlerhafter bzw. unzureichender Ermittlungen und mangelhafter Beweiswürdigung leiden.
Der BF2 befände sich im wehrfähigen Alter, er hätte im Falle seiner Rückkehr mit einer Verfolgung aufgrund unterstellter politischer Gesinnung (unterstellte politische Gesinnung wegen seines Iranaufenthaltes) zu rechnen.
Sämtliche Beschwerdeführer gehören der religiösen Minderheit der Schiitin sowie der ethnischen Minderheit der Hazara an. Die BF2 würde als westlich orientierte Frau, wegen ihrer Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen, verfolgt werden.
Es bestehe auch keine innerstaatliche Fluchtalternative für die BF. Aufgrund der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan hätten den Beschwerdeführern zumindest subsidiärer Schutz gewährt werden müssen. Die Beschwerdeführer seien in Österreich schon gut integriert, die BF1 und der BF2 lernen beide fleißig Deutsch, helfen ehrenamtlich und hätten viele Freunde und Bekannte in Österreich. Die BF3 Besuche die erste Klasse der Volksschule als außerordentliche Schülerin und zeige großes Engagement. Der minderjährige Sohn Besuche den Kindergarten. Beide Kinder hätten viele Freunde gefunden und sein gut integriert. Eine Rückkehrentscheidung würde einen unzulässigen Eingriff in das Recht auf Achtung des Privat und Familienlebens darstellen und gegen Art. 8 EMRK verstoßen.
9. Die Beschwerden und die Bezug habenden Verwaltungsakten langten am 05.03.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein.
10. Mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichts vom 22.03.2019 wurde den BF - unter Hinweis auf die mit der Verhandlungsausschreibung bereits bekannt gegebenen Feststellungen und Erkenntnisquellen zur Lage im Herkunftsstaat, die aktualisierte Form der UNHCR Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanische Asyl suchende vom 13.08.2018 zur Kenntnis gebracht und mitgeteilt, dass diese ebenfalls der Entscheidung zugrunde gelegt werden.
11. Vor dem Bundesverwaltungsgericht wurde in der gegenständlichen Rechtssache am 25.03.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung unter Beisein der BF1, des BF2, der BF3 und des BF4 und deren Rechtsvertretung sowie eines Dolmetschers für die Sprache Dari durchgeführt. Die belangte Behörde entschuldigte ihr Fernbleiben.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1 Zu den Beschwerdeführern:
Die BF1 bis BF4 sind Staatsangehörige von Afghanistan. Die BF1, der BF2, die BF3 und der BF4 lebten vor ihrer Ausreise nach Europa im Iran, in der Stadt Mashad.
Sämtliche BF sind schiitischen Bekenntnisses und gehören der Volksgruppe der Hazara an.
Der BF2 ist in der Stadt Kabul geboren und hat dort bis zu seinem achten Lebensjahr gewohnt. Danach ist er mit seinen Eltern wegen des Krieges in Afghanistan in den Iran gegangen. Der BF2 hat in Afghanistan zwei Jahre eine öffentliche Schule besucht. Im Iran ist er acht Jahre zur Schule gegangen. Danach hat er im Iran bis zu seiner Ausreise als Schneider gearbeitet.
Der Vater des BF ist in Afghanistan verstorben, seine Mutter, ca. 77 Jahre, und seine zwei Brüder, ca. 43 Jahre und 33 Jahre alt, leben in Pakistan. Ein ca. 47-jähriger Bruder, zu dem der BF2 Kontakt hat, lebt in Kabul. Dieser Bruder ist mittlerweile krank. Er hat ein großes Problem mit der Bandscheibe. Er kann daher nicht mehr so arbeiten, wie ein gesunder Mensch, er ist aber nicht arbeitslos. Seit 2010 lebt eine ca. 39-jährige Schwester des BF2 in Amerika.
Am 16.2.2009 haben die BF1 und der BF2 im Iran, Stadt Mashad, traditionell geheiratet.
Die BF1 ist im Iran geboren und aufgewachsen. Sie ist im Iran zehn Jahre lang in eine iranische öffentliche Schule gegangen. Die letzten beiden Schuljahre hat sie nicht gemacht. Sie hat keine sonstige Ausbildung und keine Berufserfahrung.
Die BF1 hat keine Angehörigen in Afghanistan. Ihr Vater ist bereits verstorben. Ihre Mutter, ca. 78 Jahre, ihr Bruder, ca. 40 Jahre sowie ihre Schwester, ca. 44 Jahre, leben im Iran
Die minderjährigen BF3 und BF4 sind die gemeinsamen Kinder der BF1 und des BF2 und haben ihren Lebensmittelpunkt im Kreise der Familie.
Es halten sich keine sonstigen Familienangehörigen oder Verwandten der BF in Österreich auf.
Die BF sind in Österreich strafrechtlich unbescholten (bzw. strafunmündig).
Die BF1, der BF2, die BF3 und der BF4 sind gesund.
Die BF1 ist schwanger.
Die BF1 und der BF2 haben in Österreich Deutschkurse besucht. Die BF1 besucht derzeit weder eine Schule noch einen Deutschkurs, weil sie schwanger ist. Sie geht zu zwei männlichen Personen um Deutsch zu lernen, manchmal kommen diese auch zu ihr nach Hause. Es konnte nicht festgestellt werden, dass die BF1 allein andere männliche Personen trifft.
Der BF2 geht zweimal in der Woche zum Sprachkaffee, manchmal geht auch die BF1 zum Sprachkaffee.
Die BF1 und der BF2 haben eine Deutschprüfung auf dem Niveau A1 abgelegt. Der BF2 auch hat einen Deutschkurs für Asylwerber für A2- Niveau besucht. Es konnte nicht festgestellt werden, dass sich die BF1 für die Nachholung des Pflichtschulabschlusses eingeschrieben hat.
Trotzdem die BF1 und der BF2 Deutschkurse besucht und weiter privat Deutsch lernen (BF1) bzw. in ein Sprachkaffee gehen (BF1 und BF2), eine Deutschprüfung auf dem Niveau A1 abgelegt haben sind ihre Deutschkenntnisse dürftig. Eine Verständigung mit beiden in Deutsch, auch hinsichtlich ganz einfacher Sachverhalte, wie beispielsweise der Schilderung des Tagesablaufes während der Woche, ist schwer möglich (BF1) bzw. nur eingeschränkt möglich (BF2).
Die BF1 leistete freiwillig ehrenamtliche Arbeit für das XXXX in Linz.
Der BF2 ist für den Verein XXXX , bei Reparaturarbeiten aller Art, für die XXXX , beim Flohmarkt in der Küche sowie mehrmals für das XXXX freiwillig tätig geworden. Er hat darüber hinaus bei der XXXX GmbH bei LKW- Anlieferungen sowie bei der Beladung Unterstützungsleistungen erbracht sowie die dortige Werkstatt in Ordnung gehalten und auf Sauberkeit geachtet. Der BF2 macht in Österreich jeden Tag zwischen 18:00 und 21:00 Uhr Sport beim Club XXXX . Die BF1 war noch nie in einem Fitnessstudio/Fitnessklub.
Der BF2 hat zu keinem Zeitpunkt für die iranische Arme in Syrien gekämpft.
Die BF1 und der BF2 haben an einem Werte- und Orientierungskurs teilgenommen.
In den Schuljahren 2016/ 2017 und 2017/2018 besuchte die BF3 als außerordentliche Schülerin die Volksschule XXXX . Seit dem Schuljahr 2018/2019 ist sie ordentliche Schülerin der Klasse 2ci (2. Schulstufe) der Volksschule XXXX .
Der BF4 besucht seit 03.09.2018 den städtischen Kindergarten in XXXX
.
1.2 Zu den Fluchtgründen der Beschwerdeführer:
Ein konkreter asylrelevanter Anlass für das Verlassen des Herkunftsstaates konnte nicht festgestellt werden. Es konnte auch nicht festgestellt werden, dass die BF im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr ausgesetzt sind.
Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF1 seit ihrer Einreise in Österreich am 31.10.2015 eine Lebensweise angenommen hat, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt und eine "westliche Lebensführung" angenommen hat. Bei der BF1 handelt es sich nicht um eine auf Eigen- und Selbstständigkeit bedachte Frau, die in ihrer persönlichen Wertehaltung und in ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten, allgemein als "westlich" bezeichneten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie kümmert sich in Österreich überwiegend um den Haushalt und die Erziehung ihrer zwei Kinder. Ihr Ehemann unterstützt sie dabei nur eingeschränkt, weil der BF2 nicht oft zu Hause ist. Ein ausgeprägtes Freizeitverhalten, wie es der BF2 pflegt, indem er täglich zwischen 18:00 und 21:00 Uhr im Fitnessklub ist und daneben noch zwei Mal pro Woche im Sprachkaffee ist, konnte bei der BF1 nicht festgestellt werden. Es konnte nicht festgestellt werden, ob die BF1 alleine oder gemeinsam mit den Kindern spazieren, einkaufen geht und Rad fährt, ob sie bestimmte Behördenwege (Verlängerung der Aktivkarte, Abholung der Fahrkarte) und Arztbesuche, insbesondere wenn die Kinder krank sind, alleine absolviert. Ebenso wenig konnte festgestellt werden, wie sich die BF1 außerhalb der mündlichen Verhandlung üblicherweise kleidet und welchen Kleidungsstil sie dabei pflegt. Sie bringt ihre zwei Kinder manchmal alleine zu frei zugänglichen Schwimmbädern. Im Sommer bringt sie einmal in der Woche ihre Kinder alleine zum privaten Schwimmbad des Pfarrers der Pfarre XXXX . Die BF1 verfügt über kein eigenes Bankkonto. Der BF2 hat ein eigenes Bankkonto. Die BF1 hat keinerlei Zeichnungsberechtigung bezüglich dieses Kontos. Sie bekommt die Bankomatkarte des BF2, insbesondere, wenn sie zum Einkaufen geht.
Die BF1 möchte in Österreich irgendeinen Job im Kindergarten in Teilzeit machen und daneben auch den Beruf Friseur erlernen. Ihre Vorstellungen hinsichtlich dieser Berufsziele sind vage, ihre Vorstellungen beruhen teilweise auf Vermutungen und hat die BF1 bislang keine konkreten Schritte unternommen diese Berufsziele zu erreichen. Die Umsetzung dieser Berufsziele ist, gemessen an ihren gegenwärtigen deutschsprachlichen Fähigkeiten, nicht erfolgversprechend.
Die weiblichen BF (BF1 und BF3) wären im Herkunftsstaat alleine aufgrund ihres Geschlechts keiner asylrelevanten Verfolgung ausgesetzt.
Hinsichtlich der BF3 ist aufgrund ihres jungen und anpassungsfähigen Alters von nicht ganz neun Jahren keine derart fortgeschrittene Persönlichkeitsentwicklung abzusehen, aufgrund derer eine Verinnerlichung eines "westlichen Verhaltens" oder eine "westlichen Lebensführung" als wesentlicher Bestandteil ihrer Identität angenommen werden könnte.
Die BF3 wäre in Afghanistan aufgrund ihres Geschlechts auch nicht von der Inanspruchnahme von Bildungsmöglichkeiten (insbesondere Schulbesuch) ausgeschlossen oder maßgeblich beschränkt. In Afghanistan besteht Schulpflicht. Vor diesem Hintergrund ist auch keine asylrelevante Verfolgung der minderjährigen BF3 für den Fall zu befürchten, dass die Eltern ihr bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine grundlegende Bildung zukommen lassen wollten. Die BF1 und der BF2 befürworten aktuell eine künftige schulische Ausbildung ihrer Tochter und würden der BF3 auch in Afghanistan einen Schulbesuch gestatten.
Schließlich konnte nicht festgestellt werden, dass der BF3 und dem BF4 alleine aufgrund ihres Alters bzw. vor dem Hintergrund der Situation von Kindern in Afghanistan mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit physische und/oder psychische Gewalt asylrelevanter Intensität drohen würde.
Nicht festgestellt werden kann, dass der BF2 als Rückkehrer mit westlicher Orientierung in Afghanistan einer Verfolgung ausgesetzt wäre.
Nicht festgestellt werden kann, dass dem BF2 aufgrund einer unterstellten politischen Gesinnung (wegen seines Iranaufenthaltes) droht.
Nicht festgestellt werden kann, dass dem BF2 im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan Zwangsrekrutierung durch die Taliban droht.
Nicht festgestellt werden kann, dass den BF wegen ihrer Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara Verfolgung in Afghanistan droht.
Im Falle einer Verbringung des BF2 in seinen Herkunftsstaat droht diesem kein reales Risiko einer Verletzung der Art. 2 oder 3 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl. Nr. 210/1958 (in der Folge EMRK).
Die Wohnraum- und Versorgungslage ist in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif sehr angespannt. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan und einer Ansiedelung in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif kann der BF2 jedoch grundlegende und notwendige Lebensbedürfnisse, wie Nahrung, Kleidung sowie Unterkunft, befriedigen, ohne in eine ausweglose bzw. existenzbedrohende Situation zu geraten. Er kann selbst für sein Auskommen und Fortkommen sorgen.
Es ist dem BF2 möglich nach anfänglichen Schwierigkeiten nach einer Ansiedlung in den Städten Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch andere Landsleute führen können.
Der BF1 wäre es alleine nicht möglich und zumutbar, nach Afghanistan zurückzukehren. Sie hat als Kind im Iran gelebt, hat zwar zehn Jahre lang in eine iranische öffentliche Schule besucht, die letzten beiden Schuljahre allerdings nicht gemacht wurde, verfügt über keine sonstige Ausbildung und keine Berufserfahrung und ist noch nie selbst für ihren Unterhalt aufgekommen. Da jedoch der BF2 für ihren Unterhalt sorgen könnte und dies auch in der Vergangenheit seit der Eheschließung getan hat, wäre der BF1 eine Rückkehr nach Kabul, Herat oder Mazar-e Sharif im Familienverband sehr wohl möglich und zumutbar.
Bei der BF3 und beim BF4 handelt es sich um unmündige Minderjährige im Alter von nicht ganz neun und fünfeinhalb Jahren, die im Familienverband mit ihren Eltern leben und weder über eigenes Vermögen noch über eine eigene Möglichkeit der Existenzsicherung verfügen. In Afghanistan besteht eine hohe Zahl an minderjährigen zivilen Opfern. Vor allem Kinder sind zudem besonders von Unterernährung betroffen. Ungefähr zehn Prozent der Kinder sterben vor ihrem fünften Geburtstag. Auch bestünde für die minderjährigen BF die Gefahr, dass sie Kinderarbeit leisten müssen, falls der BF2 zu wenig verdienen würde, um die gesamte Familie zu erhalten. In Anbetracht der festgestellten individuellen und familiären Situation der BF und der besonderen Schutzbedürftigkeit von minderjährigen Kindern war seitens des Bundesverwaltungsgerichtes im Lichte einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, der hohen Zahl an minderjährigen Opfern auch in zentralen Regionen und Städten, der dadurch eingeschränkten Bewegungsfreiheit der minderjährigen BF sowie der schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für ihre erforderliche Versorgung im Herkunftsstaat festzustellen, dass die BF3 und der BF4 im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einem realen Risiko ausgesetzt wären, in eine existenzbedrohende (Not-)Lage zu geraten.
1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat/ maßgebliche Situation in Afghanistan:
Auszugsweise Wiedergabe des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation Afghanistan (Gesamtaktualisierung 29.06.2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 31.01.2019); unter Berücksichtigung der Kurzinformation der Staatendokumentation bezüglich einer Aktualisierung der Sicherheitslage in Afghanistan - Q4.2018 vom 01.03.2019;
Allgemeine Sicherheitslage und sicherheitsrelevante Vorfälle
Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt volatil. Die Vereinten Nationen (UN) registrierten im Berichtszeitraum 16.8.2018 - 15.11.2018 5.854 sicherheitsrelevante Vorfälle, was einen Rückgang von 2% gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres bedeutet. Bewaffnete Zusammenstöße gingen um 5% zurück, machten aber weiterhin den Großteil der sicherheitsrelevanten Vorfälle (63%) aus. Selbstmordanschläge gingen um 37% zurück, was möglicherweise an erfolgreichen Bekämpfungsmaßnahmen in Kabul-Stadt und Jalalabad liegt. Luftangriffe durch die afghanische Luftwaffe (AAF) sowie internationale Streitkräfte stiegen um 25%. Die am stärksten betroffenen Regionen waren der Süden, der Osten und der Süd-Osten. In der Provinz Kandahar entstand die Befürchtung, die Sicherheitsbedingungen könnten sich verschlechtern, nachdem der Polizeichef der Provinz und der Leiter des National Directorate for Security (NDS) im Oktober 2018 ermordet worden waren (UNGASC 7.12.2018). Gemäß dem Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR) fanden bis Oktober 2018 die meisten Angriffe regierungsfeindlicher Gruppierungen in den Provinzen Badghis, Farah, Faryab, Ghazni, Helmand, Kandahar, Uruzgan und Herat statt. Von Oktober bis Dezember 2018 verzeichneten Farah, Helmand und Faryab die höchste Anzahl regierungsfeindlicher Angriffe (SIGAR 30.1.2019).
Nach dem Taliban-Angriff auf Ghazni-Stadt im August 2018, bestand weiterhin die Befürchtung, dass die Taliban großangelegte Angriffe im Südosten des Landes verüben könnten. Dies war zwar nicht der Fall, dennoch setzten Talibankämpfer die afghanischen Sicherheitskräfte am Stadtrand von Ghazni, in Distrikten entlang des Highway One nach Kabul und durch die Einnahme des Distrikts Andar in Ghazni im Oktober weiterhin unter Druck. Im Westen der Provinz Ghazni, wo die ethnische Gruppierung der Hazara eine Mehrheit bildet, verschlechterten sich die Sicherheitsbedingungen wegen großangelegter Angriffe der Taliban, was im November zur Vertreibung zahlreicher Personen führte. In Folge eines weiteren Angriffs der Taliban im Distrikt Khas Uruzgan der Provinz Uruzgan im selben Monat wurden ebenfalls zahlreiche Hazara-Familien vertrieben. Des Weiteren nahmen Talibankämpfer in verschiedenen Regionen vorübergehend strategische Positionen entlang der Hauptstraßen ein und behinderten somit die Bewegungsfreiheit zwischen den betroffenen Provinzen. Beispiele dafür sind Angriffe entlang Hauptstraßen nach Kabul in den Distrikten Daymirdad und Sayyidabad in Wardak, der Route Mazar - Shirbingham und Maimana - Andkhoy in den nördlichen Provinzen Faryab, Jawzjan und Balkh und der Route Herat - Qala-e-Naw im westlichen Herat und Badghis (UNGASC 7.12.2018). Trotz verschiedener Kampfhandlungen und Bedrohungen blieben mit Stand Dezember 2018 gemäß SIGAR die Provinzzentren aller afghanischen Provinzen unter Kontrolle bzw. Einfluss der afghanischen Regierung (SIGAR 30.1.2019).
Im Laufe des Wahlregistrierungsprozesses und während der Wahl am 20. und am 21. Oktober wurden zahlreiche sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, welche durch die Taliban und den Islamischen Staat - Provinz Khorasan (ISKP) beansprucht wurden (UNGASC 7.12.2018; vgl. UNAMA 10.10.2018, UNAMA 11.2018). Während der Wahl in der Provinz Kandahar, die wegen Sicherheitsbedenken auf den 27. Oktober verschoben worden war, wurden keine sicherheitsrelevanten Vorfälle registriert. Die afghanischen Sicherheitskräfte entdeckten und entschärften einige IED [Improvised Explosive Devices - Improvisierte Spreng- oder Brandvorrichtung/Sprengfallen] in Kandahar-Stadt und den naheliegenden Distrikten (UNAMA 11.2018). Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) hatte zwischen 1.1.2018 und 30.9.2018 im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen insgesamt 366 zivile Opfer (126 Tote und 240 Verletzte) registriert (UNAMA 10.10.2018). Am offiziellen Wahltag, dem 20. Oktober, wurden 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) registriert, darunter 117 Kinder (21 Tote und 96 Verletzte) und 48 Frauen (2 Tote und 46 Verletzte). Am folgenden Wahltag, dem 21. Oktober, wurden 47 weitere zivile Opfer (4 Tote und 43 Verletzte) verzeichnet, inklusive 17 Kinder (2 Tote und 15 Verletzte) und Frauen (3 Verletzte). Diese Zahlen beinhalten auch Opfer innerhalb der Afghan National Police (ANP) und der Independent Electoral Commission (IEC) (UNAMA 11.2018). Die am 20. Oktober am meisten von sicherheitsrelevanten Vorfällen betroffenen Städte waren Kunduz und Kabul. Auch wenn die Taliban in den von ihnen kontrollierten oder beeinflussten Regionen die Wählerschaft daran hinderten, am Wahlprozess teilzunehmen, konnten sie die Wahl in städtischen Gebieten dennoch nicht wesentlich beeinträchtigen (trotz der hohen Anzahl von Sicherheitsvorfällen) (UNGASC 7.12.2018).
Die Regierung kontrolliert bzw. beeinflusst - laut Angaben der Resolute Support (RS) Mission - mit Stand 22.10.2018 53,8% der Distrikte, was einen leichten Rückgang gegenüber dem Vergleichszeitraum 2017 bedeutet. 33,9% der Distrikte sind umkämpft und 12,3% befinden sich unter Einfluss oder Kontrolle von Aufständischen. Ca. 63,5% der Bevölkerung leben in Gebieten, die sich unter Regierungskontrolle oder -einfluss befinden; 10,8% in Gegenden unter Einfluss bzw. Kontrolle der Aufständischen und 25,6% leben in umkämpften Gebieten. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten unter Kontrolle bzw. Einfluss von Aufständischen sind Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).
Der ISKP ist weiterhin im Osten des Landes präsent und bekennt sich zu Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen in Nangarhar und zu sechs Angriffen in Kabul-Stadt. Des Weiteren finden in den Provinzen Nangarhar und Kunar weiterhin Kämpfe zwischen ISKP- und Talibankämpfern statt. Die internationalen Streitkräfte führten Luftangriffe gegen den ISKP in den Distrikten Deh Bala, Achin, Khogyani, Nazyan und Chaparhar der Provinz Nangarhar aus (UNGASC 7.12.2018).
Global Incident Map zufolge wurden im Berichtszeitraum (1.1.2018 - 31.12.2018) 4.436 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert. Durch die folgende kartografische Darstellung der Staatendokumentation soll die Verteilung des Konflikts landesweit veranschaulicht werden.
Bild kann nicht dargestellt werden
(BFA Staatendokumentation 20.02.2019a)
In der folgenden Grafik der Staatendokumentation wird das Verhältnis zwischen den vier Quartalen des Jahres 2018 anhand der registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle für den Zeitraum 1.1.2018 - 31.12.2018 veranschaulicht.
In der folgenden Grafik der Staatendokumentation wird das Verhältnis zwischen den vier Quartalen des Jahres 2018 anhand der registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle für den Zeitraum 1.1.2018 - 31.12.2018 veranschaulicht.
Bild kann nicht dargestellt werden
(BFA Staatendokumentation 20.02.2019b)
Zivile Opfer
Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) registrierte im Berichtszeitraum (1.1.2018 - 31.12.2018) 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte), eine allgemeine Steigerung von 5% sowie eine Steigerung der Zahl der Toten um 11% gegenüber dem Vorjahreswert. 42% der zivilen Opfer (4.627 Opfer;
1.361 Tote und 3.266 Verletzte) wurden durch IED im Zuge von Anschlägen und Selbstmordanschlägen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich ISKP) verursacht. Die Anzahl der Selbstmordanschläge unter Einsatz von IED stieg dabei um 22% und erreichte somit einen Rekordwert. Diese Art von Anschlägen verursachte 26% aller zivilen Opfer, während IED, die bei Nichtselbstmordanschlägen verwendet wurden, 16% der zivilen Opfer forderten. Kabul war mit insgesamt 1.866 Opfern (596 Tote und 1.270 Verletzte) die Provinz mit der höchsten Anzahl an Selbstmordanschlägen durch IED, während die Zahl der Opfer in Nangarhar mit insgesamt 1.815 (681 Tote und 1.134 Verletzte) zum ersten Mal fast die Werte von Kabul erreichte (hauptsächlich wegen des Einsatzes von IED bei Nichtselbstmordanschlägen). Kabul-Stadt verzeichnete insgesamt 1.686 zivile Opfer (554 Tote und 1.132 Verletzte) wegen komplexen und Selbstmordangriffen (UNAMA 24.2.2019).
Zusammenstöße am Boden (hauptsächlich zwischen regierungsfreundlichen und regierungsfeindlichen Gruppierungen) verursachten 31% der zivilen Opfer (insgesamt 3.382; davon 814 Tote und 2.568 Verletzte), was einen Rückgang um 3% im Vergleich mit dem Vorjahreswert bedeutet. Grund dafür war der Versuch regierungsfreundlicher Gruppierungen, die zivile Bevölkerung zu schonen. Die Verlagerung der Kämpfe in dünn besiedelte Gebiete, die Vorwarnung der lokalen Zivilbevölkerung bei Kampfhandlungen und die Implementierung von Strategien zum Schutz der Bevölkerung waren einige der bestimmenden Faktoren für den Rückgang bei zivilen Opfern. Jedoch ist die Opferzahl bei gezielt gegen die Zivilbevölkerung gerichteten komplexen Angriffen und
Selbstmordanschlägen regierungsfeindlicher Gruppierungen gestiegen (plus 48% gegenüber 2017; 4.125 Opfer insgesamt, davon 1.404 Tote und 2.721 Verletzte). Sowohl der ISKP als auch die Taliban griffen gezielt Zivilisten an: Der ISKP war für 1.871 zivile Opfer verantwortlich, darunter waren u.a. Mitglieder der schiitischen Gemeinschaft, und die Taliban für 1.751. Obwohl die Gesamtzahl der zivilen Opfer durch gezielte Tötungen von Einzelpersonen (hauptsächlich durch Erschießung) zurückging, blieben Zivilisten inklusive religiöser Führer und Stammesältester weiterhin Ziele regierungsfeindlicher Gruppierungen. Die Gesamtzahl der durch Luftangriffe verursachten zivilen Opfer stieg im Vergleich mit dem Vorjahreswert um 61% und die Zahl der Todesopfer erreichte 82%. 9% aller zivilen Opfer wurden Luftangriffen (mehrheitlich der internationalen Luftwaffe) zugeschrieben, der höchste Wert seit 2009 (UNAMA 24.2.2019).
Regierungsfeindliche Gruppierungen waren im UNAMA-Berichtszeitraum (1.1.2018 - 31.12.2018) für 6.980 zivile Opfer (2.243 Tote und 4.737 Verletzte) verantwortlich. Das entspricht 63% der gesamten zivilen Opfer. 37% davon werden den Taliban, 20% dem ISKP und 6% unbestimmten regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben. Im Laufe des Jahres 2018 wurden vermehrt Anschläge gegen Bildungseinrichtungen verzeichnet, meist durch Talibankämpfer, da in Schulen Registrierungs- und Wahlzentren untergebracht waren. Der ISKP attackierte und bedrohte Bildungseinrichtungen als Reaktion auf militärische Operationen afghanischer und internationaler Streitkräfte. UNAMA berichtet auch über anhaltende Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen, welche Auswirkungen auf einen Großteil der zivilen Bevölkerung haben. Trotzdem die Taliban nach eigenen Angaben Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung ergriffen haben, attackierten diese weiterhin Zivilisten, zivile Einrichtungen und regierungsfreundliche Gruppierungen in Zivilgebieten (UNAMA 24.2.2019).
Ungefähr 24% der zivilen Opfer (2.612, davon 1.185 Tote und 1.427 Verletzte), werden regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben: 14% den afghanischen Sicherheitskräften, 6% den internationalen Streitkräften und 4% unbestimmten regierungsfreundlichen Gruppierungen. Die Steigerung um 4% gegenüber dem Vorjahr geht auf Luftangriffe der internationalen Streitkräfte und Fahndungsaktionen der afghanischen Sicherheitskräfte und regierungsfreundlicher Gruppierungen zurück (UNAMA 24.2.2019).
Die verbleibenden 13% der verzeichneten zivilen Opfer wurden im Kreuzfeuer während Zusammenstößen am Boden (10%), durch Beschuss aus Pakistan (1%) und durch die Explosion von Blindgängern verursacht (UNAMA 24.2.2019).
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(UNAMA 24.2.2019)
Quellen:
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BFA Staatendokumentation (20.02.2019a): kartografische Darstellung der sicherheitsrelevanten Vorfälle Jänner-Dezember 2018, liegt im Archiv der Staatendokumentation vor
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BFA Staatendokumentation (20.02.2019b): grafische Darstellung der sicherheitsrelevanten Vorfälle Q1 bis Q4, liegt im Archiv der Staatendokumentation vor SIGAR - Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (30.1.2019): Quarterly Report to the United States Congress,
https://www.sigar.mil/pdf/quarterlyreports/2019-01-30qr.pdf. Zugriff 20.2.2019
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UNAMA - United Nations Assistance Mission in Afghanistan (24.2.2019): Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Annual report 2018,
https://unama.unmissions.org/sites/default/files/afghanistan_protection_of_civilians_annul_report_2018_final_24_feb_2019_v3.pdf.
Zugriff 25.2.2019
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UNAMA - United Nations Assistance Mission in Afghanistan (11.2018): Afghanistan, Protection of civilians in armed conflict, Special report: 2018 elections violence, https://unama.unmissions.org/sites/default/files/special_report_on_2018_elections_violence_november_2018.pdf. Zugriff 20.2.2019
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UNAMA - United Nations Assistance Mission in Afghanistan (10.10.2018): Quarterly report on the protection of civilians in armed conflict: 1 January to 30 September 2018, https://unama.unmissions.org/sites/default/files/unama_protection_of_civilians_in_armed_conflict_3rd_quarter_report_2018_10_oct.pdf.
Zugriff 20.2.2019
UNGASC - United Nations General Assembly Security Council (7.12.2018): The situation in Afghanistan and its implications for international peace and security, Report of the Secretary General, https://undocs.org/S/2018/1092. Zugriff 20.2.2019
2. Politische Lage
[...]
3. Sicherheitslage:
Kabul
Die Provinzhauptstadt von Kabul und gleichzeitig Hauptstadt von Afghanistan ist Kabul-Stadt. Die Provinz Kabul grenzt im Nordwesten an die Provinz Parwan, im Nordosten an Kapisa, im Osten an Laghman, an Nangarhar im Südosten, an Logar im Süden und an (Maidan) Wardak im Südwesten. Kabul ist mit den Provinzen Kandahar, Herat und Mazar durch die sogenannte Ringstraße und mit Peshawar in Pakistan durch die Kabul-Torkham Autobahn verbunden. Die Provinz Kabul besteht aus folgenden Einheiten (Pajhwok o.D.z): Bagrami, Chaharasyab/Char Asiab, Dehsabz/Deh sabz, Estalef/Istalif, Farza, Guldara, Kabul Stadt, Kalakan, Khak-e Jabbar/Khak-i-Jabar, Mirbachakot/Mir Bacha Kot, Musayi/Mussahi, Paghman, Qarabagh, Shakardara, Surobi/Sorubi (UN OCHA 4-2014; vgl. Pajhwok o.D.z).
In der Hauptstadt Kabul leben unterschiedliche Ethnien: Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken, Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus. Ein Großteil der Bevölkerung gehört dem sunnitischen Glauben an, dennoch lebt eine Anzahl von Schiiten, Sikhs und Hindus nebeneinander in Kabul Stadt (Pajhwok o.D.z). Menschen aus unsicheren Provinzen, auf der Suche nach Sicherheit und Jobs, kommen nach Kabul - beispielsweise in die Region Shuhada-e Saliheen (LAT 26.3.2018). In der Hauptstadt Kabul existieren etwa 60 anerkannte informelle Siedlungen, in denen 65.000 registrierte Rückkehrer/innen und IDPs wohnen (TG 15.3.2018).
Kabul verfügt über einen internationalen Flughafen: den Hamid Karzai International Airport (HKIR) (Tolonews 25.2.2018; vgl. Flughafenkarte der Staatendokumentation; Kapitel 3.35). Auch soll die vierspurige "Ring Road", die Kabul mit angrenzenden Provinzen verbindet, verlängert werden (Tolonews 10.9.2017; vgl. Kapitel 3.35.).
Allgemeine Information zur Sicherheitslage
Einst als relativ sicher erachtet, ist die Hauptstadt Kabul von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen der Taliban betroffen (Reuters 14.3.2018), die darauf abzielen, die Autorität der afghanischen Regierung zu untergraben (Reuters 14.3.2018; vgl. UNGASC 27.2.2018). Regierungsfeindliche, bewaffnete Gruppierungen inklusive des IS versuchen in Schlüsselprovinzen und -distrikten, wie auch in der Hauptstadt Kabul, Angriffe auszuführen (Khaama Press 26.3.2018; vgl. FAZ 22.4.2018, AJ 30.4.2018). Im Jahr 2017 und in den ersten Monaten des Jahres 2018 kam es zu mehreren "high-profile"-Angriffen in der Stadt Kabul; dadurch zeigte sich die Angreifbarkeit/Vulnerabilität der afghanischen und ausländischen Sicherheitskräfte (DW 27.3.2018; vgl. VoA 19.3.2018 SCR 3.2018, FAZ 22.4.2018, AJ 30.4.2018).
Informationen und Beispiele zu öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen (HPA) können dem Kapitel 3. "Sicherheitslage (allgemeiner Teil)" entnommen werden; Anmerkung der Staatendokumentation.
Im Zeitraum 1.1.2017- 30.4.2018 wurden in der Provinz 410 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, welche durch die folgende Darstellung der Staatendokumentation veranschaulicht werden sollen:
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Im gesamten Jahr 2017 wurden 1.831 zivile Opfer (479 getötete Zivilisten und 1.352 Verletzte) registriert. Hauptursache waren Selbstmordanschläge, gefolgt von IEDs und gezielte Tötungen. Dies bedeutet eine Steigerung von 4% im Gegensatz zum Vergleichsjahr 2016. Für Kabul-Stadt wurden insgesamt 1.612 zivile Opfer registriert; dies bedeutet eine Steigerung von 17% im Gegensatz zum Vorjahr 2016 (440 getötete Zivilisten und 1.172 Verletzte) (UNAMA 2.2018).
Im Jahr 2017 war die höchste Anzahl ziviler Opfer Afghanistans in der Provinz Kabul zu verzeichnen, die hauptsächlich auf willkürliche Angriffe in der Stadt Kabul zurückzuführen waren; 16% aller zivilen Opfer in Afghanistan sind in Kabul zu verzeichnen.
Selbstmordangriffe und komplexe Attacken, aber auch andere Vorfallsarten, in denen auch IEDs verwendet wurden, erhöhten die Anzahl ziviler Opfer in Kabul. Dieser öffentlichkeitswirksame (high-profile) Angriff im Mai 2017 war alleine für ein Drittel ziviler Opfer in der Stadt Kabul im Jahr 2017 verantwortlich (UNAMA 2.2018).
Militärische Operationen und Maßnahmen der afghanischen Regierung in der Provinz Kabul
Regelmäßig werden in der Hauptstadt Sicherheitsoperationen durch die Regierung in unterschiedlichen Gebieten ausgeführt (Tolonews 31.1.2018; vgl. AT 18.3.2018, RS 28.2.2018; vgl. MF 18.3.2018). Im Rahmen des neuen Sicherheitsplanes sollen außerdem Hausdurchsuchungen ausgeführt werden (MF 18.3.2018). Um die Sicherheitslage in Kabul-Stadt zu verbessern, wurden im Rahmen eines neuen Sicherheitsplanes mit dem Namen "Zarghun Belt" (der grüne Gürtel), der Mitte August 2017 bekannt gegeben wurde, mindestens 90 Kontrollpunkte in den zentralen Teilen der Stadt Kabul errichtet. Die afghanische Regierung deklarierte einen Schlüsselbereich der afghanischen Hauptstadt zur "Green Zone" - dies ist die Region, in der wichtige Regierungsinstitutionen, ausländische Vertretungen und einige Betriebe verortet sind (Tolonews 7.2.2018). Kabul hatte zwar niemals eine formelle "Green Zone"; dennoch hat sich das Zentrum der afghanischen Hauptstadt, gekennzeichnet von bewaffneten Kontrollpunkten und Sicherheitswänden, immer mehr in eine militärische Zone verwandelt (Reuters 6.8.2017). Die neue Strategie beinhaltet auch die Schließung der Seitenstraßen, welche die Hauptstadt Kabul mit den angrenzenden Vorstädten verbinden; des Weiteren, werden die Sicherheitskräfte ihre Präsenz, Personenkontrollen und geheimdienstlichen Aktivitäten erhöhen (Tolonews 7.2.2018). Damit soll innerhalb der Sicherheitszone der Personenverkehr kontrolliert werden. Die engmaschigen Sicherheitsmaßnahmen beinhalten auch eine erhöhte Anzahl an Sicherheitskräften und eine Verbesserung der Infrastruktur rund um Schlüsselbereiche der Stadt (Tolonews 1.3.2018). Insgesamt beinhaltet dieser neue Sicherheitsplan 52 Maßnahmen, von denen die meisten nicht veröffentlicht werden (RFE/RL 7.2.2018). Auch übernimmt die ANA einige der porösen Kontrollpunkte innerhalb der Stadt und bildet spezialisierte Soldaten aus, um Wache zu stehen. Des Weiteren soll ein kreisförmiger innerer Sicherheitsmantel entstehen, der an einen äußeren Sicherheitsring nahtlos anschließt - alles dazwischen muss geräumt werden (Reuters 14.3.2018).
Regierungsfeindliche Gruppierungen in der Provinz Kabul
Sowohl die Taliban als auch der IS verüben öffentlichkeitswirksame (high-profile) Angriffe in der Stadt Kabul (UNGASC 27.2.2018; vgl. RFE/RL 17.3.2018, Dawn 31.1.2018), auch dem Haqqani-Netzwerk wird nachgesagt, Angriffe in der Stadt Kabul zu verüben (RFE/RL 30.1.2018; vgl. NYT 9.3.2018, VoA 1.6.2017). So existieren in der Hauptstadt Kabul scheinbar eine Infrastruktur, Logistik und möglicherweise auch Personal ("terrorists to hire"), die vom Haqqani-Netzwerk oder anderen Taliban-Gruppierungen, Splittergruppen, die unter der Flagge des IS stehen, und gewaltbereiten pakistanischen sektiererischen (anti-schiitischen) Gruppierungen verwendet werden (AAN 5.2.2018).
Zum Beispiel wurden zwischen 27.12.2017 und 29.1.2018 acht Angriffe in drei Städten ausgeführt, zu denen neben Jalalabad und Kandahar auch Kabul zählte - fünf dieser Angriffe fanden dort statt. Nichtsdestotrotz deuten die verstärkten Angriffe - noch - auf keine größere Veränderung hinsichtlich des "Modus Operandi" der Taliban an (AAN 5.2.2018).
Für den Zeitraum 1.1.2017 - 31.1.2018 wurden in der Provinz Kabul vom IS verursachte Vorfälle registriert (Gewalt gegenüber Zivilist/innen und Gefechte) (ACLED 23.2.2018).
Quellen:
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AAN - Afghan Analysts Network (5.2.2018): Five Questions to Make Sense of the New Peak in Urban Attacks and a Violent Week in Kabul, https://www.afghanistan-analysts.org/five-questions-to-make-sense-of-the-new-peak-in-urban-attacks-and-a-violent-week-in-kabul/, Zugriff 26.3.2018
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ACLED - Armed Conflict Location & Event Data Project (23.2.2018):
Islamic State in Afghanistan,
https://www.acleddata.com/2018/02/23/islamic-state-in-afghanistan/, Zugriff 8.3.2018
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AJ - Al Jazeera (30.4.2018): Twin ISIL suicide blasts kill 29 in Afghanistan's Kabul,
https://www.aljazeera.com/news/2018/04/twin-explosions-kill-20-afghanistan-kabul-180430051432828.html, Zugriff 23.5.2018
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AT - Afghan Times (18.3.2018): US arbitrary house searches divesting freedom of residents, http://afghanistantimes.af/us-arbitrary-house-searches-divesting-freedom-residents/, Zugriff 26.3.2018
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CSO - Central Statistics Organization (CSO) Afghanistan (4.2017):
Estimated Population of Afghanistan 2017-2018, http://cso.gov.af/Content/files/%D8%AA%D8%AE%D9%85%DB%8C%D9%86%20%D9%86%D9%81%D9%88%D8%B3/Final%20Population%201396.pdf, Zugriff 4.5.2018
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Dawan (31.1.2018): 27 Taliban, Haqqani Network suspects handed over to Afghanistan last year: FO, https://www.dawn.com/news/1386289/27-taliban-haqqani-network-suspects-handed-over-to-afghanistan-last-year-fo, Zugriff 27.3.2018
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DW - Deutsche Welle (27.3.2018): Why Central Asian states want peace with the Taliban,
http://www.dw.com/en/why-central-asian-states-want-peace-with-the-taliban/a-43150911, Zugriff 27.3.2018
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EASO - European Asylum Support Office (12.2016): EASO Country of Origin Information Report Afghanistan Security Situation, https://coi.easo.europa.eu/administration/easo/PLib/EASO_Afghanistan_security_situation_2017.pdf#page=1&zoom=auto,-468,842, Zugriff 9.3.2018
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FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (22.4.2018): Zahl der Toten steigt auf 48,
http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/mindestens-31-tote-bei-anschlag-in-kabul-15554490.html, Zugriff 23.5.2018
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Khaaam Press (26.3.2018): Karzai condemn Kabul blast targeting Pashtun Protection Movement supporters, https://www.khaama.com/karzai-condemn-kabul-blast-targeting-pashtun-protection-movement-supporters-04722/, Zugriff 26.3.2018
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LAT - Los Angeles Times (26.3.2018): As war's toll grows in Kabul, the dead fight for space with the living, http://www.latimes.com/world/asia/la-fg-afghanistan-cemetery-20180326-story.html, Zugriff 27.3.2018
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MF - Mena FN (18.3.2018): Afghanistan- US arbitrary house searches divesting freedom of residents, http://menafn.com/1096611104/Afghanistan-US-arbitrary-house-searches-divesting-freedom-of-residents, Zugriff 27.3.2018
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