TE Bvwg Erkenntnis 2019/6/18 W182 2219803-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 18.06.2019
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Entscheidungsdatum

18.06.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4
FPG §46
FPG §52 Abs2
FPG §52 Abs9
FPG §55

Spruch

W182 2134760-1/22E

W182 2153923-2/14E

W182 2153927-2/13E

W182 2153925-2/11E

W182 2153929-2/11E

W182 2219803-1/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. PFEILER über die Beschwerden von 1.) XXXX , geb. XXXX , 2.) XXXX , geb. XXXX ,

3.) XXXX , geb. XXXX , 4.) XXXX , geb. XXXX , 5.) XXXX geb. XXXX , und 6.) XXXX , geb. XXXX , alle StA. Russische Föderation, vertreten durch den Verein Menschenrechte Österreich, gegen die Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 24.08.2016, ad 1.) Zl. 14-1021571802-14714020/BMI-BFA_STM_RD, sowie vom 01.10.2018 ad 2.) Zl. 1141140503-170102255/BMI-BFA_STM_RD, ad 3.) Zl. 1141139208-170102269/BMI-BFA_STM_RD, ad 4.) 1141139807-170102277/BMI-BFA_STM_RD, ad 5.) 1141139905-170102285/BMI-BFA_STM_RD und vom 21.05.2019, ad 6.) Zl. 1229988007/190491286/BMI-BFA_STM_RD nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 28 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBI. I. Nr 33/2013 idgF, zu Recht erkannt:

A) Die Beschwerden werden gemäß §§ 3 Abs. 1, 8 Abs. 1, 10 Abs. 1 Z 3, 57 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 idgF, und §§ 52 Abs. 2 und Abs. 9, 46, 55 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF, als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz

(B-VG), BGBl. I Nr. 1/1930 idgF, nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die beschwerdeführenden Parteien (im Folgenden: BF), ein Ehepaar und ihre vier minderjährigen Kinder im Alter von XXXX , sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, gehören der tschetschenischen Volksgruppe an und sind muslimisch.

Der Erstbeschwerdeführer (im Folgenden: BF1) reiste im Juni 2014 illegal ins Bundesgebiet ein und stellte hier am 16.06.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Diesen begründete er in einer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 18.06.2014 sowie in einer Einvernahme beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (im Folgenden: Bundesamt) am 07.05.2015 im Wesentlichen damit, dass er in beiden Tschetschenienkriegen Kämpfer unterstützt habe und seit 2000 in Tschetschenien deswegen immer wieder von Sicherheitskräften festgenommen und misshandelt worden sei. Der letzte diesbezügliche Vorfall habe sich im XXXX 2013 ereignet. Man habe gedacht, dass er Kontakt zu Kämpfern habe. Im XXXX 2014 sei dem BF1 vom Dorfpolizisten der Inlandspass abgenommen und angedroht worden, dass er zum Militärdienst in der Ukraine einberufen werde. Daraufhin habe er im XXXX 2014 aus Angst um sein Leben das Herkunftsland verlassen.

Vom BF1 wurden u.a. in Kopie ein Inlandspass und ein Führerschein vorgelegt.

2. Das Bundesamt wies mit den im Spruch genannten Bescheid vom 24.08.2016 den Antrag auf internationalen Schutz des BF1 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den BF1 eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen, wobei gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass dessen Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde unter Spruchpunkt IV. ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF1 gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

Begründend ging das Bundesamt im Wesentlichen davon aus, dass das Vorbringen des BF1 zum Fluchtgrund nicht glaubhaft sei. Dies wurde im Wesentlichen damit begründet, dass es nicht glaubhaft sei, dass die Behörden des Herkunftslandes jemanden über einen Zeitraum von 2004/2005 bis 2013 immer wieder mitnehmen/festnehmen, befragen, bedrohen und schlagen würden, es jedoch nie zu wirklichen Konsequenzen komme. Der BF1 sei zudem auch nicht in der Lage gewesen, eine einzige derartige Situation auch nur ansatzweise zu schildern, sondern habe sich hingegen in allgemeine Angaben und eine Aneinanderreihung von angeblichen Fluchtgründen verloren. Laut den vorliegenden Länderinformationen erscheine es eher unwahrscheinlich, dass ein Mann im Alter des BF1 - der noch dazu Kinder habe - einberufen werden würde, zumal es schon bei der Rekrutierung für den Wehrdienst mehr Freiwillige in der Heimatrepublik des BF1 gebe, als eingezogen werden, und die Militärbehörde wohl zuerst auf junge Männer ohne Kinder zurückgreife.

Mit Verfahrensanordnung vom 24.08.2016 wurde dem BF1 gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG ein Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.

3. Gegen den Bescheid erhob der BF1 durch seine Rechtsvertretung innerhalb offener Frist in vollem Umfang wegen unschlüssiger Beweiswürdigung/rechtlicher Beurteilung und Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens Beschwerde. Zudem wurde u.a. eine mündliche Verhandlung beantragt. In der Beschwerdeschrift wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF1 zu seinem Vorbringen nicht hinreichend befragt worden sei, wobei auch die vom Bundesamt herangezogenen Länderfeststellungen zur Herkunftsregion Tschetschenien mit den Angaben des BF1 in Einklang stehen würden, wonach zum Beispiel Folter oder Entführungen durch Sicherheitsbehörden im Nordkaukasus alltäglich seien.

4. Anlässlich der öffentlichen mündlichen Verhandlung am 04.05.2017, zu der ein Vertreter des Bundesamtes entschuldigt nicht erschienen ist, wurde Beweis aufgenommen durch die Einvernahme des BF1 in Anwesenheit seines Vertreters sowie eines Dolmetschers der russischen Sprache, weiters durch Einsichtnahme in die Verwaltungsakten des Bundesamtes sowie in den Akt des Bundesverwaltungsgerichtes.

Der BF1 brachte im Wesentliche vor, dass er im ersten und zweiten Tschetschenienkrieg Widerstandskämpfer unterstütz habe, im Dezember 1999 bei einer Säuberungsaktion von russischen Soldaten mitgenommen, misshandelt und gegen Lösegeld wieder freigelassen worden sei. Auch im September 2002 sei er von Soldaten bei einer Kontrolle für eine Nacht in einem Erdloch festgehalten worden. Darüber hinaus sei er von Soldaten bei Kontrollen oft für zwei oder drei Stunden angehalten worden, wobei er dabei nie geschlagen worden sei. XXXX 2013 sei er auf dem Weg nach Hause in XXXX auf der Straße von Polizisten angehalten und auf die Polizeistation mitgenommen worden, wo er nach verschiedenen Personen befragt, misshandelt und am nächsten Tag gegen Lösegeld freigelassen worden sei. Im XXXX 2014 sei er auf die Polizeistation in seinem Heimatdorf geladen worden, wobei er u.a. befragt worden sei, ob er jemanden kenne, der nach Syrien gefahren sei bzw. selbst vorhabe, dorthin zu fahren. Der BF1 sei dabei nicht misshandelt worden und habe nach der Befragung mit der Auflage gehen können, dass er sich melden müsse, wenn er Tschetschenien verlasse. Zwei Wochen später sei ihm vom Dorfpolizisten sein Inlandspass abgenommen worden. Auf Nachfragen gab der BF1 an, keine Angst zu haben, in die Ukraine geschickt zu werden. Zur Flucht habe der BF1 sich entschlossen, als im XXXX 2014 maskierte Männer einen Mann aus ihrem Dorf mitgenommen hätten, der sich nirgendwo eingemischt habe, wobei man diesen am nächsten Tag in der Früh schwer misshandelt vorgefunden habe. Der BF1 habe unter diesen Verhältnissen Angst, dass man ihn nicht in Ruhe lasse. Im Herkunftsland würden sich seine Eltern, sein Bruder sowie Schwestern aufhalten. Diese hätten keine Probleme mit den Behörden, seien aber wiederholt danach gefragt worden, wann der BF1 zurückkomme. Die Frau des BF1, die Zweibeschwerdeführerin (im Folgenden: BF2) sowie seine drei Kinder (im Folgenden: BF3, BF4 und BF5) seien seit Jänner 2017 in Österreich. Sie hätten seine Frau im XXXX 2016 und auch seinen ältesten Sohn nach dem BF1 befragt.

Vom BF1 wurden ua. ein gültiger russischer Führerschein, eine Geburtsurkunde, eine Heiratsurkunde vom Jänner 2015, eine Vaterschaftsurkunde hinsichtlich der Kinder, Deutsch-Kursnachweise, diverse Unterstützungsschreiben, ein Nachweis für einen Erste Hilfe Grundkurs sowie ein Dienstausweis des XXXX vorgelegt.

5. Die BF2 reiste zusammen mit dem BF3, der BF4 und dem BF5 im Jänner 2017 in das Bundesgebiet ein und stellte für sich und ihre Kinder am 24.01.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz.

Die BF2 begründete ihre Anträge in einer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 24.01.2017 sowie in einer Einvernahme beim Bundesamt am 15.03.2017 im Wesentlichen damit, dass sie bei ihrem Gatten leben wolle. Sie und ihre Kinder hätten im Herkunftsland keine Probleme mit den Behörden. Ihr Gatte hätte behördliche Probleme, welche wisse sie nicht. Sie sei mit ihren Kindern legal mit einem gültigen polnischen Visum ausgereist.

Die Anträge der BF2 - BF5 wurden mit Bescheiden des Bundesamtes vom 31.03.2017 ohne in die Sache einzutreten gemäß § 5 Abs. 1 AsylG 2005 als unzulässig zurückgewiesen, wobei festgestellt wurde, dass für die Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz gemäß Art. 12.4 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates Polen zuständig sei. Gemäß § 61 Abs. 1 FPG wurde gegen die BF2 - BF5 die Außerlandesbringung angeordnet und festgestellt, dass ihre Abschiebung nach Polen gemäß § 61 Abs. 2 FPG zulässig sei.

Den dagegen erhobenen Beschwerden wurde mit Beschlüssen des Bundesverwaltungsgerichtes vom 15.05.2017, Zlen. W241 2153923-1/5E, W241 2153927-1/4E, W241 2153925-1/4E und W241 2153929-1/4E, gemäß § 21 Abs. 3 2. Satz stattgegeben und die bekämpften Bescheide behoben.

In einer Einvernahme beim Bundesamt am 29.06.2017 und am 04.09.2018 brachte die BF2 zu ihren bzw. den Fluchtgründen ihrer Kinder wie bisher vor und gab ergänzend an, dass der BF4 im Herbst 2016 vom Dorfpolizisten nach dem Aufenthalt des BF1 befragt worden sei. Nachgefragt, gab sie an, dass es keinen konkreten Anlass für ihre Ausreise im Jänner 2017 gegeben habe. Sie habe allerdings Angst um ihre Kinder. Sie wolle sie in einer normalen Umgebung erziehen. Weiters habe sie Angst, dass sie im Herkunftsland nicht mit ihrem Mann zusammenleben könne. Im Herkunftsland würden sich die Eltern sowie Schwestern und Halbgeschwister der BF1 aufhalten. Ihre Eltern seien nicht geschieden, würden aber getrennt leben. Ihre Mutter würde sich in XXXX aufhalten und dort im Sozialbereich tätig sein bzw. ein kleines Geschäft betreiben, ihr Vater lebe in Tschetschenien.

Vorgelegt wurden u.a. ein russischer Inlandspass sowie ein ÖSD Zertifikat A2 der BF2.

Das Bundesamt wies mit den im Spruch genannten Bescheiden vom 01.10.2018 die Anträge auf internationalen Schutz der BF2 - BF5 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen die BF2 - BF5 eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.), wobei gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass deren Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde unter Spruchpunkt VI. ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der BF2 - BF5 gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die BF2 - BF5 nicht aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung, sondern ausschließlich wegen des BF1, der sich in Österreich aufhalte, das Herkunftsland verlassen haben.

Gegen die Bescheide wurde binnen offener Frist vollumfänglich Beschwerden wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes sowie wegen Rechtswidrigkeit infolge von Verfahrensvorschriften erhoben, wobei im Wesentlichen auf die Glaubhaftigkeit der Fluchtgründe des BF1 verwiesen wurde.

6. Am 10.04.2019 fand eine weitere öffentliche mündliche Verhandlung statt, bei der neben dem BF1 auch die BF2 im Beisein einer Dolmetscherin der russischen Sprache befragt wurde. Der BF1 brachte zu seinen Fluchtgründen wie bisher vor und gab zusätzlich an, dass der Dorfpolizist im XXXX 2019 seine Mutter nach ihm befragt hätte. Sie werde auch sonst diesbezüglich immer vom Dorfpolizisten angesprochen. Weiters gebe es Internet-Berichte, dass ein Bursche aus dem Dorf des BF1 XXXX verschwunden sei, wobei der BF1 befürchte, dass ihm das auch passiere. Weiters gab der BF1 an, dass im XXXX ein gemeinsamer Sohn - der Sechstbeschwerdeführer (im Folgenden: BF6) - im Bundesgebiet geboren worden sei.

Die BF2 brachte im Wesentlichen vor, dass sie und ihre Kinder wegen des BF1 das Herkunftsland verlassen haben. Zu den Fluchtgründen des BF1 konnte die BF2 kaum Angaben machen, da sie sich von XXXX 2013 bis ungefähr XXXX 2014 bei ihrer Mutter in XXXX aufgehalten habe.

Es wurden u.a. vorgelegt: ein Arbeitsvorvertrag eines namentlich genannten XXXX für den BF1 für eine nicht näher bestimmte Tätigkeit im Ausmaß von 39 Wochenstunden für einen Brutto-Monatslohn von €

1.622; ein Arbeitsvorvertrag einer namentlich genannten Person für den BF1 für eine nicht näher bestimmte Tätigkeit im Ausmaß von 5 Wochenstunden; ein österreichischer Führerschein des BF1; Bestätigungen einer Pfarre vom Dezember 2018 über gemeinnützige Tätigkeiten des BF1 an zwei Tagen im Rahmen einer Lebensmittelaktion für bedürftge Menschen, eine Bestätigung einer Gemeinde vom März 2019 über gemeinnützige Tätigkeit des BF1 in der XXXX ; eine Bestätigung des XXXX , wonach der BF1 als Mitarbeiter des XXXX seit März 2017 80 freiwillige Stunden beim XXXX geleistet habe; diverse Unterstützungserklärungen für die BF; ein ÖSD-Zertifikat B1.2 der BF2; Bestätigungen über den Besuch einer neuen Mittelschule des BF3, einen Schulbesuch der BF4 sowie über den Kindergartenbesuch des BF5. Den BF wurden aktuelle Länderinformationen zur Situation im Herkunftsstaat zu Kenntnis gebracht und ihnen dazu binnen zwei Wochen die Möglichkeit einer schriftlichen Stellungnahme eingeräumt.

7. In einer entsprechenden schriftlichen Stellungnahme der BF vom 24.04.2019 wurden Passagen aus den in der Beschwerdeverhandlung zu Kenntnis gebrachten Länderinformationen zitiert, die im Wesentlichen Fälle von schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen in Tschetschenien wie etwa Verschwindenlassen, rechtswidrige Inhaftierungen, Folter und andere Misshandlungen betrafen. Zur Lage von Tschetschenen in der Russischen Föderation außerhalb der Republik Tschetschenien wurde auf den Bericht zur Lage von Tschetschenen in Russland von EASO vom August 2018 verwiesen. Zusammengefasst wurde festgehalten, dass aufgrund der persönlichen Umstände sowie der allgemeinen Rahmenbedingungen vor Ort für die BF bei einer Rückkehr in die Russische Föderation die reale Gefahr existenzbedrohender Verhältnisse und somit eine Verletzung nach Art. 3 EMRK bestehe.

8. Am 15.05.2019 wurde für den im Bundesgebiet geborenen BF6 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Dieser wurde mit den im Spruch genannten Bescheid des Bundesamtes vom 21.05.2019 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen den BF6 eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.), wobei gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass dessen Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig sei (Spruchpunkt V.). Weiters wurde unter Spruchpunkt VI. ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise des BF1 gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass für den BF6 keine individuellen asylrelevanten Gründe geltend gemacht worden seien. Das Asylverfahren der Eltern bzw. der Kernfamilie sei bereits in erster Instanz negativ entschieden worden.

Gegen den Bescheid wurde binnen offener Frist vollumfänglich Beschwerde erhoben. In der Beschwerdeschrift wurde dazu im Wesentlichen ausgeführt, dass der BF6 im Bundesgebiet geboren worden sei und er folglich keine eigenen Fluchtgründe bezogen auf den Herkunftsstaat habe. Der Vater des BF6 habe für ihn auch keine eigenen Fluchtgründe vorgebracht. Im gegenständlichen Fall liege ein Familienverfahren nach § 34 AsylG 2005 vor. Hinsichtlich der detaillierten Beschwerdegründe werde auf das Fluchtvorbringen der Familie des BF6 verwiesen. Eine mündliche Verhandlung wurde nicht beantragt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die BF, ein Ehepaar (BF1 und BF2) und deren vier minderjährige Kinder im Alter von XXXX (BF3 - BF6), sind Staatsangehörige der Russischen Föderation, gehören der tschetschenischen Volksgruppe an, sind Muslime und waren im Herkunftsland in einer Ortschaft in Tschetschenien wohnhaft. Ihre Identität steht fest.

Der BF1 ist im Juni 2014 illegal ins Bundesgebiet eingereist und hat hier am 16.06.2014 einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt. Die BF2 - BF5 sind im Jänner 2017 ins Bundesgebiet eingereist und haben hier am 24.01.2017 Anträge auf internationalen Schutz gestellt. Für den im Bundesgebiet geborenen BF6 wurde am 15.05.2019 ein Antrag auf internationalen Schutz gestellt.

Die BF sind im Wesentlichen gesund. Der BF1 und die BF2 sind arbeitsfähig.

In Tschetschenien halten sich die Eltern, ein Bruder sowie XXXX Schwestern des BF1 auf. Die Eltern sind bereits in Pension, wobei der Vater noch als XXXX tätig ist. Der Bruder sowie drei Schwestern arbeiten als XXXX .

Die Mutter sowie XXXX Schwester der BF2 halten sich in XXXX auf. Ihre Mutter betreibt dort ein Geschäft und besitzt ein eigenes Haus. Die BF2 hat bis zum XXXX Lebensjahr in XXXX gewohnt, bis sie nach ihrer Heirat zu ihrem Gatten nach Tschetschenien gezogen ist. Der Vater sowie XXXX Schwestern der BF2 leben in Tschetschenien.

Der BF1 hat im Rahmen eines Fernstudiums im Herkunftsland ein XXXX absolviert. Er hat im Herkunftsland in der Landwirtschaft sowie als Saisonarbeiter am Bau gearbeitet. Er war dabei wiederholt außerhalb von Tschetschenien tätig und hat zuletzt 2013 drei oder vier Monate im XXXX und XXXX am Bau gearbeitet.

Die BF2 hat ein XXXX abgeschlossen, verfügt jedoch über keine Berufserfahrung.

Der BF3 hat im Herkunftsland bis zur dritten Klasse die Schule besucht.

Die BF gehen in Österreich keiner legalen Erwerbstätigkeit nach und leben von der Grundversorgung. Sie sind in einem Flüchtlingsheim untergebracht. Der BF1 konnte Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2 nachweisen, die BF2 auf dem Niveau B1.

Der BF1 geht in Österreich gemeinnützigen Aktivitäten nach. Er ist u. a. als XXXX für seine Aufenthaltsgemeinde aktiv, unterstützt gelegentlich eine Pfarre bei karitativen Veranstaltungen und engagiert sich auch als Mitglied beim XXXX , wo er seit März 2017 80 freiwillige Stunden beim XXXX geleistet hat.

Der BF1 konnte Einstellungszusagen für den Fall der Erteilung eines Aufenthaltstitels bzw. einer Beschäftigungsbewilligung vorlegen.

Die BF sind strafgerichtlich unbescholten.

Das Vorbringen des BF1, wegen Unterstützung von Widerstandskämpfern im ersten und zweiten Tschetschenienkrieg bzw. wegen einer Feindschaft mit einem Dorfpolizisten im Herkunftsland verfolgt zu werden, hat sich als unglaubwürdig erwiesen.

Es kann nicht festgestellt werden, dass die BF nach einer Rückkehr ins Herkunftsland mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevanten Übergriffen ausgesetzt sind. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass diese konkret Gefahr liefen, in ihrem Herkunftsstaat aktuell der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.

Im Übrigen wird der unter Punkt I. wiedergegebene Verfahrensgang der Entscheidung zugrundgelegt.

1.2. Zur Situation im Herkunftsland wird von den vom Bundesverwaltungsgericht ins Verfahren eingeführten Länderinformationen zur Russischen Föderation bzw. Tschetschenien ausgegangen:

1. Neueste Ereignisse - Integrierte Kurzinformationen

Ende 2018 kam es in Tschetschenien wieder zur Verhaftung von Homosexuellen. Laut Angaben des russischen LGBT-Netzwerkes wurden mindestens 40 Frauen und Männer inhaftiert, mindestens zwei sollen im Zuge von Folter getötet worden sein (LGBT Netzwerk 14.1.2019, vgl. Nowaja Gaseta 18.1.2019). Laut dem Leiter des LGBT-Netzwerkes, Igor Kotschetkow, kam es nicht nur zur physischen Bedrohung bis zur Inkaufnahme des Todes der Festgehaltenen, sondern die Sicherheitskräfte sollen auch versucht haben, die Frauen und Männer daran zu hindern, aus der Teilrepublik auszureisen oder vor Gericht zu ziehen (NZZ 18.1.2019, vgl. UN News 13.2.2019). Die Kampagne, deren Muster und auch der Ort der Inhaftierung, eine Anlage in der Stadt Argun, erinnern an eine erste Welle an Verhaftungen von tschetschenischen Homosexuellen vor zwei Jahren. Nach Einschätzung von Menschenrechtsaktivisten gingen die Einschüchterungen, Festnahmen und Gewalttaten gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender weiter. Im Frühsommer 2017 hatte das Ermittlungskomitee von höchster Stelle in Moskau aus wegen starken internationalen Drucks eine Untersuchung der schwerwiegenden Vorwürfe angeordnet. Diese brachte allerdings nie konkrete Resultate (NZZ 18.1.2019, vgl. Nowaja Gaseta 18.1.2019).

Bekanntlich werden innerstaatliche Fluchtmöglichkeiten innerhalb Russlands seitens renommierter Menschenrechtseinrichtungen meist unter Verweis auf die Umtriebe der Schergen des tschetschenischen Machthabers Kadyrow im ganzen Land in Abrede gestellt. Der medialen Berichterstattung zufolge scheint das Netzwerk von Kadyrow auch in der tschetschenischen Diaspora im Ausland tätig zu sein. Dem ist entgegenzuhalten, dass renommierte Denkfabriken auf die hauptsächlich ökonomischen Gründe für die Migration aus dem Nordkaukasus und die Grenzen der Macht von Kadyrow außerhalb Tschetscheniens hinweisen. So sollen laut einer Analyse des Moskauer Carnegie-Zentrums die meisten Tschetschenen derzeit aus rein ökonomischen Gründen emigrieren: Tschetschenien bleibe zwar unter der Kontrolle von Kadyrow, seine Macht reiche allerdings nicht über die Grenzen der Teilrepublik hinaus. Zur Förderung der sozio-ökonomischen Entwicklung des Nordkaukasus dient ein eigenständiges Ministerium, das sich dabei gezielt um die Zusammenarbeit mit dem Ausland bemüht (ÖB Moskau 10.10.2018).

Die russischen Behörden zeigen sich durchaus bemüht, den Vorwürfen der Verfolgung von bestimmten Personengruppen in Tschetschenien nachzugehen. Bei einem Treffen mit Präsident Putin Anfang Mai 2017 betonte die russische Ombudsfrau für Menschenrechte allerdings, dass zur Inanspruchnahme von staatlichem Schutz eine gewisse Kooperationsbereitschaft der mutmaßlichen Opfer erforderlich sei. Das von der Ombudsfrau Moskalkova gegenüber Präsident Putin genannte Gesetz sieht staatlichen Schutz von Opfern, Zeugen, Experten und anderen

.BFA Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Seite 11 von 102

Teilnehmern von Strafverfahren sowie deren Angehörigen vor. Unter den Schutzmaßnahmen sind im Gesetz Bewachung der betroffenen Personen und deren Wohnungen, strengere Schutzmaßnahmen in Bezug auf die personenbezogenen Daten der Betroffenen sowie vorläufige Unterbringung an einem sicheren Ort vorgesehen. Wenn es sich um schwere oder besonders schwere Verbrechen handelt, sind auch Schutzmaßnahmen wie Umsiedlung in andere Regionen, Ausstellung neuer Dokumente, Veränderung des Aussehens etc. möglich. Die Möglichkeiten des russischen Staates zum Schutz von Teilnehmern von Strafverfahren beschränken sich allerdings nicht nur auf den innerstaatlichen Bereich. So wurde im Rahmen der GUS ein internationales Abkommen über den Schutz von Teilnehmern im Strafverfahren erarbeitet, das im Jahr 2006 in Minsk unterzeichnet, im Jahr 2008 von Russland ratifiziert und im Jahr 2009 in Kraft getreten ist. Das Dokument sieht vor, dass die Teilnehmerstaaten einander um Hilfe beim Schutz von Opfern, Zeugen und anderen Teilnehmern von Strafverfahren ersuchen können. Unter den Schutzmaßnahmen sind vorläufige Unterbringungen an einem sicheren Ort in einem der Teilnehmerstaaten, die Umsiedlung der betroffenen Personen in einen der Teilnehmerstaaten, etc. vorgesehen (ÖB Moskau 10.10.2018).

Quellen:

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- ÖB Moskau (10.10.2018): Information per Email

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Russisches LGBT-Netzwerk (14.1.2019): New wave of persecution against LGBT people in Chechnya: around 40 people detained, at least two killed,

https://lgbtnet.org/en/newseng/newwave-persecution-against-lgbt-people-chechnya-around-40-people-detained-least-two-killed, Zugriff 28.2.2019 - Nowaja Gaseta (18.1.2019): , https://www.novayagazeta.ru/articles/2019/01/16/79205-legitimnye-zhertvy, Zugriff 28.2.2019 - NZZ - Neue Zürcher Zeitung (18.1.2019): In Tschetschenien hat eine neue Welle der Verfolgung Homosexueller begonnen,

https://www.nzz.ch/international/in-tschetschenien-hat-eine-neue-welleder-verfolgung-homosexueller-begonnen-ld.1452401, Zugriff 28.2.2019 - UN News (13.2.2019): LGBT community in Chechnya faces 'new wave of persecution': UN human rights experts, https://news.un.org/en/story/2019/02/1032641, Zugriff 28.2.2019

2. Politische Lage im Allgemeinen

Die Russische Föderation hat knapp 143 Millionen Einwohner (CIA 15.6.2017, vgl. GIZ 7.2017c). Die Russische Föderation ist eine föderale Republik mit präsidialem Regierungssystem. Am 12. Juni 1991 erklärte sie ihre staatliche Souveränität. Die Verfassung der Russischen Föderation wurde am 12. Dezember 1993 verabschiedet. Das russische Parlament besteht aus zwei Kammern, der Staatsduma (Volksvertretung) und dem Föderationsrat (Vertretung der Föderationssubjekte) (AA 3.2017a). Der Staatspräsident der Russischen Föderation verfügt über sehr weitreichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik. Seine Amtszeit beträgt sechs Jahre. Amtsinhaber ist seit dem 7. Mai 2012 Wladimir Putin (AA 3.2017a, vgl. EASO 3.2017). Er wurde am 4. März 2012 (mit offiziell 63,6% der Stimmen) gewählt. Es handelt sich um seine dritte Amtszeit als Staatspräsident. Dmitri Medwedjew, Staatspräsident 2008-2012, übernahm am 8. Mai 2012 erneut das Amt des Ministerpräsidenten. Seit der Wiederwahl von Staatspräsident Putin im Mai 2012 wird eine Zunahme autoritärer Tendenzen beklagt. So wurden das Versammlungsrecht und die Gesetzgebung über Nichtregierungsorganisationen erheblich verschärft, ein föderales Gesetz gegen "Propaganda nicht-traditioneller sexueller Beziehungen" erlassen, die Extremismus-Gesetzgebung verschärft sowie Hürden für die Wahlteilnahme von Parteien und Kandidaten beschlossen, welche die Wahlchancen oppositioneller Kräfte weitgehend zunichtemachen. Der Druck auf Regimekritiker und Teilnehmer von Protestaktionen wächst, oft mit strafrechtlichen Konsequenzen. Der Mord am Oppositionspolitiker Boris Nemzow hat das Misstrauen zwischen Staatsmacht und außerparlamentarischer Opposition weiter verschärft (AA 3.2017a). Mittlerweile wurden alle fünf Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldig gesprochen. Alle fünf stammen aus Tschetschenien. Der Oppositionelle Ilja Jaschin hat das Urteil als "gerecht" bezeichnet, jedoch sei der Fall nicht aufgeklärt, solange Organisatoren und Auftraggeber frei sind. Kreml-Sprecher Dmitri Peskow hat verlautbart, dass die Suche nach den Auftraggebern weiter gehen wird. Allerdings sind sich Staatsanwaltschaft und Nebenklage, die die Interessen der Nemzow-Familie vertreten, nicht einig, wen sie als potenziellen Hintermann weiter verfolgen. Die staatlichen Anklagevertreter sehen als Lenker der Tat Ruslan Muchutdinow, einen Offizier des Bataillons "Nord", der sich in die Vereinigten Arabischen Emirate abgesetzt haben soll. Nemzows Angehörige hingegen vermuten, dass die Spuren bis "zu den höchsten Amtsträgern in Tschetschenien und Russland" führen. Sie fordern die Befragung des Vizebataillonskommandeurs Ruslan Geremejew, der ein entfernter Verwandter von Tschetscheniens Oberhaupt Ramsan Kadyrow ist (Standard 29.6.2017). Ein Moskauer Gericht hat den Todesschützen von Nemzow zu 20 Jahren Straflager verurteilt. Vier Komplizen erhielten Haftstrafen zwischen 11 und 19 Jahren. Zudem belegte der Richter Juri Schitnikow die fünf Angeklagten aus dem russischen Nordkaukasus demnach mit Geldstrafen von jeweils 100.000 Rubel (knapp 1.500 Euro). Die Staatsanwaltschaft hatte für den Todesschützen lebenslange Haft beantragt, für die Mitangeklagten 17 bis 23 Jahre (Kurier 13.7.2017).

Russland ist formal eine Föderation, die aus 83 Föderationssubjekten besteht. Die im Zuge der völkerrechtswidrigen Annexion erfolgte Eingliederung der ukrainischen Krim und der Stadt Sewastopol als Föderationssubjekte Nr. 84 und 85 in den russischen Staatsverband ist international nicht anerkannt. Die Föderationssubjekte genießen unterschiedliche Autonomiegrade und werden unterschiedlich bezeichnet (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Regionen, Gebiete, Föderale Städte). Die Föderationssubjekte verfügen jeweils über eine eigene Legislative und Exekutive. In der Praxis unterstehen die Regionen aber finanziell und politisch dem föderalen Zentrum (AA 3.2017a).

Die siebte Parlamentswahl in Russland hat am 18. September 2016 stattgefunden. Gewählt wurden die 450 Abgeordneten der russischen Duma. Insgesamt waren 14 Parteien angetreten, unter ihnen die oppositionellen Parteien Jabloko und Partei der Volksfreiheit (PARNAS). Die Wahlbeteiligung lag bei 47,8%. Die meisten Stimmen bei der Wahl, die auch auf der Halbinsel Krim abgehalten wurde, erhielt die von Ministerpräsident Dmitri Medwedew geführte Regierungspartei "Einiges Russland" mit gut 54%. Nach Angaben der Wahlkommission landete die Kommunistische Partei mit 13,5% auf Platz zwei, gefolgt von der nationalkonservativen LDPR mit 13,2%. Die nationalistische Partei "Gerechtes Russland" erhielt 6%. Diese vier Parteien waren auch bislang schon in der Duma vertreten und stimmten in allen wesentlichen Fragen mit der Mehrheit. Den außerparlamentarischen Oppositionsparteien gelang es nicht die Fünf-Prozent-Hürde zu überwinden. In der Duma verschiebt sich die Macht zugunsten der Regierungspartei "Einiges Russland". Die Partei erreicht im Parlament mit 343 Sitzen deutlich die Zweidrittelmehrheit, die ihr nun Verfassungsänderungen ermöglicht. Die russischen Wahlbeobachter von der NGO Golos berichteten auch in diesem Jahr über viele Verstöße gegen das Wahlrecht (GIZ 4.2017a, vgl. AA 3.2017a).

Das Verfahren am Wahltag selbst wurde offenbar korrekter durchgeführt als bei den Dumawahlen im Dezember 2011. Direkte Wahlfälschung wurde nur in Einzelfällen gemeldet, sieht man von Regionen wie Tatarstan oder Tschetschenien ab, in denen Wahlbetrug ohnehin erwartet wurde. Die Wahlbeteiligung von über 90% und die hohen Zustimmungsraten in diesen Regionen sind auch nicht geeignet, diesen Verdacht zu entkräften. Doch ist die korrekte Durchführung der Abstimmung nur ein Aspekt einer demokratischen Wahl. Ebenso relevant ist, dass alle Bewerber die gleichen Chancen bei der Zulassung zur Wahl und die gleichen Möglichkeiten haben, sich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Einsatz der Administrationen hatte aber bereits im Vorfeld der Wahlen - bei der Bestellung der Wahlkommissionen, bei der Aufstellung und Registrierung der Kandidaten sowie in der Wahlkampagne - sichergestellt, dass sich kein unerwünschter Kandidat und keine missliebige Oppositionspartei durchsetzen konnte. Durch restriktives Vorgehen bei der Registrierung und durch Behinderung bei der Agitation wurden der nichtsystemischen Opposition von vornherein alle Chancen genommen. Dieses Vorgehen ist nicht neu, man hat derlei in Russland vielfach erprobt und zuletzt bei den Regionalwahlen 2014 und 2015 erfolgreich eingesetzt. Das Ergebnis der Dumawahl 2016 demonstriert also, dass die Zentrale in der Lage ist, politische Ziele mit Hilfe der regionalen und kommunalen Verwaltungen landesweit durchzusetzen. Insofern bestätigt das Wahlergebnis die Stabilität und Funktionsfähigkeit des Apparats und die Wirksamkeit der politischen Kontrolle. Dies ist eine der Voraussetzungen für die Erhaltung der politischen Stabilität (RA 7.10.2016).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (3.2017a): Russische Föderation - Innenpolitik,

http://www.auswaertiges-amt.de/sid_167537BE2E4C25B1A754139A317E2F27/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/RussischeFoederation/Innenpolitik_node.html, Zugriff 21.6.2017

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CIA - Central Intelligence Agency (15.6.2017): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 21.6.2017

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 21.6.2017

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GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (4.2017a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c24819, Zugriff 21.6.2017

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GIZ Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2017c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 11.7.2017

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Kurier.at (13.7.2017): Nemzow-Mord: 20 Jahre Straflager für Mörder,

https://kurier.at/politik/ausland/nemzow-mord-20-jahre-straflager-fuer-moerder/274.903.855, Zugriff 13.7.2017

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RA - Russland Analysen (7.10.2016): Nr. 322, Bewegung in der russischen Politik?,

http://www.laender-analysen.de/russland/pdf/RusslandAnalysen322.pdf, Zugriff 21.6.2017

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Standard (29.7.2017): Alle Angeklagten im Mordfall Nemzow schuldiggesprochen,

http://derstandard.at/2000060550142/Alle-Angeklagten-im-Mordfall-Nemzow-schuldig-gesprochen, Zugriff 30.6.2017

2.1. Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2018 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 25.1.2018), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 TschetschenInnen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handle es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens, die bereits vor über einem Jahrhundert entstanden seien, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB Moskau 12.2017). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien somit mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik.

Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 12.2017). Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten immer wieder von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 21.5.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die danach trachteten, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtsaktivisten sowie von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert (ÖB Moskau 12.2017).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als "Fußsoldat Putins" zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute föderale Machtvertikale dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum "inneren Ausland" Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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GKS - Staatliches Statistikamt (25.1.2018): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2018,

http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/PrPopul2018.xlsx, Zugriff 1.8.2018

-

ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

-

Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,

http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 1.8.2018

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 1.8.2018

3. Sicherheitslage im Allgemeinen

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, jederzeit zu Attentaten kommen. Zuletzt kam es am 3.4.2017 in Sankt Petersburg zu einem Anschlag in der Metro, der Todesopfer und Verletzte forderte. Die russischen Behörden haben zuletzt ihre Warnung vor Attentaten bekräftigt und rufen zu besonderer Vorsicht auf (AA 21.7.2017b). Den Selbstmordanschlag in der St. Petersburger U-Bahn am 3.4.2017 hat nach Angaben von Experten eine Gruppe mit mutmaßlichen Verbindungen zum islamistischen Terrornetzwerk Al-Qaida für sich reklamiert. Das Imam-Schamil-Bataillon habe den Anschlag mit 15 Todesopfern nach eigenen Angaben auf Anweisung des Al-Qaida-Chefs Ayman al-Zawahiri verübt, teilte das auf die Überwachung islamistischer Internetseiten spezialisierte US-Unternehmen SITE am Dienstag mit (Standard 25.4.2017). Der Selbstmordattentäter Akbarschon Dschalilow stammte aus der kirgisischen Stadt Osch. Zehn Personen, die in den Anschlag verwickelt sein sollen, sitzen in Haft, sechs von ihnen wurden in St. Petersburg, vier in Moskau festgenommen. In russischen Medien wurde der Name eines weiteren Mannes aus der Gegend von Osch genannt, den die Ermittler für den Auftraggeber des Anschlags hielten: Siroschiddin Muchtarow, genannt Abu Salach al Usbeki. Der Angriff, sei eine Vergeltung für russische Gewalt gegen muslimische Länder wie Syrien und für das, was in der russischen Nordkaukasus-Teilrepublik Tschetschenien geschehe; die Operation sei erst der Anfang. Mit Terrorangriffen auf und in Russland hatte sich zuletzt nicht Al-Qaida, sondern der sogenannte Islamische Staat gebrüstet, so mit jüngsten Angriffen auf Sicherheitskräfte in Tschetschenien und der Stadt Astrachan. Laut offizieller Angaben sollen 4.000 Russen und 5.000 Zentralasiaten in Syrien und dem Irak für den IS oder andere Gruppen kämpfen. Verteidigungsminister Schoigu behauptete Mitte März 2016, es seien durch Russlands Luftschläge in Syrien "mehr als 2.000 Banditen" aus Russland, unter ihnen 17 Feldkommandeure getötet worden (FAZ 26.4.2017).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderte Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der IS Russland den Jihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Russland hat den sog. IS erst Ende Dezember 2014 auf seine Liste terroristischer Organisationen gesetzt und dabei andere islamistische Gruppierungen außer Acht gelassen, in denen seine Staatsbürger, insbesondere Tschetschenen und Dagestaner, in Syrien und im Irak ebenfalls aktiv sind - wie die Jaish al-Muhajireen-wal-Ansar, die überwiegend von Kämpfern aus dem Nordkaukasus gegründet wurde. Ausländische und russische Beobachter, darunter die kremlkritische Novaja Gazeta im Juni 2015, erhoben gegenüber den Sicherheitsbehörden Russlands den Vorwurf, der Abwanderung von Jihadisten aus dem Nordkaukasus und anderen Regionen nach Syrien tatenlos, wenn nicht gar wohlwollend zuzusehen, da sie eine Entlastung für den Anti-Terror-Einsatz im eigenen Land mit sich bringe. Tatsächlich nahmen die Terroraktivitäten in Russland selber ab (SWP 10.2015). In der zweiten Hälfte des Jahres 2014 kehrte sich diese Herangehensweise um, und Personen, die z.B. Richtung Türkei ausreisen wollten, wurden an der Ausreise gehindert. Nichtsdestotrotz geht der Abgang von gewaltbereiten Dschihadisten weiter und Experten sagen, dass die stärksten Anführer der Aufständischen, die dem IS die Treue geschworen haben, noch am Leben sind. Am 1.8.2015 wurde eine Hotline eingerichtet, mit dem Ziel, Personen zu unterstützen, deren Angehörige in Syrien sind bzw. planen, nach Syrien zu gehen. Auch Rekrutierer und Personen, die finanzielle Unterstützung für den Dschihad sammeln, werden von den Sicherheitsbehörden ins Visier genommen. Einige Experten sind der Meinung, dass das IS Rekrutierungsnetzwerk eine stabile Struktur in Russland hat und Zellen im Nordkaukasus, in der Wolga Region, Sibirien und im russischen Osten hat (ICG 14.3.2016).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Dem russischen Islamexperten Aleksej Malaschenko zufolge reisten gar Offizielle aus der Teilrepublik Dagestan nach Syrien, um IS-Kämpfer aus dem Kaukasus darin zu bestärken, ihren Jihad im Mittleren Osten und nicht in ihrer Heimat auszutragen. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaja Gazeta diesem Treiben große Aufmerksamkeit widmeten. Am 23. Juni 2015 rief der IS-Sprecher Muhammad al-Adnani ein ‚Wilajat Kavkaz', eine Provinz Kaukasus, als Teil des IS-Kalifats aus. Es war ein propagandistischer Akt, der nicht bedeutet, dass der IS in dieser Region militärisch präsent ist oder sie gar kontrolliert, der aber den zunehmenden Einfluss dieser Terrormiliz auf die islamistische Szene im Nordkaukasus symbolisiert. Zuvor hatten mehr und mehr ideologische und militärische Führer des Kaukasus Emirats dem ‚Kalifen' Abu Bakr al-Baghdadi die Treue geschworen und sich von al-Qaida abgewandt. Damit bestätigte sich im islamistischen Untergrund im Nordkaukasus ein Trend, dem zuvor schon Jihad-Netzwerke in Nordafrika, Jemen, Pakistan und Afghanistan gefolgt waren. Seitdem mehren sich am Südrand der Russischen Föderation die Warnungen vor einer Bedrohung durch den sogenannten Islamischen Staat. Kurz zuvor hatten die föderalen und lokalen Sicherheitsorgane noch den Rückgang terroristischer Aktivitäten dort für sich reklamiert. Als lautester Mahner tut sich wieder einmal der tschetschenische Republikführer Ramzan Kadyrow hervor. Er rief alle muslimischen Länder dazu auf, sich im Kampf gegen den IS, den er mit Iblis-Staat - also Teufelsstaat - übersetzt, zusammenzuschließen. Für Kadyrow ist der IS ein Produkt anti-islamischer westlicher Politik, womit er sich im Einklang mit der offiziellen Sichtweise des Kremls befindet, der dem Westen regelmäßig fatale Eingriffe im Mittleren Osten vorwirft. Terroristische Aktivitäten im Nordkaukasus, die eindeutig den Überläufern zum IS zuzuschreiben sind, haben sich aber bislang nicht verstärkt. Bis September 2015 wurden nur zwei Anschläge in Dagestan der IS-Gefolgschaft zugeschrieben: die Ermordung des Imam einer Dorfmoschee und ein bewaffneter Angriff auf die Familie eines Wahrsagers. Auch im Südkaukasus mehren sich die Stimmen, die vor dem IS warnen (SWP 10.2015).

Bis ins Jahr 2015 hinein hat Russland die vom sogenannten Islamischen Staat ausgehende Gefahr eher relativiert und die Terrormiliz als einen von vielen islamistischen Akteuren abgetan, die das mit Moskau verbündete Assad-Regime, die ‚legitime Regierung Syriens', bekämpfen. In seiner jährlichen Tele-Konferenz mit der Bevölkerung am 18. April 2015 hatte Präsident Putin noch geäußert, der IS stelle keine Gefahr für Russland dar, obwohl die Sicherheitsbehörden schon zu diesem Zeitpunkt eine zunehmende Abwanderung junger Menschen nach Syrien und Irak registriert und vor den Gefahren gewarnt hatten, die von Rückkehrern aus den dortigen Kampfgebieten ausgehen könnten. Wenige Tage später bezeichnete Außenminister Lawrow den IS in einem Interview erstmals als Hauptfeind Russlands (SWP 10.2015).

Innerhalb der extremistischen Gruppierungen ist

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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