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19/05 Menschenrechte;Norm
FrG 1993 §10 Abs1 Z4;Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Zeizinger und die Hofräte Dr. Rigler, Dr. Handstanger, Dr. Bayjones und Dr. Enzenhofer als Richter, im Beisein der Schriftführerin Dr. Hofbauer, über die Beschwerde des M V, (geb. 1.1.1956), in Wien, vertreten durch Dr. Wolfgang Weber, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Wollzeile 12/1/27, gegen den Bescheid der Bundespolizeidirektion Wien vom 13. Dezember 1994, Zl. IV-778.974/FrB/94, betreffend Ungültigerklärung eines Sichtvermerkes, zu Recht erkannt:
Spruch
Der angefochtene Bescheid wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Beschwerdeführer Aufwendungen in der Höhe von S 12.890,-- binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.
Begründung
I.
1. Mit Bescheid vom 13. Dezember 1994 erklärte die Bundespolizeidirektion Wien (die belangte Behörde) den dem Beschwerdeführer, einen türkischen Staatsangehörigen, am "01. 02. 1983" erteilten unbefristeten Wiedereinreisesichtvermerk gemäß § 11 Abs. 1 iVm §10 Abs. 1 Z. 4 des Fremdengesetzes - FrG, BGBl. Nr. 838/1992, für ungültig.
Nach seinen Angaben halte sich der Beschwerdeführer seit dem 12. Mai 1972 in Österreich auf. 1981 habe er zusammen mit Familiengangehörigen ein näher genanntes Unternehmen gegründet. Der Beschwerdeführer sei verheiratet und für drei Kinder sorgepflichtig, seine Familie lebe in der Türkei.
Am 12. Juli 1993 sei der Beschwerdeführer vom Strafbezirksgericht Wien wegen "§ 64 (63/1 Zi. 2) Lebensmittelgesetz" zu S 2.000,-- (im Nichteinbringungsfall zehn Tage Arrest) auf drei Jahre Probezeit rechtskräftig verurteilt worden. Von der "MA 63" sei der Beschwerdeführer am 18. März 1993 wegen Übertretung des Bazillenausscheidergesetzes zu S 1.600,--, am 15. April 1993 wegen unbefugter Gewerbeausübung zu S 1.000,--, am 15. April 1993 (wiederum) wegen unbefugter Gewerbeausübung zu S 1.000,--, am 22. März 1994 wegen Übertretung des Lebensmittelgesetzes zu S 3.000,-- und am selben Tag (wiederum) wegen Übertretung des Lebensmittelgesetzes zu S 3.000,-- rechtskräftig bestraft worden. Vom "Magistratischen Bezirksamt 1/8" sei der Beschwerdeführer am 26. Jänner 1994 wegen Übertretung des Lebensmittelgesetzes zu S 1.000,-- (im Nichteinbringungsfall ein Tag Arrest) rechtskräftig bestraft worden. Am 14. April 1994 sei der Beschwerdeführer vom Strafbezirksgericht Wien wegen § 57 "(56/1)" des Lebensmittelgesetzes zu S 1.500,-- (im Nichteinbringungsfall 15 Tage Arrest) rechtskräftig bestraft worden. Am 30. Mai 1994 sei der Beschwerdeführer schließlich vom Strafbezirksgericht Wien wegen § 57 Abs. 1 des Lebensmittelgesetzes zu S 2.000,-- (im Nichteinbringungsfall zehn Tage Arrest) rechtskräftig verurteilt worden. Da der mit den genannten Verurteilungen gegebene Sachverhalt den Sichtvermerksversagungsgrund gemäß § 10 Abs. 1 Z. 4 FrG darstelle und dies die Versagung des Sichtvermerkes zur Folge gehabt hätte, sei der Sichtvermerk des Beschwerdeführers wegen Gefährdung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit und Gefährdung der Volksgesundheit für ungültig zu erklären.
Nach Abwägung der öffentlichen Interessen mit den Privatinteressen des Beschwerdeführers sei die belangte Behörde zur Auffassung gelangt, daß die öffentlichen Interessen bzw. die nachteiligen Folgen von der Abstandnahme der Aberkennung des unbefristeten Sichtvermerkes unverhältnismäßig schwerer wögen als die Auswirkungen auf die Lebenssituation des Beschwerdeführers, da die genannten Verurteilungen bzw. Bestrafungen "auf der gleichen schädlichen Neigung" beruhten. Die Aberkennung des unbefristeten Sichtvermerkes gemäß § 10 Abs. 1 Z. 4 FrG erscheine daher im Hinblick auf die in Art. 8 Abs. 2 EMRK genannten Ziele, insbesondere zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Einhaltung eines geregelten Fremdenwesens sowie zur Aufrechterhaltung der Volksgesundheit dringend geboten. Bei der Ermessensentscheidung seien die private und familiäre Situation des Beschwerdeführers berücksichtigt worden und somit dem Art. 8 Abs. 2 EMRK vollinhaltlich Rechnung getragen worden.
2. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende Beschwerde mit dem Begehren, ihn wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
3. Die belangte Behörde legte die Akten des Verwaltungsverfahrens vor, sah jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift ab.
II.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
1. Gemäß § 11 Abs. 1 FrG ist ein Sichtvermerk ungültig zu erklären, wenn nachträglich Tatsachen bekannt werden oder eintreten, welche die Versagung des Sichtvermerks (§ 10 Abs. 1 und 2 FrG) rechtfertigen würden.
Nach § 10 Abs. 1 Z. 4 FrG ist die Erteilung eines Sichtvermerks zu versagen, wenn der Aufenthalt des Sichtvermerkswerbers die öffentliche Ruhe, Ordnung oder Sicherheit gefährden würde.
2. Nach Auffassung der Beschwerde ist der angefochtene Bescheid inhaltlich rechtswidrig, weil die belangte Behörde für die vorliegende Ungültigerklärung Handlungen des Beschwerdeführers, die dieser nach Erteilung des für ungültig erklärten Sichtvermerks gesetzt hat, herangezogen habe.
Diese Auffassung ist verfehlt. Der Wortlaut des § 11 Abs. 1 FrG läßt keinen Zweifel daran, daß für die Ungültigerklärung eines Sichtvermerks nicht auf die Sachlage im Zeitpunkt der seinerzeitigen Sichtvermerkserteilung, sondern darauf abzustellen ist, ob zu einem späteren Zeitpunkt Tatsachen bekannt werden oder eintreten, die nunmehr, würde über einen Antrag auf Erteilung eines Sichtvermerks abzusprechen sein, insoweit zu einer negativen Entscheidung führen würden (vgl aus der hg. Rechtsprechung etwa das Erkenntnis vom 21. März 1996, Zl 95/18/0519). Ungeachtet der Frage, ob dem Beschwerdeführer sein für ungültig erklärter unbefristeter Wiedereinreisesichtvermerk - wie dem angefochtenen Bescheid entnehmbar - schon im Jahr 1983, oder - wie die Beschwerde angibt - erst im Jahr 1989 erteilt wurde, ist die belangte Behörde in Einklang mit § 11 Abs. 1 FrG vorgegangen, wenn sie die Ungültigerklärung dieses Sichtvermerks auf das vom Beschwerdeführer (nach Ausweis der vorgelegten Verwaltungsakten, vgl. Aktenblatt 12 ff) seit dem Jahr 1993 gesetzte Fehlverhalten gestützt hat.
3. Wesentlich für die Verwirklichung des Tatbestands des § 10 Abs. 1 Z. 4 FrG ist, ob das (gesamte) Verhalten des Fremden die Annahme rechtfertigt, sein Aufenthalt gefährde die (oder zumindest eines der) in dieser Bestimmung genannten Rechtsgüter (vgl. etwa das schon zitierte hg. Erkenntnis vom 21. März 1996, mwH).
Der Beschwerdeführer wurde unbestritten in den Jahren 1993 und 1994 vom Strafbezirksgericht Wien dreimal wegen Übertretungen des Lebensmittelgesetzes rechtskräftig gerichtlich verurteilt und in diesen Jahren einmal wegen Übertretung des Bazillenausscheidergesetzes, dreimal wegen Übertretung des Lebensmittelgesetzes sowie zweimal wegen unbefugter Gewerbeausübung verwaltungsbehördlich rechtskräftig bestraft. Die belangte Behörde hat das diesen Bestrafungen und Verurteilungen zugrunde liegende Verhalten des Beschwerdeführers als auf der "gleichen schädlichen Neigung" beruhend bezeichnet. Sie wollte damit im gegebenen Zusammenhang erkennbar den rechtlich relevanten Umstand zum Ausdruck bringen, daß der Beschwerdeführer wiederholt durch gleichartiges Verhalten, bezogen auf die beeinträchtigten Rechtsgüter, nämlich die öffentliche Ordnung und den Schutz der Gesundheit, strafbare Handlungen begangen hat. Im Hinblick darauf, daß sich in dem gegen lebensmittelrechtliche Bestimmungen gesetzten Fehlverhalten des Beschwerdeführers - das unter anderem zu drei rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilungen geführt hat - sowie in den den rechtskräftigen verwaltungsbehördlichen Bestrafungen zugrunde liegenden Straftaten, darunter auch unbefugte Gewerbeausübung, nachhaltig die Neigung des Beschwerdeführers manifestiert, sich über die österreichische Rechtsordnung hinwegzusetzen, ist die Subsumtion des verpönten Gesamtfehlverhaltens des Beschwerdeführers unter § 10 Abs. 1 Z. 4 FrG durch die belangte Behörde nicht als rechtswidrig zu erkennen, zumal der Beschwerdeführer sich trotz rechtskräftiger Verurteilungen bzw. Bestrafungen nicht davon abhalten ließ, neuerlich ein gleichartiges Fehlverhalten zu setzen.
4.1. Die Beschwerde wendet gegen den angefochtenen Bescheid ein, daß sich der Beschwerdeführer seit 23 Jahren im Bundesgebiet aufhalte, das im Jahr 1981 mit Familienangehörigen in Wien gegründete (näher genannte) Unternehmen als Geschäftsführer leite und in Österreich umfassend integriert sei, weshalb seine persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich schwerer wögen als das öffentliche Interesse an der Ungültigerklärung seines Sichtvermerkes, zumal der Beschwerdeführer auch zum wirtschaftlichen Wohl des Landes beigetragen habe.
4.2. Mit diesem Vorbringen hat die Beschwerde Erfolg.
Wegen seines (im angefochtenen Bescheid festgestellten) langjährigen Aufenthaltes ist dem Beschwerdeführer - was die belangte Behörde völlig außer acht gelassen hat - ein hoher Grad an Integration in Österreich zuzubilligen. Vor diesem Hintergrund ist das Ergebnis der von der belangten Behörde mit Blick auf Art. 8 EMRK vorgenommenen Beurteilung, daß die Aberkennung des dem Beschwerdeführer erteilten unbefristeten Sichtvermerks "insbesondere zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und der Einhaltung eines geregelten Fremdenwesens im Hinblick auf die Aufrechterhaltung der Volksgesundheit" dringend geboten sei, rechtsirrig, ist doch das Fehlverhalten zwar gehäuft, aber innerhalb eines relativ kurzen Zeitraumes von weniger als zwei Jahren gesetzt worden, welchem ein vergleichsweise sehr viel längerer Zeitraum von mehr als zwanzig Jahren gegenübersteht, für den der angefochtene Bescheid kein Fehlverhalten des Beschwerdeführers festgestellt hat. Von daher hat die belangte Behörde verkannt, daß die Auswirkungen auf die Lebenssituation des Beschwerdeführers jedenfalls schwerer wiegen als die nachteiligen Folgen eines Unterbleibens dieser Maßnahme für die - für die Ungültigerklärung maßgeblichen - öffentlichen Interessen gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK (hier: die Verhinderung von strafbaren Handlungen, der Schutz der Gesundheit und der Schutz der öffentlichen Ordnung). Der Vollständigkeit wegen sei angemerkt, daß der vom Beschwerdeführer (u.a.) ins Treffen geführte Gesichtspunkt, er habe "zum wirtschaftlichen Wohl des Landes beigetragen" - selbst wenn er zuträfe -, bei der Interessenabwägung außer Betracht zu bleiben hätte, weil hiebei nur solche Umstände zugunsten des Fremden zu berücksichtigen sind, die dem privaten und familiären Interessenbereich zuzuordnen sind (vgl. in diesem Sinn etwa das hg. Erkenntnis vom 21. März 1996, Zl. 95/18/1160, mwH).
5. Nach dem Gesagten war der angefochtene Bescheid gemäß § 42 Abs. 2 Z. 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
6. Der Spruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der Verordnung BGBl. Nr. 416/1994. Das Mehrbegehren war abzuweisen, weil zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung Stempelgebühren lediglich in der Höhe von S 390,-- (für drei Beschwerdeausfertigungen je S 120,--, für eine Bescheidausfertigung S 30,--) zu entrichten waren. Wien, am 3. Dezember 1998
European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VWGH:1998:1995180499.X00Im RIS seit
20.11.2000