TE Bvwg Erkenntnis 2019/3/12 L510 2215517-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 12.03.2019
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Entscheidungsdatum

12.03.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §8 Abs1 Z1
AsylG 2005 §8 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs3
BFA-VG §18 Abs1 Z3
BFA-VG §18 Abs1 Z4
BFA-VG §21 Abs7
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
EMRK Art.2
EMRK Art.3
EMRK Art.8
FPG §46
FPG §50 Abs1
FPG §50 Abs2
FPG §50 Abs3
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs1a
VwGVG §24
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

L510 2215517-1/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. INDERLIETH als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX, geb. am XXXX, alias XXXX, geb. am XXXX alias XXXX, geb. am XXXX, StA. Türkei alias Syrien, vertreten durch Verein Menschenrechte Österreich, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.01.2019, Zl. XXXX, zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrenshergang

1. Aus dem Verfahrensgang des angefochtenen Bescheides ergibt sich Folgendes:

"Sie sind am 17.03.2017 illegal nach Österreich eingereist und stellten am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG.

Bei der niederschriftlichen Erstbefragung durch das Bezirkspolizeikommando XXXX, am 18.03.2017 gaben Sie vor einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes zum Fluchtgrund und einer allfälligen Rückkehrgefährdung befragt im Wesentlichen Folgendes an:

.....................

"F: Warum haben Sie ihr Land verlassen (Fluchtgrund)?

Ich bin wegen der IS geflüchtet. Ich hätte mich der kurdischen Partei anschließen müssen, was ich nicht wollte. Die IS sind erbarmungslos und haben keine Gnade. Sie nehmen kleine Mädchen obwohl diese erst 8 - 9 Jahre alt sind. Ich hätte gegen die IS kämpfen müssen, will aber keine Waffen tragen und auch nicht kämpfen.

F: Was befürchten Sie bei einer Rückkehr in Ihre Heimat?

Vor den IS habe ich große Angst. Wenn ich zurückkehre muss ich kämpfen und töten, dass wollte ich aber nie."

(wörtlich übernommen)

.....................

-

Am 24.07.2017 langte beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX, eine Berichterstattung der Polizeiinspektion XXXX, wegen Körperverletzung gegen Sie ein.

-

Am 25.07.2017 langte beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX, eine Wegweisung und Betretungsverbot von der Bezirkshauptmannschaft XXXX ein.

-

Am 27.07.2017 stellten Sie über den Verein Menschenrechte Österreich einen Antrag auf freiwillige Rückkehr in Ihr Herkunftsland und Übernahme der Heimreisekosten.

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Mit Schreiben vom 28.07.2017 stimmte das Bundesministerium für Inneres Ihrem Antrag auf Übernahme der Heimreisekosten zu und bewilligte die Auszahlung einer Reintegrationshilfe in der Höhe von 500,-- Euro.

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Mit Schreiben vom 31.07.2017 erging ein Erhebungsersuchen an die Polizeiinspektion XXXX, um Ihnen die Ladung zu zustellen.

-

Am 11.08.2017 wurde durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX, Ihr Verfahren gemäß § 24 Abs. 2 AsylG eingestellt. Ein Festnahmeauftrag wurde erlassen und ein Amtsvermerk angelegt.

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Am 16.08.2017 langte durch den VMÖ beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX, der Widerruf zur Übernahme der Heimreisekosten für die freiwillige Rückkehr in das Herkunftsland.

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Am 21.09.2017 langte beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX, ein Abschlussbericht bezüglich der Körperverletzung vom 21.07.2017 der Polizeiinspektion XXXX ein.

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Am 08.08.2018 erfolgte die Meldung durch die XXXX, dass die Übernahme für die freiwillige Rückkehr am Flughafen Frankfurt nicht erfolgt ist.

-

Am 04.12.2018 erfolgte durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion XXXX, der Widerruf des Festnahmeauftrages.

-

Mit Schreiben vom 05.12.2018 wurden Sie vom Verteilerquartier XXXX ins Verteilerquartier XXXX überstellt.

Bei der niederschriftlichen Einvernahme im Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl in XXXX am 14.12.2018 gaben Sie vor einem Organwalter befragt im Wesentlichen folgendes an:

.....................

Die anwesenden Personen werden vorgestellt und deren Funktion/Aufgabe im Verfahren dargestellt.

Der anwesende Dolmetscher ist (vom Einvernahmeleiter) als Dolmetscher für die Sprache türkisch bestellt und beeidet worden. Sind Sie dieser Sprache mächtig und damit einverstanden in dieser Sprache einvernommen zu werden?

A: Ja.

F: Verstehen Sie den Dolmetscher gut bzw sehr gut?

A: Normal.

F: Haben Sie gegen eine der anwesenden Personen aufgrund einer möglichen Befangenheit oder aus sonstigen Gründen irgendwelche Einwände?

A: Nein.

F: Werden Sie in Ihrem Verfahren vertreten?

A: Nein.

Ich werde ausdrücklich darauf hingewiesen, dass ich im Fall von Verständigungsschwierigkeiten jederzeit rückfragen kann.

Alle Anwesenden werden gebeten, ihre Mobiltelefone auszuschalten bzw. lautlos zu schalten.

F: Fühlen Sie sich heute geistig und körperlich in der Lage, Angaben zu Ihrem Asylverfahren zu machen?

A: Nein, ich fühle mich nicht sehr gut, ich ein Loch im Herzen. Ich kann nicht immer schlafen in der Nacht. Ich habe meine Frau verloren, getrennt, deswegen bin ich durcheinander. Ich bin inzwischen geschieden.

F: Sind Sie gesund?

A:. Ich habe ein paar Wunden am Körper, tue mir schwer beim Sitzen. Ich bin schwer hier her gekommen.

F: Wie sind Sie hergekommen?

A: Mit dem Zug, alleine.

F: Sind Sie derzeit in ärztlicher Behandlung oder Therapie?

A: Am Montag gehe ich zum Arzt.

F: Nehmen Sie Medikamente?

A:. Nein.

Anm: Wenn Sie eine Pause brauchen, sagen Sie bitte Bescheid.

Dem Antragsteller wird eine kurze Darstellung des bisherigen Ablaufs des Verfahrens gegeben und Grund und Ablauf der nunmehrigen Einvernahme mitgeteilt.

.....................

F: Haben Sie die Belehrung verstanden?

A:. Ja.

Dem AW wird Wasser angeboten. Wird dankend angenommen. Dem AW wird neuerlich gesagt, dass er die Einvernahme jederzeit unterbrechen kann, sollte er eine Pause benötigen.

F: Haben Sie eine weiße Karte?

A:. JA.

Anmerkung: Der AW übergibt die weiße Karte dem Leiter der Amtshandlung.

F: Zuerst möchte ich mit Ihnen Ihre Identität abklären. Ist Ihr protokollierter Name "XXXX" korrekt geschrieben?

A: Nein, ich heiße XXXX.

F: Stimmt Ihr Geburtsdatum "XXXX"?

A: Nein, das stimmt nicht. Ich bin am XXXX geboren.

F: Wo sind Sie geboren?

A: Türkei, XXXX.

F: Haben Sie ein Telefon und wenn ja, wie lautet die Nummer?

A: XXXX

F: Können Sie Dokumente oder Identitätsnachweise für sich nachreichen?

A: Die Originaldokumente sind in der Türkei bei meiner Familie.

Können Sie Dokumente oder Identitätsnachweise für sich besorgen?

A: Nein, meine Familie schickt mir die Dokumente, aber ich weiß nicht wann, 3 Wochen oder so.

F: Hatten Sie jemals einen Reisepass?

A: Nein.

Anm: Dem AW wird zur Kenntnis gebracht, dass er den Pass im Falle der Wieder-, bzw Neuerlangung unverzüglich dem Bundesamt vorzulegen habe.

F: Haben Sie jemals einen anderen Namen geführt bzw eine andere Identität im Verfahren (auch früheren Verfahren) angeführt?

A: XXXX. Mehr kann ich mich nicht erinnern.

F: Haben Sie weitere Beweismittel vorzulegen, bzw geltend zu machen?

A: Nein.

F: Können Sie sich noch an die Erstbefragung bei der Polizei erinnern?

A: Nein.

F: Wurden Ihnen diese rückübersetzt?

A: Weiß ich nicht.

F: Haben Sie im Verfahren bis jetzt die Wahrheit gesagt?

A: Ja. Habe ich.

F: Haben Sie eine Kopie der Erstbefragung erhalten?

A: Kann sein, ich weiß nicht mehr.

F: Welcher Staatsangehörigkeit gehören Sie an?

A:. Türkei.

F: Welcher Religion und Volksgruppe gehören Sie an?

A: Moslem, keine Volksgruppe.

F: Haben Sie persönliche Beziehungen in Österreich?

A:. Keine.

F: Haben Sie bereits in einem anderen Land um Asyl angesucht?

A:. Ja, in Deutschland. Dann war ich 8 Monate dort, jetzt bin ich wieder hier.

F: Wo lebten Sie bis zu Ihrer Flucht aus "Türkei"?

A:. In Istanbul.

F: Wo genau?

A: In einem Ortsteil von Istanbul, XXXX

F: Wie viele Einwohner hat XXXX ungefähr?

A: Sehr viele, es gehört zu Istanbul.

F: Wer hat mit Ihnen an dieser Adresse gewohnt?

A: Mein älterer Bruder, ich bin 2002 von XXXX weggegangen. Bis 2015 habe ich in Istanbul gearbeitet, dann bin ich hierhergekommen.

F: Wie waren Ihre Lebensumstände und Ihr persönliches Umfeld vor Ihrer Ausreise aus "Türkei"? Schildern Sie bitte Ihre Ausbildung?

A: Volks- und Hauptschule, insgesamt 8 Jahre.

F: Haben Sie in der Türkei gearbeitet?

A:.Ich habe XXXX gemacht, ich kann auch Pizza machen.

F: Haben Sie einen Beruf erlernt?

A: Ich habe das 10 Jahre lang gemacht, ich wurde angelernt. 3-4 Jahre habe ich dann als Koch gearbeitet. Zeugnisse habe ich nicht.

F: Haben Sie Verwandte? Wenn ja, welche?

A:. die ganze Familie ist da, Vater hab ich nie gesehen, da war ich klein, als er verstorben ist. Die Mutter lebt noch, ich habe noch einen größeren Bruder, der ist 37 ungefähr, dann habe ich noch eine Schwester, die ist älter als ich, ist aber behindert. 2 größere Brüder von mir haben sich das Leben genommen.

F: Eigene Kinder?

A: Meine Frau hatte ein Kind, sie war im 3. Monat schwanger.

A: Meine Frau war meine Cousine, sie haben mit mir ein Spiel gespielt um nach Österreich zu kommen. Die Frau habe ich von Syrien in die Türkei gebracht und dann hierher, dafür habe ich € 12.000 bezahlt.

F: Was meinen Sie mit "Spiel gespielt"?

A: Eine Verwandte von ihr - sie lebt in Wien - sie hat unser Eheleben durcheinander gebracht. Ich habe meine Frau beim Onkel gelassen und dann sind wir beide ins Camp gegangen. Meine Frau war dann überall verletzt und zerkratzt. Irgendjemand hat ihr das angetan. Meine Frau wollte denjenigen aber nicht verraten, weil sie Angst hatte. Ich wollte mich an dem Tag selbst umbringen. Ich lüge nicht, aber die haben mich alle so verrückt gemacht.

F: Haben Sie noch andere Verwandte?

A: Ich habe noch vier verheiratete Schwestern in der Türkei, die fünfte ist die Behinderte. Insgesamt waren wir mit mir 8 Kinder.

F: Onkel, Tanten, Großeltern?

A: Ja, sehr viele in der Türkei. Alle rufen mich an und weinen immer.

F: Warum?

A: Wegen allem was da passiert, weil mich die Frau hierher gelockt hat.

F: Haben Sie Kontakt zu Ihrer Frau?

A: Nein.

F: Brauchen Sie eine Pause?

A: Nein, ich entschuldige mich dafür, dass ich weine, ich habe meine Frau sehr geliebt.

F: Sind sie geschieden?

A: Ja.

F: Wie haben Sie sich scheiden lassen?

A: Weil Sie Syrerin ist, kam in der Türkei keine Hochzeit zustande. Wir hatten nur eine traditionelle Hochzeit.

F: Sind Sie noch traditionell verheiratet?

A: Nein, geschieden.

F: Man muss nur einem nahen Angehörigen sagen, dreimal, wir lassen uns scheiden, dann ist man geschieden.

F: Das kann aber nur der Mann, das haben Sie gemacht?

A: Ja, wenn ich das nicht gemacht hätte, könnte sie nie mehr einen anderen heiraten. Ich wollte mir ihr nichts mehr zu tun haben.

F: Haben Sie sich noch einmal gesehen?

A: Seit zwei Jahren nicht mehr gesehen oder gehört.

F: Wissen Sie wie es ihr geht oder wo sie ist?

A: Ich glaube, sie ist in Österreich, wo weiß ich nicht.

F: Wo leben die Verwandten?

A: Alle in der Türkei, 1 Bruder in Istanbul, die anderen in XXXX.

F: Wie ist bzw war ihre finanzielle Situation?

A: Nicht gut. Ich bin nicht wegen dem Geld hierhergekommen, hier gibt es eine Lebenschance. Alles war so teuer, ich habe ständig gearbeitet.

F: Haben Sie sonst zu jemanden in Ihrer Heimat Kontakt?

A: Zu meiner Familie, Mutter und Bruder, ich spreche eigentlich mit allen. Für dieses Telefon haben mir die Verwandten aus der Türkei das Geld geschickt.

F: Wie haben Sie das Geld geschickt?

A: Western Union.

F: Bekommen Sie öfter Unterstützung?

A: Ich will eigentlich nichts, aber für die Kontaktaufnahme wollten sie mir das Geld geben.

F: Wie viel haben Sie denn bekommen?

A: 500 Euro, das Telefon hat 300 gekostet. 15 Euro die Simkarte.

F: Hat Ihre Familie irgendwelche Besitztümer in Ihrem Heimatland, z. B. Häuser, Grund?

A: Der Bruder in Istanbul lebt in Miete, in XXXX haben wir ein ärmliches Haus mit wenig Platz.

F: Aus welchem Grund suchten Sie in Österreich um Asyl an? Schildern Sie möglichst ausführlich und konkret Ihre Flucht- und Asylgründe! (Freie Erzählung)

A: Meine Freunde sind alle dort gestorben, dort gibt es kein Leben. Meine Kinderfreunde sind seit 8 Jahren im Gefängnis. Ich habe keine, ich will nur nicht dort leben. Ich war 1 1/2 Jahre beim Bundesheer, ich habe keine Probleme mit den Behörde, aber ich kann dort nicht leben.

F: Haben sie alle Fluchtgründe genannt?

A:.Ja.

F: Hatten Sie Gelegenheit Ihre Fluchtgründe ausführlich zu schildern?

A: Ja.

F: Haben Sie die Türkei aus wirtschaftlichen Gründen, dh wegen Job oder Ausbildung verlassen?

A:. Es gibt dort keine Jobs, bzw musste ich sehr hart arbeiten und kam nicht über die Runden. Ja, ich möchte hier arbeiten und meine Schwester unterstützen. Ich bin auch nicht nur aus finanziellen Gründen hier, hier ist mehr Ruhe.

F: Hatten Sie jemals Schwierigkeiten oder Probleme mit den Behörden Ihres Heimatlandes "Türkei"?

A: Nein.

F: Waren Sie jemals politisch aktiv?

A: Nein. Weder Erdogan noch sonst was.

F: Ist gegen Sie ein Gerichtsverfahren anhängig?

A:. Nein.

F: Waren Sie in Haft oder wurden Sie festgenommen? Wenn ja, wie oft insgesamt?

A:. 1x, 2012 kam ich von der Arbeit nach Hause und 15 Polizisten haben mich aufgehalten und geschlagen. Dann wurde ich kontrolliert und habe ich mich eine Woche auskurieren müssen. Die Polizei hat dann gesagt, es war ein Irrtum.

Kommen wir auf Ihre Situation in Österreich.

F: Wie bestreiten Sie nun in Österreich Ihren Lebensunterhalt?

A:. Ich wohne im Camp.

F: Welche Unterstützungen beziehen Sie?

A: 40 Euro bekomme ich, der Rest ist gratis. Sobald ich positiv bekomme, gehe ich arbeiten.

F: Sind Sie arbeitsfähig?

A:. ja.

F: Welche Arbeitstätigkeit könnten Sie in Österreich ausführen?

A: egal was, auch Toiletten putzen.

F: Haben Sie in Österreich Kurse oder sonstige Ausbildungen absolviert?

A: Nein. Damals habe ich ein bisschen Deutsch gelernt.

F: Wie schätzen Sie Ihre Deutschkenntnisse ein?

A: Ich verstehe ein bisschen, sprechen kann ich nicht so.

F: Haben Sie eine Sprachprüfung gemacht?

A: nein.

F: Haben Sie Verwandte oder persönliche Beziehungen in Österreich oder einem EU-Land?

A:. nein.

F: Leben Sie mit sonst jemanden in Familiengemeinschaft oder in einer familienähnlichen/eheähnlichen Beziehung?

A: Nein.

F: Haben Sie in Österreich eine Straftat begangen?

A: Nein.

F: Sind oder waren Sie Mitglied in einem Verein oder einer Organisation in Österreich?

A: Nein.

Mit mir werden die Feststellungen der Staatendokumentation zur Situation in meinem Heimatland erörtert.

F: Möchten Sie die Länderfeststellungen ausgefolgt bekommen?

A: Nein.

F: Möchten Sie eine Stellungnahme zu den Länderfeststellungen einbringen?

A:.Nein.

F: Sind Sie - soferne für das BFA als notwendig erachtet - mit amtswegigen Erhebungen vor Ort unter Wahrung Ihrer Anonymität, eventuell unter Beiziehung der Österreichischen Botschaft und eines Vertrauensanwaltes einverstanden?

A:. Ja.

F: Hätten Sie in einem anderen Teil des Heimatlandes leben können? z. B. in einer anderen Stadt (z.B:) Türkei ist ein riesiges Land?

A:. Nein.

F: Könnten Sie bei der Familie unterkommen?

A: Nein.

F: Warum nicht, würde Ihre Familie Sie nicht unterstützen?

A: Nein, dort kämpft jeder selbst ums Überleben.

F: Wenn seitens des .BFA eine Rückkehrentscheidung (ev. mit Einreiseverbot) erlassen wird, besteht ein Interesse an freiwilliger Ausreise?

A: Nein.

F: Das Bezirksgericht hat eine Aufenthaltsermittlung wegen Vergehens gegen Sie verfügt, Zahl XXXX. Sie wurden nunmehr darüber unterrichtet. Wo halten Sie sich auf bzw an welcher Adresse sind Sie für das Bezirksgericht erreichbar?

A: XXXX

Sie müssen sich unverzüglich beim Bezirksgericht XXXX melden, XXXX.

F: Sie haben bei Polizei angeben, dass Sie XXXX aus Syrien sind?

A: Das stimmt, das war die Familie der Frau, das war nicht mein Name.

F: Warum haben Sie diesen Namen angegeben?

A: Die Verwandten der Frau haben gesagt ich muss das sagen.

F: Sie haben gesagt, der IS würde Sie verfolgen?

A: Nein, das stimmt nicht, der IS verfolgt mich nicht. Ich weiß nicht einmal was das ist. Der Dolmetscher hat nicht richtig übersetzt.

F: Warum haben Sie damals um freiwillige Ausreise angesucht?

A: Das habe ich nicht.

Anm: Dem Antragsteller wird der Antrag auf freiwillige Ausreise, belegt durch die weiße Karte, seine Handschrift und seine Unterschrift vorgehalten.

A: Das ist alles eine Lüge, ein Spiel, ich wollte das nicht, ich wurde gezwungen.

F: Wo ist der syrische Personalausweis, denn sie damals bei der Polizei vorgelegt haben?

A: Den hat die Familie meiner Exfrau.

F: Ich beende jetzt die Befragung. Hatten Sie Gelegenheit alles vorzubringen, was Ihnen wichtig erscheint oder wollen Sie noch etwas hinzufügen, was noch nicht zur Sprache gekommen ist?

A: Nein.

F.: Haben sie den Dolmetsch während der g e s a m t e n Einvernahme einwandfrei verstanden?

A.:

Anmerkung: Der Antragsteller wird über den weiteren Verlauf des Verfahrens aufgeklärt.

........................

Der Inhalt der Niederschrift wurde auf folgende Weise wiedergegeben:

Übersetzung durch Dolmetsch

(wörtlich übernommen)

........................

-

Am 17.12.2018 wurde dem Bezirksgericht XXXX mitgeteilt, dass Sie sich wieder im Bundesgebiet aufhalten.

-

Mittels Verfahrensanordnung vom 18.12.2018 wurde Ihr Familienname von XXXX auf XXXX geändert.

-

Mit Verfahrensanordnung vom heutigen Tag wurde Ihnen ein Rechtsberater gemäß § 52 BFA-VG für ein allfälliges Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt."

2. Das Bundesamt hat mit gegenständlichem Bescheid folgend entschieden:"

I. Ihr Antrag auf internationalen Schutz vom 17.03.2017 wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 Asylgesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen.

II. Gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG wird Ihr Antrag auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf Ihren Herkunftsstaat Türkei abgewiesen.

III. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wird Ihnen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt.

IV. Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG) idgF, wird gegen Sie eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr 100/2005 (FPG) idgF, erlassen.

V. Es wird gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass Ihre Abschiebung gemäß § 46 FPG in die Türkei zulässig ist.

VI. Gemäß § 55 Absatz 1a FPG besteht keine Frist für die freiwillige Ausreise.

VII. Einer Beschwerde gegen diese Entscheidung über Ihren Antrag auf internationalen Schutz wird gemäß § 18 Absatz 1 Ziffer 3 und 4 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. Nr. 87/2012, (BFA-VG) idgF, die aufschiebende Wirkung aberkannt."

Das Bundesamt gelangte im Wesentlichen zur Erkenntnis, dass die bP keine asylrelevanten Gründe vorgebracht habe und auch amtswegig bei der Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen keine relevante Bedrohung oder Verfolgung durch Behörden, Dritte oder Sonstige, festgestellt habe werden können. Es könne nicht festgestellt werden, dass die beschwerdeführende Partei (folgend auch kurz: "bP") im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat einer individuellen konkreten Bedrohung durch Behörden, Private oder staatlicherseits ausgesetzt wäre. Es könne keine wie auch immer geartete, sonstige besondere Gefährdung ihrer Person bei einer Rückkehr in die Türkei festgestellt werden. Es könne nicht festgestellt werden, dass sie im Falle einer Rückkehr in ihr Heimatland einer individuellen, konkreten Bedrohung aufgrund ihres Glaubens oder politischen Überzeugung ausgesetzt wäre. Es könne nicht festgestellt werden, dass sie aufgrund ihrer Abwesenheit aus ihrem Herkunftsstaat nicht mit den kulturellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten vertraut wäre und bei der Wiedereingliederung in die türkische Gesellschaft unüberwindbaren Hindernissen gegenüberstehen würde. Sie habe die Behörden bewusst über Ihre Identität und die Staatsangehörigkeit getäuscht. Erst im Zuge eines strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens habe ihre Identität ermittelt werden können. Sie habe zwar in der Erstbefragung im Zuge der Täuschung Fluchtgründe vorgebracht, bei der Einvernahme durch das BFA aber glaubhaft angegeben, dass keine Verfolgungsgründe bestehen würden. Sie habe ihren tatsächlichen Herkunftsstaat Türkei aus wirtschaftlichen Gründen verlassen, weshalb insgesamt die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde gegen eine mit der abweisenden Entscheidung über einen Antrag auf internationalen Schutz verbundenen Rückkehrentscheidung abzuerkennen gewesen sei.

Gegen diesen Bescheid wurde innerhalb offener Frist Beschwerde erhoben.

3. Am 07.03.2019 lange der Verfahrensakt bei der zuständigen Gerichtsabteilung des BVwG ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt)

Das Bundesamt traf auf Grund des Ermittlungsverfahrens folgende Feststellungen, denen sich das BVwG anschließt:

"Zu Ihrer Person:

Ihre Identität und Ihr tatsächliches Alter stehen nicht fest.

Sie haben die Behörden durch falsche Angaben über Ihre wahre Identität und Ihre Staatsbürgerschaft getäuscht.

Laut Ihren Angaben führen Sie den Namen XXXX und seien am XXXX in XXXX, Türkei geboren. Soweit im Bescheid und Verfahren Ihr Name und ihr Geburtsdatum genannt werden, dient dies nur Ihrer Individualisierung und stellt Ihre Verfahrensidentität dar.

Sie sind türkischer Staatangehöriger. Sie bekennen sich zur muslimischen Glaubensrichtung. Sie sind ledig. Sie sind gesund und arbeitsfähig. Sie leiden weder an einer schweren körperlichen oder ansteckenden Krankheit, noch leiden Sie an einer schweren psychischen Störung, welche bei einer Rückkehrentscheidung in die Türkei eine unzumutbare Verschlechterung des Gesundheitszustandes bewirken würde.

Es war glaubhaft, dass Sie insgesamt 8 Jahre lang die Schule besucht haben.

Sie haben als Koch gearbeitet und auch XXXX hergestellt.

Sie waren nie politisch tätig oder Mitglied einer politischen Partei.

Sie sprechen die türkische Amtssprache Türkisch.

Sie sind strafrechtlich unbescholten.

Sie hatten in Ihrem Herkunftsstaat nie Probleme aufgrund Ihrer Volksgruppenzugehörigkeit oder Ihres Religionsbekenntnisses.

Sie hatten in Ihrem Herkunftsstaat niemals persönlich Probleme mit der Polizei, Behörden oder Gerichten.

Sie wären in Österreich bereit und in der Lage Arbeit anzunehmen und zu verrichten.

Es kann nicht festgestellt werden, dass Sie das nicht auch in der Türkei tun könnten.

Zu den Gründen für das Verlassen Ihres Herkunftsstaats:

Sie haben keine asylrelevanten Gründe vorgebracht und konnte auch amtswegig bei der Berücksichtigung sämtlicher bekannter Tatsachen keine relevante Bedrohung oder Verfolgung durch Behörden, Dritte oder Sonstige festgestellt werden.

Zu Ihrer Situation im Fall Ihrer Rückkehr:

Es kann nicht festgestellt werden, dass Sie im Falle einer Rückkehr in Ihren Herkunftsstaat einer individuellen konkreten Bedrohung durch Behörden, Private oder staatlicherseits ausgesetzt wären.

Es kann keine wie auch immer geartete, sonstige besondere Gefährdung Ihrer Person bei einer Rückkehr in die Türkei festgestellt werden.

Es kann nicht festgestellt werden, dass Sie im Falle einer Rückkehr in Ihr Heimatland einer individuellen, konkreten Bedrohung aufgrund Ihres Glaubens oder politischen Überzeugung ausgesetzt wären.

Es kann nicht festgestellt werden, dass Sie, aufgrund Ihrer Abwesenheit aus Ihrem Herkunftsstaat, nicht mit den kulturellen und gesellschaftlichen Gegebenheiten vertraut wären und bei der Wiedereingliederung in die türkische Gesellschaft unüberwindbaren Hindernissen gegenüberstehen würden.

Zu Ihrem Privat- und Familienleben:

Sie sind illegal in das Bundesgebiet eingereist und stellten am 17.03.2017 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich und Sie hielten sich zumindest seit diesem Tag in Österreich auf.

Sie haben sich dem österreichischen Verfahren entzogen, zwischenzeitig jedenfalls in der BRD aufgehalten und wurden am 28.11.2018 nach Österreich rücküberstellt.

Sie verfügen in Österreich über keine legale Erwerbstätigkeit und Sie werden grundversorgt. Es kann nicht festgestellt werden, dass eine besondere Integrationsverfestigung Ihrer Person in Österreich besteht. Sie haben keine Deutschkurse besucht und keine Deutschprüfung gemacht.

Festgestellt wird, dass Sie in Österreich weder über ein schützenswertes Familienleben noch Privatleben verfügen. Laut Ihren Angaben leben Ihre Mutter, Ihr älterer Bruder und Ihre fünf Schwestern in der Türkei. Es leben auch viele Onkel, Tanten und Großeltern von Ihnen in der Türkei, XXXX.

Sie haben in Österreich keine Bekannten oder Verwandten.

Zur Lage in Ihrem Herkunftsland:

1. Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems (9.7.2018) der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder des Einkammerparlaments werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmission der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017). Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative Iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Der Wahlkampf fand in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).

Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018). Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).

Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen

457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018). [siehe auch: 4. Rechtsschutz/Justizwesen,

5. Sicherheitsbhörden und 3.1. Gülen- oder Hizmet-Bewegung]

Quellen:

* AA - Auswärtiges Amt (3.8.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei

* AM - Al Monitor (17.4.2017): Where does Erdogan's referendum win leave Turkey?

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-erdogan-referendum-victory-further-uncertainty.html, Zugriff 19.9.2018

* AM - Al Monitor (18.4.2017): Calls for referendum annulment rise in Turkey,

http://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/04/turkey-referendum-fraud.html, Zugriff 19.9.2018

* EC - European Commission (17.4.2018): Turkey 2018 Report [SWD (2018) 153 final],

https://ec.europa.eu/neighbourhood-enlargement/sites/near/files/20180417-turkey-report.pdf, Zugriff 18.9.2018

* FAZ - Frankfurter Allgemeine Zeitung (19.4.2017): OSZE kritisiert Erdogans Umgang mit Manipulationsvorwürfen, http://www.faz.net/aktuell/tuerkei-referendum-osze-kritisiert-erdogans-umgang-mit-manipulationsvorwuerfen-14977732.html, Zugriff 19.9.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (10.2.2017):More than 38,000 FETÖ-linked persons remanded, convicted in Turkey: Minister, http://www.hurriyetdailynews.com/more-than-38-000-feto-linked-persons-remanded-convicted-in-turkey-minister-127098, Zugriff 21.9.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (16.4.2017): Turkey approves presidential system in tight referendum, http://www.hurriyetdailynews.com/live-turkey-votes-on-presidential-system-in-key-referendum.aspx?pageID=238&nID=112061&NewsCatID=338, Zugriff 19.9.2018

* HDN - Hürriyet Daily News (26.6.2018): 24. Juni 2018, Ergebnisse Präsidentschaftswahlen; Ergebnisse Parlamentswahlen, http://www.hurriyetdailynews.com/wahlen-turkei-2018, Zugriff 19.9.2018

* NZZ - Neue Zürcher Zeitung (18.7.2018): Wie es in der Türkei nach dem Ende des Ausnahmezustands weiter geht, https://www.nzz.ch/international/tuerkei-wie-es-nach-dem-ende-des-ausnahmezustands-weitergeht-ld.1404273, Zugriff 20.9.2018

* OSCE - Organization for Security and Cooperation in Europe (22.6.2017): Turkey, Constitutional Referendum, 16 April 2017: Final Report,

http://www.osce.org/odihr/elections/turkey/324816?download=true, Zugriff 19.9.2018

* OSCE/PACE - Organization for Security and Cooperation in Europe/ Parliamentary Assembly of the Council of Europe (17.4.2017):

INTERNATIONAL REFERENDUM OBSERVATION MISSION, Republic of Turkey - Constitutional Referendum, 16 April 20

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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