TE Bvwg Erkenntnis 2019/6/7 W147 2118647-1

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Veröffentlicht am 07.06.2019
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Entscheidungsdatum

07.06.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §54
AsylG 2005 §55
AsylG 2005 §58 Abs2
AsylG 2005 §8 Abs1
BFA-VG §9
B-VG Art133 Abs4

Spruch

W147 2118647-1/23E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Stephan KANHÄUSER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst gem. GmbH, ARGE Rechtsberatung, Wattgasse 48/3. Stock, 1170 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21. November 2015, Zahl: 1036145300 + 150118195, nach Durchführung von mündlichen Verhandlungen zu Recht erkannt:

A)

I. Die Beschwerde wird hinsichtlich der Spruchpunkte I. und II. gemäß §§ 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 24/2016, 8 Abs. 1 iVm 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, als unbegründet abgewiesen

II. Der Beschwerde gegen die Spruchpunkt III. bis IV. wird stattgegeben, eine Rückkehrentscheidung in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation gemäß § 9 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG), BGBl. I Nr. 87/2012 in der Fassung BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018, auf Dauer für unzulässig erklärt und XXXX gemäß §§ 54 Asylgesetz 2005 - AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 87/2012, 55 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018, und § 58 Abs. 2 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100 in der Fassung BGBl. I Nr. 145/2017, der Aufenthaltstitel "Aufenthaltsberechtigung plus" für die Dauer von zwölf Monaten erteilt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundesverfassungsgesetz - B-VG, BGBl. Nr. 1/1930 in der Fassung BGBl. I Nr. 164/2013, nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und der russischen Volksgruppe zugehörig, brachte am 31. Januar 2015 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz ein, nachdem er zuvor mit einem Visum, ausgestellt durch die österreichische Botschaft in Moskau, rechtmäßig in das österreichische Bundesgebiet eingereist war. Als Nachweis seiner Identität legte er einen russischen Auslandsreisepass sowie einen russischen Inlandsreisepass im Original vor.

Anlässlich seiner niederschriftlichen Erstbefragung vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes am 1. Februar 2015 gab der Beschwerdeführer im Zuge der Aufnahme seiner Daten an, in XXXX , in der Russischen Föderation geboren zu sein, der Volksgruppe der XXXX anzugehören und nach der Grundschule von XXXX bis XXXX ein College von XXXX bis XXXX besucht zu haben.

Befragt zu den Gründen für das Verlassen seines Herkunftsstaates gab der Beschwerdeführer an, dass er sich zu dem männlichen Geschlecht hingezogen fühlen würde. Auch habe er in der russischen Föderation bereits einen Partner gehabt, mit diesem aber nicht zusammengelebt. Eine Woche vor der Ausreise aus dem Herkunftsstaat habe der Beschwerdeführer in der Stadt XXXX vor einem Regierungsgebäude mit einem Plakat gegen den Faschismus demonstriert. Er sei daraufhin von der Polizei festgenommen und zwei Tage hindurch angehalten worden. Nach seiner Entlassung seien neuerlich uniformierte Polizisten zu ihm nach Hause gekommen und hätten den Beschwerdeführer abermals festgenommen, ihn für drei Stunden festgehalten und geschlagen. Er habe die Vermutung, dass die Polizisten erfahren hätten, dass er homosexuell sei. Nach seiner Entlassung sei er zur Staatsanwaltschaft gegangen und habe Anzeige gegen die Polizisten erstatten wollen. Die Staatsanwaltschaft habe ihm mitgeteilt, dass eine Anzeige nicht erfolgreich sei, da er keine Beweise gegen die Polizisten habe. Aus diesem Grund habe er sein Herkunftsland verlassen. Dies wären alle seine Fluchtgründe, weitere habe er nicht.

Er sei bereits im Jahre 2014 in Österreich gewesen. Das nunmehrige Visum habe er sich bei der österreichischen Botschaft in Moskau besorgt.

2. Am 1. Februar 2015 wurde dem Beschwerdeführer eine Aufenthaltsberechtigungskarte gemäß § 51 AsylG 2005 ausgehändigt.

3. Am 23. Juni 2015 wurde der Beschwerdeführer im Beisein eines geeigneten Dolmetschers für die russische Sprache vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl niederschriftlich einvernommen und gab eingangs an, er sei psychisch und physisch zu einer Einvernahme in der Lage. Seine bisherigen Angaben im Verfahren würden der Wahrheit entsprechen. Zusätzlich zu den bereits vorgelegten Dokumenten könne er weiters seine Geburtsurkunde vorlegen. Der Beschwerdeführer gab an, dass er von September 2014 bis zu seiner Ausreise in der Stadt

XXXX gewohnt hätte. Davor habe er in der Region Norkaukasus in Nordossetien, in der Stadt XXXX gelebt. Zuletzt habe der Beschwerdeführer bei einem Freund gewohnt, weil seine Eltern ihn aus der Wohnung gejagt hätten. Von 2008 bis 2014 habe er mit seinen Eltern gelebt, sein Vater habe für das Innenministerium gearbeitet. Der Vater des Beschwerdeführers würde im Innenministerium für die Polizei arbeiten. Nach dem Rauswurf bei den Eltern habe der Beschwerdeführer von seinen Ersparnissen gelebt und auch einen Job in einer Internet-Verkaufshandelsgesellschaft angenommen. Teilweise habe ihm auch sein Freund geholfen, mit dem er zusammengelebt habe. Im College habe der Beschwerdeführer eine Ausbildung als Jurist und Ökonom angefangen, jedoch habe er diese Ausbildungen nicht abschließen können, da er aus dem College ausgeschlossen worden wäre. Er sei nicht inhaftiert gewesen, kein Mitglied einer politischen Partei, habe sich aber aktiv am politischen Aktionen beteiligt.

Zu seinen Fluchtgründen brachte der Beschwerdeführer im Wesentlichen vor, dass er aufgrund seiner sexuellen und nicht traditionellen Orientierung aus dem College ausgeschlossen worden wäre. In XXXX habe der Beschwerdeführer beschlossen, eine Gruppe namens Regenbogengruppe in sozialen Netzwerken zu organisieren. Zuerst habe es sich um eine Kommunikationsgruppe gehandelt, mit der Mahnwachen abgehalten worden wären. Die wichtigste Mahnwache habe am 19. Januar 2015 vor einem Regierungsgebäude stattgefunden. Zu diesem Zeitpunkt habe es vermehrt Mahnwachen gegen Faschismus, gegen Fremdenfeindlichkeit und gegen Homophobie gegeben. Der Beschwerdeführer sei mit einem Plakat neben dem Regierungsgebäude gestanden. Obwohl der Beschwerdeführer während der Mahnwache die gesetzlichen Auflagen eingehalten habe, wären staatliche Beamte an ihn herangetreten und hätten ihn aufgefordert, sich zu entfernen. Daraufhin hätten sich Leute, die aggressiv gegen den Beschwerdeführer eingestellt gewesen seien, gegen ihn gewandt, ihn mit Eiern beworfen und versucht, ihm das Plakat zu entreißen und ihn gestoßen. Daraufhin sei die Polizei gekommen und hätten die Polizisten per Funk den Befehl erhalten, ihn zu verhaften. Man habe den Beschwerdeführer an Armen und Beinen gepackt und ihn ins Auto gezerrt. Dabei wäre sein Kopf gegen das Auto gestoßen. Ärztliche Hilfe wäre dem Beschwerdeführer auf der Polizeistation verweigert worden. Er sei zwei Tage lang angehalten worden und ihm erklärt worden, dass dies zu seinem Schutz gewesen sei. Vor der Entlassung sei er aufgefordert worden eine Erklärung zu unterschreiben, warum er diese Mahnwache abgehalten habe und habe der Beschwerdeführer zwei Geldstrafen zahlen müssen. Eine Strafe wegen illegaler Abhaltung einer Mahnwache und eine weitere Strafe wegen Propagandierung der Homosexualität. Einige Tage danach seien Drohungen auf den sozialen Netzwerken ausgesprochen worden und habe eine Gruppe den Beschwerdeführer nach Verlassen eines Geschäftes um 21 Uhr verfolgt. Diese Personen hätten nach Ansicht des Beschwerdeführers gewusst, wo dieser leben würde. Der Beschwerdeführer sei wegen seiner Homosexualität bedroht worden und habe er die Drohungen bei der Polizei zur Anzeige gebracht. Wiederrum einige Tage später hätten vormittags Polizisten den Beschwerdeführer aufgesucht und ihn aufgefordert mitzukommen. Die Bitte des Beschwerdeführers, den Polizeiaufweis herzuzeigen, sei ignoriert worden. Die Polizisten hätten den Beschwerdeführer aufgefordert, zur Polizeistation mitzukommen, um eine Aussage wegen seiner Gruppe in sozialen Netzwerken aufzunehmen. Als der Beschwerdeführer sich geweigert habe, hätten die Polizisten ihm mit Gummischlagstöcken auf den Rücken geschlagen. Drei Polizisten hätten den Beschwerdeführer ins Auto gezerrt. Außerhalb der Stadt wäre es dem Beschwerdeführer gelungen, die Türe zu öffnen und wäre er bei seinem Fluchtversuch am Asphalt mitgeschliffen worden. Trotz Schmerzen sei dem Beschwerdeführer die Flucht gelungen. Daraufhin habe er beschlossen, sich nicht an die Polizei zu wenden, sondern zu flüchten und sei er bei einem Freund untergekommen. Am 26. Januar 2015 sei der Beschwerdeführer nach Moskau gereist und habe ein Visum bei der Österreichischen Botschaft beantragt. Am 31. Januar 2015 wäre der Beschwerdeführer mit dem Flugzeug nach Österreich gereist. Da der Beschwerdeführer der Meinung gewesen sei, dass er verfolgt werde, habe er sich bis zu seiner Ausreise auf diversen Bahnhöfen versteckt gehalten.

Im Weiteren führte der Beschwerdeführer aus, dass er bereits 2014 Österreich besucht habe und danach im Heimatland sein Coming-Out gehabt hätte. Nach kurzer Zeit hätten mehrere Studenten am College über die sexuelle Orientierung des Beschwerdeführers Bescheid gewusst und sei er deswegen verspottet und vom Direktor des Colleges verwiesen worden.

Befragt, wie lange der Beschwerdeführer seine sexuelle Orientierung geheim gehalten habe, gab der Beschwerdeführer an, dass er seine Homosexualität bis 2014 verschwiegen habe; er habe auch einen Freund gehabt. Im Herkunftsstaat würde es keine offiziellen Klubs, aber Undergroundklubs geben. Erst jetzt würde es erste offizielle Klubs in der Russischen Föderation geben.

Zu der Mahnwache vom 19. Januar 2015 genauer befragt, führte der Beschwerdeführer aus, dass es sich bei diesem Anlass um eine Mahnwache für zwei ermordete Mitglieder einer linksgerichteten Partei gehandelt habe.

Auf Nachfrage, ob der Beschwerdeführer noch etwas hinzufügen wolle, ergänzte der Beschwerdeführer, dass er fürchte, bei einer Rückkehr in das Heimatland zur Armee einberufen zu werden. Im Militärdienst würde man Bescheid wissen, dass der Beschwerdeführer homosexuell sei und würde man ihn sicher einberufen und ihn "in Ordnung bringen". Der Beschwerdeführer hätte aufgrund einer körperlichen Untersuchung untauglich eingestuft werden müssen, jedoch habe dessen Vater die Dokumente des Beschwerdeführers gefälscht. Die Diskriminierung in der Armee sei noch wesentlich stärker als im Zivilleben.

Im Rahmen der Einvernahme legte der Beschwerdeführer seinen russischen Reisepass, einen russischen Personalausweis und ein Konvolut an Schriftstücken vor.

4. Mit gegenständlich angefochtenem Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21. November 2015, Zl. IFA: 1036145300 + 150118195, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 31. Januar 2015 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (AsylG) idgF, abgewiesen (Spruchpunkt I.). Weiters wurde der Antrag auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Absatz 1 iVm § 2 Absatz 1 Ziffer 13 AsylG in Bezug auf den Herkunftsstaat Russische Föderation abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß §§ 57 und 55 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Absatz 1 Ziffer 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz, BGBl. I Nr. 87/2012 (BFA-VG), wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 2 Ziffer 2 Fremdenpolizeigesetz 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 (FPG) idgF, erlassen. Es wurde gemäß § 52 Absatz 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG in die Russische Föderation zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist zur freiwilligen Rückkehr mit 2 Wochen ab Rechtskraft der Entscheidung festgesetzt (Spruchpunkt IV.).

Im Wesentlichen zusammengefasst wurde das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers als nicht glaubhaft angesehen. Die Angaben des Beschwerdeführers seien widersprüchlich gewesen. So wäre es dem Beschwerdeführer in der niederschriftlichen Einvernahme nicht möglich gewesen, seine Fluchtgründe ohne Zuhilfenahme von Notizen darzutun. Darüber hinaus wäre nicht nachvollziehbar, weshalb die Polizisten bei der Flucht des Beschwerdeführers aus dem Polizeifahrzeug keine Verfolgung aufgenommen hätten.

5. Mit Verfahrensanordnung gemäß § 63 Abs. 2 AVG vom 25. November 2015 wurde dem Beschwerdeführer für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht die "ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, Künstlergasse 11/5. Stock, 1150 Wien" (nunmehr "ARGE Rechtsberatung Diakonie und Volkshilfe, Wattgasse 48/3. Stock, 1170 Wien" als Rechtsberater amtswegig zur Seite gestellt.

6. Der angefochtene Bescheid des Bundesamtes wurde dem Beschwerdeführer durch Hinterlegung am 27. November 2015 zugestellt.

7 Gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 21. November 2015, Zl. IFA: 1036145300 + 150118195, wurde mit Schriftsatz vom 3. Dezember 2015 fristgerecht verfahrensgegenständliche Beschwerde erhoben, die erstinstanzliche Erledigung wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes sowie Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften in vollem Umfang angefochten.

8. Die Beschwerdevorlage des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16. Dezember 2015 langte am 18. Dezember 2015 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

9. Am 18. Mai 2016 und am 15. März 2017 fanden zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts in Anwesenheit eines Dolmetschers für die russische Sprache eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt, in welcher der Beschwerdeführer im Beisein seines Rechtsberaters neuerlich zu seinen Fluchtgründen, seinem Familien- und Privatleben und allfälligen Integrationsaspekten sowie seinem Gesundheitszustand befragt wurde. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl hatte schriftlich mitgeteilt, keinen Vertreter zu entsenden.

Im Rahmen der mündlichen Verhandlung brachte der Beschwerdeführer diverse Unterlagen und eine Vielzahl von Unterstützungsschreiben in Vorlage.

10. Am 21. März 2017 langte beim Bundesverwaltungsgericht eine schriftliche Stellungnahme des Beschwerdeführers zu den Länderberichten zur Lage in der Russischen Föderation ein, wonach der Beschwerdeführer im Falle seiner Rückkehr aufgrund seiner sexuellen Orientierung einer asylrelevanten Verfolgung in seinem Heimatland ausgesetzt wäre.

11. Am 21. Juli 2018 übermittelte der Beschwerdeführer aktuelle Integrationsunterlagen (ÖSD-Zertifikat B1) und eine Bestätigung über die ehrenamtliche Tätigkeit bei einem Verein.

12. Am 9. Januar 2019 fand eine weitere mündliche Verhandlung im Beisein eines Dolmetschers für die russische Sprache und seiner Rechtsvertreterin statt, in welcher der Beschwerdeführer vornehmlich in der deutschen Sprache zu seinen Lebensumständen in Österreich befragt wurde.

13. Mit am 14. Februar 2019 beim Bundesverwaltungsgericht eingelangtem Schreiben, nahm der Beschwerdeführer zu den in der mündlichen Beschwerdeverhandlung ausgehändigten Länderinformationsblatt Stellung. In Einem legt der Beschwerdeführer eine Beschäftigungszusage und dreizehn Empfehlungsschreiben vor.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Auf Grundlage des Verwaltungsaktes der belangten Behörde, der vor dem Bundesverwaltungsgericht durchgeführten öffentlichen mündlichen Verhandlungen und der in diesem Verfahren herangezogenen Hintergrundberichte zur aktuellen Lage in der Russischen Föderation wird seitens des Bundesverwaltungsgerichts Folgendes festgestellt:

1.1. Der Beschwerdeführer trägt den im Spruch genannten Namen, ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation und hält sich seit über vier Jahren im Bundegebiet auf.

Festgestellt wird, dass der Beschwerdeführer wegen seiner sexuellen Orientierung in der Russischen Föderation Beleidigungen und Übergriffen ausgesetzt war.

Es kann jedoch nicht festgestellt werden, dass der Beschwerdeführer seinen Herkunftsstaat aus wohlbegründeter Furcht vor asylrelevanter Verfolgung verlassen hat oder nach einer allfälligen Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit asylrelevante Übergriffe zu befürchten hätte. Weiters liegen keine stichhaltigen Gründe vor, dass dieser konkret Gefahr liefe, in seinem Herkunftsstaat der Folter, einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden.

Der Beschwerdeführer leidet seit dem Kindesalter an bronchialem Asthma, sohin an keinen chronischen oder lebensbedrohlichen Krankheiten, welche einer Rückkehr in seinen Herkunftsstaat entgegenstehen würden.

Dem Beschwerdeführer steht in der Russischen Föderation eine innerstaatliche Schutz- bzw. Fluchtalternative offen.

Während er in seinem Herkunftsstaat bei einer Internet-Verkaufshandelsgesellschaft gearbeitet hat, ist er in Österreich keiner Beschäftigung nachgegangen und lebt aktuell von der Grundversorgung.

Der Beschwerdeführer befindet sich im erwerbsfähigen Alter und konnte einen Einstellungsnachweis vorlegen. Er besitzt die ÖSD-Sprachzertifikate A1, A2 und B1 für die deutsche Sprache und hat in dem Wintersemester 2016 sowie Sommersemester 2017 an der Universität Wien den Universitätslehrgang Vorstudienlehrgang "Deutsch für Studierende mit erweiterten Vorkenntnissen (24 WSt)" erfolgreich abgeschlossen.

Der unbescholtene Beschwerdeführer hat einen großen Freundes- und Bekanntenkreis in Österreich und sich als hilfsbereit und integrationswillig erwiesen. Der Beschwerdeführer ist Mitglied in diversen Vereinen, zeigt sich interessiert, die Vereine auch zu unterstützen und übt ehrenamtliche Tätigkeiten aus. Der Beschwerdeführer lebt in einer homosexuellen Beziehung.

Eine Ausweisung des Beschwerdeführers würde jedenfalls einen ungerechtfertigten Eingriff in sein Privat- und Familienleben darstellen.

1.2. Hinsichtlich der relevanten Situation in der Russischen Föderation wird zunächst prinzipiell auf die im Akt einliegenden und dem Beschwerdeführer in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vorgehaltenen Länderfeststellungen verwiesen.

Zur aktuellen politischen und menschenrechtlichen Situation in der Russischen Föderation werden insbesondere folgende Feststellungen getroffen:

1. Vergleichende Länderkundliche Analyse (VLA) i.S. §3 Abs 4a AsylG

Erläuterung

Bei der Erstellung des vorliegenden LIB wurde die im §3 Abs 4a AsylG festgeschriebene Aufgabe der Staatendokumentation zur Analyse "wesentlicher, dauerhafter Veränderungen der spezifischen, insbesondere politischen Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind", berücksichtigt. Hierbei wurden die im vorliegenden LIB verwendeten Informationen mit jenen im vorhergehenden LIB abgeglichen und auf relevante, im o.g. Gesetz definierte Verbesserungen hin untersucht.

Als den oben definierten Spezifikationen genügend eingeschätzte Verbesserungen wurden einer durch Qualitätssicherung abgesicherten Methode zur Feststellung eines tatsächlichen Vorliegens einer maßgeblichen Verbesserung zugeführt (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt II). Wurde hernach ein tatsächliches Vorliegen einer Verbesserung i.S. des Gesetzes festgestellt, erfolgte zusätzlich die Erstellung einer entsprechenden Analyse der Staatendokumentation (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt IV) zur betroffenen Thematik.

0. "Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 12.7.2018, vgl. GIZ 7.2018c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2018a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 7.2018a). Wladimir Putin ist im März 2018, bei der Präsidentschaftswahl im Amt mit 76,7% bestätigt worden. Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl ärgster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Parlament - Staatsduma und Föderationsrat - ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als "obere Parlamentskammer" das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus der Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Siebenprozentklausel. Wichtige Parteien sind die regierungsnahen Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist. Die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist, die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern, die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern, die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2018a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 5.2018b).

Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Einordnung der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges, Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2018a, vgl. AA 5.2018b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2018a).

Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum ("exekutive Machtvertikale") deutlich (GIZ 7.2018a).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (5.2018b): Russische Föderation - Außen- und Europapolitik,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederation/201534, Zugriff 1.8.2018

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CIA - Central Intelligence Agency (12.7.2018): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 1.8.2018

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 1.8.2018

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FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 1.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 1.8.2018

-

OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report,

https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 29.8.2018

-

Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen",

https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 1.8.2018

-

Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident,

https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 1.8.2018

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Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 1.8.2018

0.1. Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2018 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 25.1.2018), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 TschetschenInnen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handle es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens, die bereits vor über einem Jahrhundert entstanden seien, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB Moskau 12.2017). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien somit mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik.

Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 12.2017). Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten immer wieder von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 21.5.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die danach trachteten, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtsaktivisten sowie von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert (ÖB Moskau 12.2017).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als "Fußsoldat Putins" zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute föderale Machtvertikale dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum "inneren Ausland" Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür

des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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GKS - Staatliches Statistikamt (25.1.2018): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2018,

http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/PrPopul2018.xlsx, Zugriff 1.8.2018

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ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,

http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 1.8.2018

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 1.8.2018

0.2. Dagestan

Dagestan ist mit ungefähr drei Millionen Einwohnern die größte kaukasische Teilrepublik und wegen seiner Lage am Kaspischen Meer für Russland strategisch wichtig. Dagestan ist das ethnisch vielfältigste Gebiet des Kaukasus (ACCORD 16.5.2018, vgl. IOM 6.2014). Im Unterschied zu den faktisch mono-ethnischen Republiken Tschetschenien und Inguschetien setzt sich die Bevölkerung Dagestans aus einer Vielzahl von Ethnien zusammen. In der Republik gibt es 60 verschiedene Nationalitäten, einschließlich der Vertreter der 30 alteingesessenen Ethnien. Alle sprechen unterschiedliche Sprachen. Dieser Umstand legt die Vielzahl der in Dagestan wirkenden Kräfte fest, begründet die Notwendigkeit eines Interessenausgleichs bei der Lösung entstehender Konflikte und stellt ein Hindernis für eine starke autoritäre Zentralmacht in der Republik dar. Allerdings findet dieser "Interessenausgleich" traditionellerweise nicht auf dem rechtlichen Wege statt, was in Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Clans münden kann (IOM 6.2014).

Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten besser gestellt als Tschetschenien, bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands, in der die Sicherheitslage zwar angespannt ist, sich in jüngerer Zeit aber verbessert hat. War die weit überwiegende Anzahl von Gewaltopfern bei Auseinandersetzungen zwischen "Aufständischen" und Sicherheitskräften in den Jahren 2015 und 2016 in Dagestan zu verzeichnen, hat die Gewalt in den letzten Jahren abgenommen (AA 21.5.2018). Gründe für den Rückgang der Gewalt sind die konsequente Politik der Repression radikaler Elemente und das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak (ÖB Moskau 12.2017).

Was das politische Klima betrifft, gilt die Republik Dagestan im Vergleich zu Tschetschenien noch als relativ liberal. Die Zivilgesellschaft ist hier stärker vertreten als in Tschetschenien. Ebenso existiert - anders als in der Nachbarrepublik - zumindest eine begrenzte Pressefreiheit. Die ethnische Diversität stützt ein gewisses Maß an politischem Pluralismus und steht autokratischen Herrschaftsverhältnissen entgegen. Im Jahr 2006 wurde Muchu Alijew vom Kreml als Präsident an die Spitze der Republik gesetzt. 2013 wurde er von Magomedsalam Magomedow ersetzt. Magomedow war vor allem mit Korruption und Vetternwirtschaft konfrontiert, die auch sein Vorgänger nicht lösen konnte. Anfang 2013 ersetzte der Kreml Magomedow durch Ramzan Abdulatipow, den in Moskau wohl bekanntesten Dagestaner. Abdulatipow galt dort als Experte für interethnische Beziehungen und religiöse Konflikte im Nordkaukasus. Abdulatipows Kampf gegen Korruption und Nepotismus führte zwar zum Austausch von Personal, doch die Strukturen, die dem Problem zugrunde liegen, wurden kaum angetastet. Es war auch nicht zu erwarten, dass sich ein Phänomen wie das Clan- und Seilschaftsprinzip, das für Dagestan so grundlegende gesellschaftlich-politische Bedeutung hat, ohne weiteres würde überwinden lassen. Dieses Prinzip wird nicht nur durch ethnische, sondern auch durch viele andere Zuordnungs- und Gemeinschaftskriterien bestimmt und prägt Politik wie Geschäftsleben der Republik auf entscheidende Weise. Zudem blieb der Kampf gegen den bewaffneten Untergrund oberste Priorität, was reformpolitische Programme in den Hintergrund rückte. Dabei zeugt die Praxis der Anti-Terror-Operationen in der Ära Abdulatipow von einer deutlichen Stärkung der "Siloviki", das heißt des Sicherheitspersonals. Zur Bekämpfung der Rebellen setzt der Sicherheitsapparat alte Methoden ein. Wie in Tschetschenien werden die Häuser von Verwandten der Untergrundkämpfer gesprengt, und verhaftete "Terrorverdächtige" können kaum ein faires Gerichtsverfahren erwarten. Auf Beschwerden von Bürgern über Willkür und Straflosigkeit der Sicherheitskräfte reagierte Abdulatipow mit dem Argument, Dagestan müsse sich "reinigen", was ein hohes Maß an Geduld erfordere (SWP 4.2015). Im Herbst 2017 setzte Präsident Putin ein neues Republiksoberhaupt ein. Mit dem Fraktionsvorsitzenden der Staatspartei Einiges Russland in der Staatsduma und ehemaligen hohen Polizeifunktionär Wladimir Wassiljew schreckte der Kreml die lokalen Eliten auf. Wassiljew ist keiner von ihnen, er war mit Blick auf das zuvor behutsam gepflegte Gleichgewicht der Ethnien wie eine Faust aufs Auge. Der Kreml hatte länger schon damit begonnen, ortsfremde Funktionäre in die Regionen zu entsenden. Im Nordkaukasus hatte er davon Abstand genommen. Immerhin dürfte Wassiljew für ethnische Fragen ein gewisses Gespür mitbringen. Er ist selbst halb Kasache, halb Russe. Wassiljew ist das Gegenmodell zu Kadyrows ungestümer Selbstherrlichkeit. Er ist ein altgedienter Funktionär und einer, der durch den Zugriff Moskaus auf Dagestan - und nicht in Abgrenzung von der Zentralmacht - Ordnung, Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität herstellen soll. Mit Wassiljew tritt jemand mit wirklich direktem Draht zur Zentralmacht im Nordkaukasus auf. Das könnte ihn, zumindest für einige Zeit, zum starken Mann in der ganzen Region machen. Dafür allerdings benötigt er genauso die Akzeptanz der Einheimischen (NZZ 12.2.2018).

Anfang 2018 wurden in der Hauptstadt Dagestans, Machatschkala, der damalige Regierungschef [Abdussamad Gamidow], zwei seiner Stellvertreter und ein kurz vorher abgesetzter Minister von föderalen Kräften verhaftet und nach Moskau gebracht. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten eine organisierte kriminelle Gruppierung gebildet zur Ausbeutung der wirtschaftlich abgeschlagenen und am stärksten von allen russischen Regionen am Tropf des Zentralstaats hängenden Nordkaukasus-Republik. Kurz vorher waren bereits der Bürgermeister von Machatschkala und der Stadtarchitekt festgenommen worden (NZZ 12.2.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

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ACCORD (16.5.2018): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan & Zeitachse von Angriffen,

https://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-in-dagestan-zeitachse-von-angriffen/, Zugriff 2.8.2018

-

IOM - International Organisation of Migration (6.2014):

Länderinformationsblatt Russische Föderation

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NZZ - Neue Zürcher Zeitung (12.2.2018): Durchgreifen in Dagestan:

Moskau räumt im Nordkaukasus auf, https://www.nzz.ch/international/moskau-raeumt-im-nordkaukasus-auf-ld.1356351, Zugriff 2.8.2018

-

ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 2.8.2018

1. Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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