TE Bvwg Erkenntnis 2019/3/22 L521 2213180-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 22.03.2019
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Entscheidungsdatum

22.03.2019

Norm

AsylG 2005 §10 Abs1 Z3
AsylG 2005 §57
AsylG 2005 §58 Abs1 Z2
AsylG 2005 §58 Abs3
BFA-VG §9
B-VG Art.133 Abs4
EMRK Art.2
EMRK Art.3
EMRK Art.8
FPG §46
FPG §50 Abs1
FPG §50 Abs2
FPG §50 Abs3
FPG §52 Abs2 Z2
FPG §52 Abs9
FPG §55 Abs2
VwGVG §24 Abs1
VwGVG §28 Abs1
VwGVG §28 Abs2

Spruch

L521 2213180-1/9E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter MMag. Mathias Kopf, LL.M. über die Beschwerde der XXXX , geb. XXXX , Staatsangehörigkeit Türkei, vertreten durch Dr. Michael BEREIS, Rechtsanwalt in 1050 Wien, Pilgramgasse 22/7, gegen die Spruchpunkte IV., V., VI. und VII. des Bescheids des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.12.2018, Zl. 63911507-161011973, nach Durchführung einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 20.03.2019 zu Recht:

A)

Die Beschwerde wird mit der Maßgabe als unbegründet abgewiesen, dass Spruchpunkt VI. des angefochtenen Bescheids zu lauten hat: "Gemäß § 55 Abs. 1 und 2 FPG beträgt die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung".

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Beschwerdeführerin reiste am 06.07.2014 unter Verwendung eines beim Konsulat der Schweizerischen Eidgenossenschaft in Istanbul am 23.06.2014 erlangten Visum C rechtmäßig in die Schweizerische Eidgenossenschaft ein, um ihre dort lebende Tochter zu besuchen.

In der Folge reiste die Beschwerdeführerin mehrmals von der Schweizerischen Eidgenossenschaft ausgehend in das Bundesgebiet ein, um ihren im Bundesgebiet lebenden Ehemann zu besuchen und kehrte anschließend wieder in die Schweizerische Eidgenossenschaft zurück. Zuletzt stellte die Beschwerdeführer vor dem Ablauf des Visum C im Bundesgebiet beim Magistrat der Stadt Wien am 16.09.2014 einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels Rot-Weiß- Rot-Karte Plus. Dieser wurde - nach Weiterleitung an die zuständige Behörde - von der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck am 24.11.2014 rechtskräftig abgewiesen.

2. Nach einem etwa eineinhalbjährigen unrechtmäßigem Aufenthalt im Bundesgebiet stellte die Beschwerdeführerin am 20.07.2016 vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes einen Antrag auf internationalen Schutz und brachte dazu im Rahmen der niederschriftlichen Erstbefragung vor Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes der Polizeiinspektion Traiskirchen EASt am Tag der Antragstellung an, auf Anraten ihres Rechtsanwaltes einen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, um bei ihrem Ehemann im Bundesgebiet bleiben zu können.

3. Am 23.11.2018 wurde die Beschwerdeführerin vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Salzburg, im Beisein eines geeigneten Dolmetschers in türkischer Sprache niederschriftlich vor dem zur Entscheidung berufenen Organwalter einvernommen.

Eingangs bestätigte die Beschwerdeführerin, bis dato der Wahrheit entsprechende Angaben gemacht zu haben, der türkischen Sprache mächtig zu sein und den anwesenden Dolmetscher gut zu verstehen. Sie werde nicht mehr anwaltlich vertreten, da sie sich das nicht leisten könne.

Zum Ausreisegrund befragt gab die Beschwerdeführerin im Wesentlichen an, sie habe immer nach Österreich kommen wollen, habe allerdings aufgrund ihrer Mutter nicht nach Österreich reise können. Ihre Mutter sei in der Türkei alleine gewesen und deshalb habe sie bis zum Tod der Mutter auf diese achten und sie betreuen müssen. Schwierigkeiten habe sie in der Türkei nicht gehabt, zwar verspüre sie beim Anblick von Polizisten Angst, sie sei aber nicht von staatlichen Organen verfolgt worden.

Die Beschwerdeführerin führte außerdem aus, bei ihrer Tochter XXXX und ihrer Enkelin in Österreich bleiben zu wollen, überhaupt habe sie niemanden mehr in der Türkei und es würde ihre Familie in oder in der Nähe von Österreich leben. Schließlich legte die Beschwerdeführerin dar, "Fan von Erdogan" zu sein und diesen immer zu wählen (AS 95). Im Fall einer Rückkehr in die Türkei würde sie alleine und traurig sein.

4. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.12.2018 wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Türkei gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z. 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.). Ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 wurde nicht erteilt (Spruchpunkt III.) und gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG 2005 erlassen (Spruchpunkt IV.). Gemäß § 52 Abs. 9 FPG 2005 wurde außerdem festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführerin in die Türkei gemäß § 46 FPG 2005 zulässig ist (Spruchpunkt V.) und gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 2005 ausgesprochen, dass die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt VI.). Schließlich wurde einer Beschwerde gemäß § 18 Abs. 1 Z. 4 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt.

Begründend führte das belangte Bundesamt nach der Wiedergabe der Einvernahme der Beschwerdeführerin und den Feststellungen zur Person aus, die Beschwerdeführerin sei ich ihrem Herkunftsstaat keiner staatlichen Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt gewesen. Sie habe keine Verfolgungshandlungen gegen ihre Person vorgebracht und es könnten keine anderweitigen Fluchtgründe festgestellt werden. Dem Vorbringen der Beschwerdeführer fehle die Asylrelevanz. Im Fall einer Rückkehr werde die Beschwerdeführerin weder in eine aussichtslose Lage geraten, noch hinsichtlich des Rechts auf Leben und auf körperliche Unversehrtheit verletzt werden. Der Beschwerdeführerin drohe außerdem keine Folter und keine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung und sei sie in die türkische Gesellschaft integriert.

Beweiswürdigend erwog das belangte Bundesamt, die Beschwerdeführerin habe den gegenständlichen Asylantrag rechtsmissbräuchlich zum Zweck der Perpetuierung ihres faktischen Aufenthaltes im Bundesgebiet gestellt, zumal sie keine asylrelevante Verfolgung vorgebracht habe.

In rechtlicher Hinsicht folgerte das belangte Bundesamt, der Beschwerdeführer habe keine Verfolgung im Sinn der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewärtigen, sodass kein internationaler Schutz zu gewähren sei. Der Beschwerdeführerin sei der Status eines subsidiär Schutzberechtigten nicht zuzuerkennen, da sie erwerbsfähig sei, in der Türkei über genügend Anknüpfungspunkte verfüge und keine reale Gefahr einer Verletzung in elementaren Rechten sowie keine Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen Konflikts drohe. Des Weiteren sei der Beschwerdeführerin kein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 zu erteilen. Schließlich wurde ausgeführt, weshalb gemäß § 10 Abs. 1 Z. 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z. 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt wurde, dass dessen Abschiebung in die Türkei gemäß § 46 FPG zulässig sei. Letztlich wurde erläutert, weshalb die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage und die aufschiebende Wirkung einer Beschwerde auszuschließen gewesen sei.

5. Mit Verfahrensanordnung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.12.2018 wurde der Beschwerdeführerin gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG amtswegig ein Rechtsberater für das Beschwerdeverfahren zur Seite gestellt und die Beschwerdeführerin ferner mit Verfahrensanordnung des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 10.12.2018 gemäß § 52a Abs. 2 BFA-VG darüber informiert, dass sie verpflichtet sei, ein Rückkehrberatungsgespräch in Anspruch zu nehmen.

6. Gegen den der Beschwerdeführerin am 13.12.2018 durch Hinterlegung zugestellten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl richtet sich die im Wege der nunmehrigen rechtsfreundlichen Vertretung fristgerecht eingebrachte Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht.

In dieser wird inhaltliche Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheids sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften moniert und beantragt, den angefochtenen Bescheid "wegen schwerer Nichtigkeit ersatzlose zu beheben und dem Antrag der Beschwerdeführerin nach Verfahrensergänzung stattzugeben".

In der Sache bringt die Beschwerdeführerin im Wesentlichen vor, das belangte Bundesamt habe kein schützenswertes Familienleben im Bundesgebiet erkannt und auch keine Integrationsverfestigung feststellen können. Die Feststellungen stünden in krassem Gegensatz zu den Beweisergebnissen, zumal die Beschwerdeführerin fünf Jahre in Österreich gelebt habe, seit dreißig Jahren mit ihrem hier aufhältigen Ehegatten verheiratet sei und von diesem finanziell unterstützt werde. Das Eheleben sei vollkommen intakt. Dem belangten Bundesamt sei in diesem Zusammenhang vorzuwerfen, den Ehegatten der Beschwerdeführerin nicht einvernommen zu haben. Die Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat wären nicht relevant, da die Beschwerdeführerin sich "nicht darauf gestützt hat, dass sie aus politischen, religiösen oder ethnischen Gründen nicht in der Türkei verbleiben kann, wohl aber darauf, dass sie ein Recht auf ein gemeinsames Leben mit ihrem Mann hat".

7. Die Beschwerdevorlage langte am 17.01.2018 beim Bundesverwaltungsgericht ein und wurde in der Folge der nun zur Entscheidung berufenen Abteilung des Bundesverwaltungsgerichts zugewiesen.

8. Mit Teilerkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22.01.2019, L521 2213180-1/4E, wurde die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I., II. und III. des angefochtenen Bescheides als unbegründet abgewiesen und der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. des angefochtenen Bescheides wird gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

9. Am 20.03.2019 wurde vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung im Beisein der Beschwerdeführerin, ihrer rechtsfreundlichen Vertretung sowie eines gerichtlich beeideten Dolmetschers für die für die türkische Sprache durchgeführt. Im Verlauf dieser Verhandlung wurde der Beschwerdeführer einerseits Gelegenheit gegeben, ihr Familienleben im Bundesgebiet umfassend darzulegen. Ferner wurden der Ehegatte der Beschwerdeführerin und ihre Tochter XXXX als Zeugen einvernommen.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Die Beschwerdeführerin führt den Namen XXXX , sie ist Staatsangehörige der Türkei, Angehörige der kurdischen Volksgruppe und bekennt sich zum Islam der sunnitischen Glaubensrichtung. Sie beherrscht die Sprachen Türkisch und Kurmanci in Wort und Schrift.

Die Beschwerdeführerin wurde am XXXX in der Stadt XXXX in der Provinz XXXX geboren und wuchs dort auf. Sie besuchte die Grundschule und ehelichte im Alte von achtzehn Jahre ihren derzeitigen Ehegatten XXXX . Die Beschwerdeführerin trat nicht in das Berufsleben ein und widmete sich der Haushaltsführung und der Erziehung der gemeinsamen Kinder. Zuletzt betreute sie ihre Mutter bis zu deren Ableben.

Zuletzt lebte die Beschwerdeführerin in der Stadt XXXX in einer Eigentumswohnung, die sie im Jahr 2016 veräußerte. Ihren Lebensunterhalt bestritt sie durch finanzielle Zuwendungen ihres Ehegatten und ihres Bruders.

Die Beschwerdeführerin ist verheiratet und hat drei Kinder, einen Sohn und zwei Töchter. Die Eltern der Beschwerdeführerin sind verstorben. Ihr Ehemann XXXX , geb. XXXX , lebt in XXXX im gemeinsamen Haushalt mit der Beschwerdeführerin, ebenso ihre Tochter XXXX , geb. XXXX . Der Sohn der Beschwerdeführerin lebt in Italien, ihre Tochter XXXX sowie ihr Bruder XXXX leben in der Schweizerischen Eidgenossenschaft.

In der Türkei leben gegenwärtig drei Schwestern des Ehegatten der Beschwerdeführerin, sie steht mit diesen in Kontakt. Die Beschwerdeführerin verfügt auch über weiter entfernte Verwandte (Cousinen und Cousins) in ihrer Herkunftsregion.

Die Beschwerdeführerin litt unter Gebärmutterhaltskrebs und wurde deshalb im Februar 2016 im Bundesgebiet einer Operation unterzogen. Die Operation verlief erfolgreich. Die Beschwerdeführerin muss sich einmal jährlich einer Kontrolluntersuchung unterziehen. Weitere gesundheitliche Einschränkungen der Beschwerdeführerin sind nicht feststellbar.

Am 06.07.2014 verließ die Beschwerdeführerin unter Verwendung eines beim Konsulat der Schweizerischen Eidgenossenschaft in Istanbul am 23.06.2014 erlangten Visum C die Türkei und reiste rechtmäßig in die Schweizerische Eidgenossenschaft ein. In der Folge reiste die Beschwerdeführerin mehrmals von der Schweizerischen Eidgenossenschaft ausgehend in das Bundesgebiet ein, um ihren im Bundesgebiet lebenden Ehemann zu besuchen und kehrte anschließend wieder in die Schweizerische Eidgenossenschaft zurück. Zuletzt stellte die Beschwerdeführer vor dem Ablauf des Visum C im Bundesgebiet beim Magistrat der Stadt Wien am 16.09.2014 einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels Rot-Weiß- Rot-Karte Plus. Dieser wurde - nach Weiterleitung an die zuständige Behörde - von der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck am 24.11.2014 rechtskräftig abgewiesen. Weitere Anträge auf Erteilung von Aufenthaltstiteln sind nicht aktenkundig.

Am 20.07.2016 stellte die Beschwerdeführerin den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz auf Anraten ihres seinerzeitigen rechtsfreundlichen Vertreters, um weiter im Bundesgebiet bleiben zu können.

1.2. Der von der Beschwerdeführerin gestellte Antrag auf internationalen Schutz wurde mit Teilerkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 22.01.2019, L521 2213180-1/4E, im Instanzenzug rechtskräftig abgewiesen. Der Beschwerdeführerin wurde unter einem rechtskräftig die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 verweigert.

Eine Beschwerde an den Verfassungsgerichtshof oder eine Revision an den Verwaltungsgerichtshof wurde nicht erhoben.

1.3. Der Beschwerdeführerin droht im Falle einer Rückkehr in ihren Herkunftsstaat nicht die Todesstrafe. Ebenso kann keine anderweitige individuelle Gefährdung der Beschwerdeführerin festgestellt werden, insbesondere im Hinblick auf eine drohende unmenschliche Behandlung, Folter oder Strafe sowie kriegerische Ereignisse oder extremistische Anschläge in der Türkei.

1.4. Die Beschwerdeführerin ist ein gesunder und arbeitsfähiger Mensch mit bestehenden familiären Anknüpfungspunkten im Herkunftsstaat und einer - wenn auch auf niedrigerem Niveau als in Österreich - gesicherten Existenzgrundlage. Sie verfügt über grundlegende Schulbildung. Der Beschwerdeführerin ist die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zur Sicherstellung ihres Auskommens möglich und zumutbar.

Die Beschwerdeführerin verfügt über ein türkisches Ausweisdokument (Reisepass, abgelaufenen am 09.09.2015) im Original.

1.5. Der Aufenthalt der Beschwerdeführerin im Bundesgebiet war nie nach § 46a Abs. 1 Z. 1 oder Abs. 1a FPG 2005 geduldet. Ihr Aufenthalt ist nicht zur Gewährleistung der Strafverfolgung von gerichtlich strafbaren Handlungen oder zur Geltendmachung und Durchsetzung von zivilrechtlichen Ansprüchen im Zusammenhang mit solchen strafbaren Handlungen notwendig. Sie wurde nicht Opfer von Gewalt im Sinn der §§ 382b oder 382e EO.

1.6. Die Beschwerdeführerin reiste am 06.07.2014 am unter Verwendung eines beim Konsulat der Schweizerischen Eidgenossenschaft in Istanbul am 23.06.2014 erlangten Visum C (gültig bis zum 21.09.2014) rechtmäßig in die Schweizerische Eidgenossenschaft ein. In der Folge reiste die Beschwerdeführerin mehrmals von der Schweizerischen Eidgenossenschaft ausgehend in das Bundesgebiet ein, um ihren im Bundesgebiet lebenden Ehemann zu besuchen und kehrte anschließend wieder in die Schweizerische Eidgenossenschaft zurück. Der Zeitpunkt der letzten Einreise in das Bundesgebiet ist nicht zweifelsfrei feststellbar.

Die Beschwerdeführerin begründete am 18.09.2014 erstmals einen Wohnsitz im Bundesgebiet. Bereits am 16.09.2014 stellte sie beim Magistrat der Stadt Wien einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels Rot-Weiß- Rot-Karte Plus. Dieser wurde - nach Weiterleitung an die zuständige Behörde - von der Bezirkshauptmannschaft Innsbruck am 24.11.2014 rechtskräftig abgewiesen.

Seit dem 04.12.2014 lebt die Beschwerdeführerin mit ihrem Ehemann XXXX , geb. XXXX , im gemeinsamen Haushalt in XXXX (seit dem 01.12.2016 an der Anschrift XXXX ). Die Tochter der Beschwerdeführerin, XXXX , geb. XXXX , lebt seit dem 15.01.2018 ebenfalls in diesem Haushalt.

Nach dem Ablauf des Visum C am 21.09.2014 hielt sich die Beschwerdeführer bis zum gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz am 20.07.2016 unrechtmäßig im Bundesgebiet auf. Sie wurde deshalb im Jahr 2014 einer Übertretung des § 120 Abs. 1a FPG schuldig erkannt und zur Zahlung einer Verwaltungsstrafe von EUR 500,00 verpflichtet. Seit dem 20.07.2016 ist die Beschwerdeführerin Asylwerberin und verfügt über keinen anderen Aufenthaltstitel.

Mit Beschluss des Bezirksgerichtes Telfs vom 20.09.2018, XXXX , wurde ein wider die Beschwerdeführerin und XXXX geführtes Strafverfahren wegen §§ 15, 83 Abs. 2 und 297 Abs. 1 StGB gemäß §§ 198, 199 und 204 Abs. 1 StPO nach einem Tatausgleich eingestellt.

Die Beschwerdeführerin hält sich im Bundesgebiet bei ihrer Familie auf und bewohnt die von ihrem Ehemann angemietete Wohnung in XXXX gemeinsam mit diesem, ihrer Tochter XXXX und ihrem Enkelkind XXXX , geb. XXXX . Die Beschwerdeführerin widmet sich der Haushaltsführung und betreut ihr Enkelkind. Darüber hinaus gehende soziale Kontakte bestehen zu den Vermietern und zu türkischstämmigen Personen.

Ihr Ehemann (der über einen Aufenthaltstitels Daueraufenthalt-EU verfügt) gewährt der Beschwerdeführer Unterkunft und Verpflegung, die Beschwerdeführerin ist selbst nicht erwerbstätig und hat auch keine Erwerbstätigkeit auf dem regulären Arbeitsmarkt in Aussicht. Der Ehemann der Beschwerdeführerin ist als Küchenhilfe in Seefeld erwerbstätig und bringt monatlich ca. EUR 1.250,00 netto ins Verdienen. Er verrichtet Teildienste und arbeitet in der Regel vormittags zwischen 08:00 Uhr und 12:00 Uhr und nachmittags ab ca. 16:00 Uhr.

Ihre Tochter XXXX ist als Zimmermädchen im XXXX im Ausmaß von 30 Stunden saisonal erwerbstätig. Zum Entscheidungszeitpunkt ist XXXX nicht erwerbstätig. In der Wintersaison arbeitete sie von 17:00 Uhr bis 22:30 Uhr. Für die am 18.06.2019 beginnende Sommersaison wurde ihr eine neuerliche Beschäftigung zugesagt. Ein Wechsel der Schicht auf eine Beschäftigung untertags ist den Angaben von XXXX zufolge möglich.

XXXX , geb. XXXX , ist österreichischer und türkischer Staatsangehöriger. Die Ehe zwischen der Kindermutter XXXX und dem Kindesvater ist geschieden, der Kindesvater unterhält zu seinem Kind keinen Kontakt. XXXX bezieht Familienbeihilfe und Kindesunterhalt vom Kindsvater. XXXX besucht vormittags bis 12.30 Uhr den Kindergarten in XXXX . Während der arbeitsbedingten Abwesenheit der Mutter wird XXXX von der Beschwerdeführerin beaufsichtigt.

Die Beschwerdeführerin hat keine gemeinnützige Arbeit verrichtet. Sie ist weder in einem Verein noch in einer sonstigen Organisation Mitglied.

Der Beschwerdeführer besuchte keine sprachlichen Qualifizierungsmaßnahmen zum Erwerb der deutschen Sprache und hat keine Prüfungen abgelegt. Sie beherrscht die deutsche Sprache in nur rudimentärem Ausmaß.

Anderweitige Integrationsschritte hat die Beschwerdeführerin ebenfalls nicht ergriffen, sie zeigt aber Bereitschaft, am Erwerbsleben teilzunehmen und einen Deutschkurs zu absolvieren.

1.7. Zur Lage in der Türkei werden folgende Feststellungen unter Heranziehung der angeführten Quellen getroffen:

1. Politische Lage

Die Türkei ist eine Präsidialrepublik und laut Art. 2 ihrer Verfassung ein demokratischer, laizistischer und sozialer Rechtsstaat auf der Grundlage öffentlichen Friedens, nationaler Solidarität, Gerechtigkeit und der Menschenrechte sowie den Grundsätzen ihres Gründers Atatürk besonders verpflichtet. Staats- und Regierungschef ist seit Einführung des präsidialen Regierungssystems per 9.7.2018 der Staatspräsident, der die politischen Geschäfte führt (AA 3.8.2018).

Der Präsident wird für eine Amtszeit von fünf Jahren direkt gewählt und kann bis zu zwei Amtszeiten innehaben, mit der Möglichkeit einer dritten Amtszeit, wenn während der zweiten Amtszeit vorgezogene Präsidentschaftswahlen ausgerufen werden. Erhält kein Kandidat in der ersten Runde die absolute Mehrheit der gültigen Stimmen, findet zwei Wochen später eine Stichwahl zwischen den beiden stimmenstärksten Kandidaten statt. Die 600 Mitglieder der Großen Türkischen Nationalversammlung, ein Einkammerparlament, werden durch ein proportionales System mit geschlossenen Parteienlisten bzw. unabhängigen Kandidaten in 87 Wahlkreisen für eine Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Wahlkoalitionen sind erlaubt. Es gilt eine 10%-Hürde für Parteien bzw. Wahlkoalitionen, die höchste unter den Staaten der OSZE und des Europarates. Die Verfassung garantiert die Rechte und Freiheiten, die den demokratischen Wahlen zugrunde liegen, nicht ausreichend, da sie sich auf Verbote zum Schutze des Staates beschränkt und der Gesetzgebung diesbezügliche unangemessene Einschränkungen erlaubt. Im Rahmen der Verfassungsänderungen 2017 wurde die Zahl der Sitze von 550 auf 600 erhöht und die Amtszeit des Parlaments von vier auf fünf Jahre verlängert (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

In der Verfassung wird die Einheit des Staates festgeschrieben, wodurch die türkische Verwaltung zentralistisch aufgebaut ist. Es gibt mit den Provinzen, den Landkreisen und den Gemeinden (belediye/mahalle) drei Verwaltungsebenen. Die Gouverneure der 81 Provinzen werden vom Innenminister ernannt und vom Staatspräsidenten bestätigt. Den Landkreisen steht ein vom Innenminister ernannter Regierungsvertreter vor. Die Bürgermeister und Dorfvorsteher werden vom Volk direkt gewählt, doch ist die politische Autonomie auf der kommunalen Ebene stark eingeschränkt (bpb 11.8.2014).

Am 16.4.2017 stimmten bei einer Beteiligung von 85,43% der türkischen Wählerschaft 51,41% für die von der regierenden AKP initiierte und von der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unterstützte Verfassungsänderung, welche ein exekutives Präsidialsystem vorsah (OSCE 22.6.2017, vgl. HDN 16.4.2017). Die gemeinsame Beobachtungsmisson der OSZE und der Parlamentarischen Versammlung des Europarates (PACE) kritisierte die ungleichen Wettbewerbsbedingungen beim Referendum. Der Staat hat nicht garantiert, dass die WählerInnen unparteiisch und ausgewogen informiert wurden. Zivilgesellschaftliche Organisationen konnten an der Beobachtung des Referendums nicht teilhaben. Einschränkungen von grundlegenden Freiheiten aufgrund des bestehenden Ausnahmezustands hatten negative Auswirkungen. Im Vorfeld des Referendums wurden Journalisten und Gegner der Verfassungsänderung behindert, verhaftet und fallweise physisch attackiert. Mehrere hochrangige Politiker und Beamte, darunter der Staatspräsident und der Regierungschef setzten die Unterstützer der Nein-Kampagne mit Terrorsympathisanten oder Unterstützern des Putschversuchs vom Juli 2016 gleich (OSCE/PACE 17.4.2017).

Die oppositionelle Republikanische Volkspartei (CHP) und die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) legten bei der Obersten Wahlkommission Beschwerde ein, dass 2,5 Millionen Wahlzettel ohne amtliches Siegel verwendet worden seien. Die Kommission wies die Beschwerde zurück (AM 17.4.2017). Gegner der Verfassungsänderung demonstrierten in den größeren Städten des Landes gegen die vermeintlichen Manipulationen (AM 18.7.2017). Die OSZE kritisiert eine fehlende Bereitschaft der türkischen Regierung zur Klärung von Manipulationsvorwürfen (FAZ 19.4.2017).

Bei den vorgezogenen Präsidentschaftswahlen am 24.6.2018 errang Amtsinhaber Recep Tayyip Erdogan 52,6% der Stimmen, sodass ein möglicher zweiter Wahlgang obsolet wurde. Der Kandidat der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP), Muharrem Ince, erhielt 30.6%. Der seit November 2016 inhaftierte ehemalige Ko-Vorsitzende der Demokratischen Partei der Völker (HDP), Selahattin Demirtas, erhielt 8,4% und die Vorsitzende der neu gegründeten Iyi-Partei, Meral Aksener, erreichte 7,3%. Die übrigen Mitbewerber lagen unter einem Prozent. Bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen erhielt die regierende AK-Partei 42,6% der Stimmen und 295 der 600 Sitze im Parlament. Zwar verlor die AKP die absolute Mehrheit, doch durch ein Wahlbündnis mit der rechts-nationalistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) unter dem Namen "Volksbündnis", verfügt sie über eine Mehrheit im Parlament. Die kemalistisch-sekuläre CHP gewann 22,6% bzw. 146 Sitze und ihr Wahlbündnispartner, die national-konservative iyi-Partei, eine Abspaltung der MHP, 10% bzw. 43 Mandate. Drittstärkste Partei wurde die pro-kurdische HDP mit 11,7% und 67 Mandaten (HDN 26.6.2018). Zwar hatten die Wähler und Wählerinnen eine echte Auswahl, doch bestand keine Chancengleichheit zwischen den Kandidaten und Parteien. Der amtierende Präsident und seine Partei genossen einen beachtlichen Vorteil, der sich auch in einer übermäßigen Berichterstattung der staatlichen und privaten Medien zu ihren Gunsten widerspiegelte. Zudem missbrauchte die regierende AKP staatliche Verwaltungsressourcen für den Wahlkampf. Der restriktive Rechtsrahmen und die unter dem geltenden Ausnahmezustand gewährten Machtbefugnisse schränkten die Versammlungs- und Meinungsfreiheit auch in den Medien ein. Internationale Wahlbeobachter der ODIHR-Beobachtermission konstatieren in ihrem vorläufigen Bericht vielfältige Verstöße gegen den Fairnessgrundsatz (u.a. ungleicher Medienzugang, Wahl unter Ausnahmezustand) die aber die Legitimität des Gesamtergebnisses insgesamt nicht in Frage stellen. Der Wahlkampf fand freilich in einem stark polarisierten politischen Umfeld statt (OSCE/ODIHR 25.6.2018).

Der Präsident hat die Befugnis hochrangige Regierungsbeamte zu ernennen und zu entlassen, die nationale Sicherheitspolitik festzulegen und die erforderlichen Durchführungsmaßnahmen zu ergreifen; den Ausnahmezustand auszurufen; Präsidialerlässe zu Exekutivangelegenheiten außerhalb des Gesetzes zu erlassen; das Parlament indirekt aufzulösen, indem er Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ausruft; das Regierungsbudget aufzustellen; Vetogesetze zu erlassen; und vier von 13 Mitgliedern des Rates der Richter und Staatsanwälte und zwölf von 15 Richtern des Verfassungsgerichtshofes zu ernennen. Die traditionellen Instrumente des Parlaments zur Kontrolle der Exekutive, wie z. B. ein Vertrauensvotum und die Möglichkeit mündlicher Anfragen an die Regierung, sind nicht mehr möglich. Nur schriftliche Anfragen können an Vizepräsidenten und Minister gerichtet werden. Wenn drei Fünftel des Parlamentes zustimmen, kann dieses eine parlamentarische Untersuchung mutmaßlicher strafrechtlicher Handlungen des Präsidenten, der Vizepräsidenten und der Minister im Zusammenhang mit ihren Aufgaben einleiten. Der Grundsatz des Vorrangs von Gesetzen vor Präsidialerlässen ist im neuen System verankert. Präsident darf keine Dekrete in Bereichen erlassen, die durch die Verfassung der Legislative vorbehalten sind. Der Präsident hat das Recht, gegen jedes Gesetz ein Veto einzulegen, obgleich das Parlament mit absoluter Mehrheit ein solches Veto außer Kraft setzen kann, während das Parlament nur beim Verfassungsgericht die Nichtigkeitserklärung von Präsidialerlässen beantragen kann (EC 17.4.2018).

Unter dem Ausnahmezustand wurde die Schlüsselfunktion des Parlaments als Gesetzgeber eingeschränkt, da die Regierung auf Verordnungen mit "Rechtskraft" zurückgriff, um Fragen zu regeln, die nach dem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren hätten behandelt werden müssen. Das Parlament erörterte nur eine Handvoll wichtiger Rechtsakte, insbesondere das Gesetz zur Änderung der Verfassung und umstrittene Änderungen seiner Geschäftsordnung. Nach den sich verschärfenden politischen Spannungen im Land wurde der Raum für den Dialog zwischen den politischen Parteien im Parlament weiter eingeschränkt. Die oppositionelle Demokratische Partei der Völker (HDP) wurde besonders an den Rand gedrängt, da viele HDP-ParlamentarierInnen wegen angeblicher Unterstützung terroristischer Aktivitäten verhaftet und zehn von ihnen ihres Mandates enthoben wurden (EC 17.4.2018).

Nach dem Ende des Ausnahmezustandes am 18.7.2018 verabschiedete das türkische Parlament ein Gesetzespaket mit Anti-Terrormaßnahmen, das vorerst auf drei Jahre befristet ist (NZZ 18.7.2018; vgl. ZO 25.7.2018). In 27 Paragrafen wird geregelt, wie der Staat den Kampf gegen den Terror auch im Normalzustand weiterführen will. So behalten die Gouverneure einen Teil ihrer Befugnisse aus dem Ausnahmezustand. Sie dürfen weiterhin Menschen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie "die öffentliche Ordnung oder Sicherheit stören", bis zu 15 Tage lang den Zugang zu bestimmten Orten und Regionen verwehren und die Versammlungsfreiheit einschränken. Grundsätzlich darf es wie im Ausnahmezustand nach Einbruch der Dunkelheit keine Demonstrationen im Freien mehr geben. Zusätzlich können sie Versammlungen mit dem Argument verhindern, dass diese "den Alltag der Bürger nicht auf extreme und unerträgliche Weise erschweren dürfen". Der neue Gesetzestext regelt im Detail, wie Richter, Sicherheitskräfte oder Ministeriumsmitarbeiter entlassen werden können. Außerdem will die Regierung wie während des Ausnahmezustandes die Pässe derer, die wegen Terrorverdachts aus dem Staatsdienst entlassen oder suspendiert werden, ungültig machen. Auch die Pässe ihrer Ehepartner können weiterhin annulliert werden (ZO 25.7.2018). Auf der Plus-Seite der gesetzlichen Regelungen steht die weitere Verkürzung der Zeit in Polizeigewahrsam ohne richterliche Anordnung von zuletzt sieben auf nun maximal vier Tage. Innerhalb von 48 Stunden nach der Festnahme sind Verdächtige an den Ort des nächstgelegenen Gerichts zu bringen. In den ersten Monaten nach dem Putsch konnten Bürger offiziell bis zu 30 Tage in Zellen verschwinden, ohne einen Richter zu sehen (NZZ 18.7.2018).

In der Nacht vom 15.7. auf den 16.7.2016 kam es zu einem versuchten Staatsstreich durch Teile der türkischen Armee. Insbesondere Istanbul und Ankara waren von bewaffneten Auseinandersetzungen betroffen. In Ankara kam es u.a. zu Angriffen auf die Geheimdienstzentrale und das Parlamentsgebäude. In Istanbul wurde der internationale Flughafen vorrübergehend besetzt. Der Putsch scheiterte jedoch. Kurz vor Mittag des 16.7.16 erklärte der türkische Ministerpräsident Yildirim, die Lage sei vollständig unter Kontrolle (NZZ 17.7.2016). Mehr als 300 Menschen kamen ums Leben (Standard 18.7.2016). Sowohl die regierende islamisch-konservative Partei AKP als auch die drei im Parlament vertretenen Oppositionsparteien - CHP, MHP und die pro-kurdische HDP - hatten sich gegen den Putschversuch gestellt (SD 16.7.2016). Unmittelbar nach dem gescheiterten Putsch wurden 3.000 Militärangehörige festgenommen. Gegen 103 Generäle wurden Haftbefehle ausgestellt (WZ 19.7.2016a). Das Innenministerium suspendierte rund 8.800 Beamte, darunter 7.900 Polizisten, über 600 Gendarmen sowie 30 Provinz- und 47 Distriktgouverneure (HDN 18.7.2016). Über 150 Höchstrichter und zwei Verfassungsrichter wurden festgenommen (WZ 19.7.2016a; vgl. HDN 18.7.2016). Die Vereinigung der österreichischen Richterinnen und Richter zeigte sich tief betroffenen über die aktuellen Entwicklungen in der Türkei. Laut Richtervereinigung dürfen in einem demokratischen Rechtsstaat Richterinnen und Richter nur in den in der Verfassung festgelegten Fällen und nach einem rechtsstaatlichen und fairen Verfahren versetzt oder abgesetzt werden (RIV 18.7.2016).

Staatspräsident Erdogan und die Regierung sahen den im US-amerikanischen Exil lebenden Führer der Hizmet-Bewegung, Fethullah Gülen, als Drahtzieher der Verschwörung und forderten dessen Auslieferung (WZ 19.7.2016b). Präsident Erdogan und Regierungschef Yildirim sprachen sich für die Wiedereinführung der 2004 abgeschafften Todesstrafe aus, so das Parlament zustimmt (TS 19.7.2016; vgl. HDN 19.7.2016). Neben zahlreichen europäischen Politikern machte daraufhin auch die EU-Außenbeauftragte, Federica Mogherini, klar, dass eine EU-Mitgliedschaft der Türkei unvereinbar mit Einführung der Todesstrafe ist. Zudem sei die Türkei Mitglied des Europarates und somit an die europäische Menschrechtskonvention gebunden (Spiegel 19.7.2016).

Seit der Einführung des Ausnahmezustands wurden über 150.000 Personen in Gewahrsam genommen, 78.000 verhaftet und über 110.000 Beamte entlassen, während nach Angaben der Behörden etwa 40.000 wieder eingestellt wurden, etwa 3.600 von ihnen per Dekret (EC 17.4.2018). Justizminister Abdulhamit Gül verkündete am 10.2.2017, dass rund 38.500 Mitglieder der Gülen-Bewegung, 10.000 der Arbeiterpartei Kurdistan (PKK) und rund 1.350 Mitglieder des sogenannten Islamischen Staates in der Türkei in Untersuchungshaft genommen oder verurteilt wurden. 2017 wurden von Staatsanwälten mehr als vier Millionen Untersuchungen eingeleitet. Laut Gül verhandelten die Obersten Strafgerichte 2017 mehr als sechs Millionen neue Fälle (HDN 12.2.2017). Die türkische Regierung hat Ermittlungen gegen insgesamt 612.347 Personen in der gesamten Türkei eingeleitet, weil sie in den letzten zwei Jahren angeblich "bewaffneten terroristischen Organisationen" angehört haben. Das Justizministerium gibt an, dass allein 2017 Ermittlungen gegen

457.425 Personen eingeleitet wurden, die im Sinne von Artikel 314 des Türkischen Strafgesetzbuches (TCK) als Gründer, Führungskader oder Mitglieder bewaffneter Organisationen gelten (TP 10.9.2018, vgl. SCF 7.9.2018). Mit Stand 29.8.2018 waren rund 170.400 Personen entlassen und 81.400 Personen in Gefängnissen inhaftiert (TP 29.8.2018).

Sowohl die türkische Regierung, Staatspräsident Erdogan als auch die Kurdische Arbeiterpartei (PKK) erklärten Ende Juli 2015 angesichts der bewaffneten Auseinandersetzungen den seit März 2013 bestehenden Waffenstillstand bzw. Friedensprozess für beendet (Spiegel 25.7.2015; vgl. DF 28.7.2015). Hinsichtlich des innerstaatlichen Konfliktes forderte das EU-Parlament einen sofortigen Waffenstillstand im Südosten der Türkei und die Wiederaufnahme des Friedensprozesses, damit eine umfassende und tragfähige Lösung zur Kurdenfrage gefunden werden kann. Die kurdische Arbeiterpartei (PKK) sollte die Waffen niederlegen, terroristische Vorgehensweisen unterlassen und friedliche und legale Mittel nutzen, um ihren Erwartungen Ausdruck zu verleihen (EP 14.4.2016; vgl. Standard 14.4.2016). Die Europäische Kommission bekräftigt das Recht der Türkei die Kurdische Arbeiterpartei (PKK), die weiterhin in der EU als Terrororganisation gilt, zu bekämpfen. Allerdings müssten die Anti-Terrormaßnahmen angemessen sein und die Menschenrechte geachtet werden. Die Lösung der Kurdenfrage durch einen politischen Prozess ist laut EK der einzige Weg, Versöhnung und Wiederaufbau müssten ebenfalls von der Regierung angegangen werden. (EC 9.11.2016).

2. Sicherheitslage

Die innenpolitischen Spannungen und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak haben Auswirkungen auf die Sicherheitslage. In den größeren Städten und in den Grenzregionen zu Syrien kann es zu Demonstrationen und Ausschreitungen kommen. Im Südosten des Landes sind die Spannungen besonders groß, und es kommt immer wieder zu Ausschreitungen und bewaffneten Zusammenstößen. Der nach dem Putschversuch vom 15.7.2016 ausgerufene Notstand wurde am 18.7.2018 aufgehoben. Allerdings wurden Teile der Terrorismusabwehr, welche Einschränkungen gewisser Grundrechte vorsehen, ins ordentliche Gesetz überführt. Die Sicherheitskräfte verfügen weiterhin über die Möglichkeit, die Bewegungs- und Versammlungsfreiheit einzuschränken sowie kurzfristig lokale Ausgangssperren zu verhängen. Trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen besteht das Risiko von Terroranschlägen jederzeit im ganzen Land. Im Südosten und Osten des Landes, aber auch in Ankara und Istanbul haben Attentate wiederholt zahlreiche Todesopfer und Verletzte gefordert, darunter Sicherheitskräfte, Bus-Passagiere, Demonstranten und Touristen (EDA 19.9.2018).

Im Juli 2015 flammte der Konflikt zwischen Sicherheitskräften und PKK wieder militärisch auf, der Lösungsprozess kam zum Erliegen. Die Intensität des Konflikts innerhalb des türkischen Staatsgebiets hat aber seit Spätsommer 2016 nachgelassen (AA 3.8.2018).

Mehr als 80% der Provinzen im Südosten des Landes waren zwischen 2015 und 2016 von Attentaten der PKK, der TAK und des sogenannten IS, sowie Vergeltungsoperationen der Regierung und bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen der PKK und den türkischen Sicherheitskräften betroffen (SFH 25.8.2016). Ein hohes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 3 des BMEIA) gilt in den Provinzen Agri, Batman, Bingöl, Bitlis, Diyarbakir, Gaziantep, Hakkari, Kilis, Mardin, Sanliurfa, Siirt, Sirnak, Tunceli und Van - ausgenommen in den Grenzregionen zu Syrien und dem Irak. Gebiete in den Provinzen Diyarbakir, Elazig, Hakkari, Siirt und Sirnak können von den türkischen Behörden und Sicherheitskräften befristet zu Sicherheitszonen erklärt werden. Ein erhöhtes Sicherheitsrisiko (Sicherheitsstufe 2) gilt im Rest des Landes (BMEIA 9.10.2018).

1,6 Millionen Menschen in den städtischen Zentren waren während der Kämpfe 2015-2016 von Ausgangssperren betroffen. Die türkischen Sicherheitskräfte haben in manchen Fällen schwere Waffen eingesetzt. Mehre Städte in den südöstlichen Landesteilen wurden zum Teil schwer zerstört (CoE-CommDH 2.12.2016). Im Jänner 2018 veröffentlichte Schätzungen für die Zahl der seit Dezember 2015 aufgrund von Sicherheitsoperationen im überwiegend kurdischen Südosten der Türkei Vertriebenen, liegen zwischen 355.000 und 500.000 (MMP 1.2018).

Die Türkei musste von Sommer 2015 bis Ende 2017 eine der tödlichsten Serien terroristischer Anschläge ihrer Geschichte verkraften. Sie war dabei einer dreifachen Bedrohung durch Terroranschläge der PKK bzw. ihrer Ableger, des sogenannten Islamischen Staates sowie - in sehr viel geringerem Ausmaß - auch linksextremistischer Gruppierungen wie der Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front (DHKP-C) ausgesetzt (AA 3.8.2018).

Neben Anschlägen der PKK und ihrer Splittergruppe TAK wurden mehrere schwere Anschläge dem sog. Islamischen Staat zugeordnet. Bei einem Selbstmordanschlag auf eine Touristengruppe im Zentrum Istanbuls wurden im Jänner 2016 zwölf Deutsche getötet. Die Regierung gab dem IS die Schuld für den Anschlag (Zeit 17.1.2017). Am 28. Juni 2016 kamen bei einem Terroranschlag auf den Istanbuler Flughafen Atatürk über 40 Menschen ums Leben. Die Behörden gingen von einer Täterschaft des sog. Islamischen Staates (IS) aus (Standard 30.6.2016). Am 20.8.2016 riss ein Selbstmordanschlag des sog. IS auf eine kurdische Hochzeit in Gaziantep mehr als 50 Menschen in den Tod (Standard 22.8.2016). Mahmut Togrul, lokaler Parlamentarier der HDP, sagte, dass die Hochzeitsgäste größtenteils Unterstützer der HDP gewesen seien, weshalb der Anschlag nicht zufällig, sondern als Racheakt an den Kurden zu betrachten sei (Guardian 22.8.2016). In einer Erklärung warf die HDP der Regierung vor, sie habe Warnungen vor Terroranschlägen durch den sog. IS ignoriert. Vielmehr habe die Regierungspartei AKP tatenlos zugesehen, wie sich die Terrormiliz IS gerade in der grenznahen Stadt Gaziantep ausgebreitet hat (tagesschau.de 21.8.2016). Ein weiterer schwerer Terroranschlag des sog. IS erfolgte in der Silvesternacht 2016/17. Während eines Anschlags auf den Istanbuler Nachtclub Reina wurden 39 Menschen getötet, darunter 16 Ausländer (Zeit 17.1.2017).

Zusammenstöße zwischen Sicherheitskräften und Mitgliedern bewaffneter Gruppen wurden weiterhin im gesamten Südosten gemeldet. Nach Angaben des türkischen Verteidigungsministeriums wurden vom 2. bis 3. Juli 2015 und 11. Juni 2017 im Rahmen von Sicherheitsoperationen 10.657 Terroristen "neutralisiert" (OHCHR 3.2018). Die Sicherheitslage im Südosten ist weiterhin angespannt, wobei 2017 weniger die urbanen denn die ländlichen Gebiete betroffen waren (EC 17.4.2018). In den Jahren 2017 und 2018 wurden außerdem keine großflächigen Ausgangssperren im Südosten der Türkei mehr verhängt, die Untersuchung anhaltender Vorwürfe über Menschenrechtsverletzungen während der 24-stündigen Ausgangssperren im Südosten der Türkei in den Jahren 2015 und 2016 kam jedoch ebenfalls nicht voran (AI 22.02.2018).

Es ist weiterhin von einem erhöhten Festnahmerisiko auszugehen. Behörden berufen sich bei Festnahmen auf die Mitgliedschaft in Organisationen, die auch in der EU als terroristische Vereinigung eingestuft sind (IS, PKK), aber auch auf Mitgliedschaft in der so genannten "Gülen-Bewegung", die nur in der Türkei unter der Bezeichnung "FETÖ" als terroristische Vereinigung eingestuft ist. Auch geringfügige, den Betroffenen unter Umständen gar nicht bewusste oder lediglich von Dritten behauptete Berührungspunkte mit dieser Bewegung oder mit ihr verbundenen Personen oder Unternehmen können für eine Festnahme ausreichen. Öffentliche Äußerungen gegen den türkischen Staat, Sympathiebekundungen mit von der Türkei als terroristisch eingestuften Organisationen und auch die Beleidigung oder Verunglimpfung von staatlichen Institutionen und hochrangigen Persönlichkeiten sind verboten, worunter auch regierungskritische Äußerungen im Internet und in den sozialen Medien fallen (AA 10.10.2018a).

Die PKK hat am 12.3.2016 eine Dachorganisation linker militanter Gruppen gegründet, um ihre eigenen Fähigkeiten auszuweiten und ihre Unterstützungsbasis jenseits der kurdischen Gemeinschaft auszudehnen. Die neue Gruppe, bekannt als die "Revolutionäre Bewegung der Völker" (HBDH), wird vom Chef der radikalsten linken Fraktion innerhalb der PKK, Duran Kalkan, geleitet. Erklärte Absicht der Gruppe, die den türkischen Staat und im Speziellen die herrschende AKP ablehnt, ist es, die politische Agenda voranzutreiben, wozu auch Terroranschläge u.a. gegen Ausländer gehören. Die Gruppe unterstrich zudem das Scheitern der kurdischen Parteien in der Türkei, auch der legalen HDP (Stratfor 15.4.2016). Laut Berichten beabsichtigt die HBDH Propagandaaktionen durchzuführen, um auch die Unterstützung von türkischen Aleviten zu erhalten, und um "Selbstverteidigungsbüros" in den Vierteln der südlichen und südöstlichen Städte zu errichten. Die HBDH will auch Druck auf Dorfvorsteher und Beamte ausüben, die in Schulen und Gesundheitsdiensten arbeiten, damit diese entweder kündigen oder die Ortschaften verlassen (HDN 4.4.2016). Neun verbotene Gruppen trafen sich auf Einladung der PKK am 23.2.2016 zur ihrer ersten Sitzung im syrischen Latakia, darunter die Türkische kommunistische Partei/ Marxistisch-Leninistisch (TKP/ML), die Marxistisch-Leninistische Kommunistische Partei (MLKP) [siehe 3.4.], die Revolutionäre Kommunistische Partei (DKP), die Türkische Kommunistische Arbeiterpartei/ Leninistin (TKEP/L), die Kommunistische Partei der Vereinten Nationen (MKP), die türkische Revolutionäre Kommunistenvereinigung (TIKB), das Revolutionshauptquartier und die Türkische Befreiungspartei-Front (THKP-C) [siehe 3.5] (HDN 4.4.2016; vgl. ANF News 12.3.2016). Die HBDH sieht in der Türkei eine Ein-Parteien-Diktatur bzw. ein faschistisches Regime entstehen, dass u. a. auf der Feindschaft gegen die Kurden gründet (ANF News 12.3.2016).

3. Folter und unmenschliche Behandlung

Die Türkei ist Vertragspartei der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Sie hat das Fakultativprotokoll zum UN-Übereinkommen gegen Folter (Optional Protocol to the Convention Against Torture/ OPCAT) im September 2005 unterzeichnet und 2010 ratifiziert. Menschenrechtsinstitutionen in der Türkei geben an, dass Fälle von Folterungen in Ermittlungsverfahren wieder häufiger geworden sind. Folter bleibt in vielen Fällen straflos - wenngleich es ebenso Fälle gibt, in welchen Anklage erhoben wird und Verurteilungen erfolgen (ÖB 10/2017).

Die deutliche Zunahme von Folter und anderen Formen der Misshandlung in amtlichen Haftanstalten während des Ausnahmezustands infolge des gescheiterten Militärputsches und während des Konflikts in Südost- und Ostanatolien nach Juli 2015, setzte sich auch 2017 fort, wenn auch in deutlich geringerem Maße als in den Wochen nach dem Putschversuch im Juli 2016 (iHD 6.4.2018, vgl. AI 22.2.2018, HRW 18.1.2018). Die gleiche Tendenz zeigt sich bei den Vorwürfen zu Folter und anderer Misshandlungen von Häftlingen und Festgenommenen auf der Basis des Ausnahmezustandes. Bei Demonstrationen wurde von Sicherheitskräften Gewalt die gegen Personen angewendet wurden, die ihr Demonstrations- und Versammlungsrecht ausübten, die das Ausmaß von Folter und anderer Misshandlung erreichte. Nach Angaben des Menschenrechtsverbandes (iHD) sind 2017 insgesamt 2.682 Menschen Folter und Misshandlung ausgesetzt gewesen (iHD 6.4.2018).

Folter und Misshandlungen betreffen insbesondere Personen, die unter dem Anti-Terror-Gesetz festgehalten werden. Es gibt weit verbreitete Berichte, dass die Polizei Häftlinge geschlagen, misshandelt und mit Vergewaltigung bedroht, Drohungen gegen Anwälte ausgestoßen und sich bei medizinischen Untersuchungen eingemischt hat (HRW 18.1.2018). Es gibt keine funktionierende nationale Stelle zur Verhütung von Folter und Misshandlung, die ein Mandat zur Überprüfung von Hafteinrichtungen hat. Ebenso wenig sind Statistiken zur Untersuchung von Foltervorwürfen verfügbar. (AI 22.2.2018). Es gibt Berichte über nicht identifizierte Täter, die angeblich im Auftrag staatlicher Institutionen mindestens sechs Männer entführt und an geheimen Orten festgehalten haben sollen (HRW 18.1.2018).

Es gibt Vorwürfe von Folter und anderen Misshandlungen im Polizeigewahrsam seit Ende seines offiziellen Besuchs im Dezember 2016, u.a. angesichts der Behauptungen, dass eine große Anzahl von Personen, die im Verdacht stehen, Verbindungen zur Gülen-Bewegung oder zur bewaffneten Arbeiterpartei Kurdistans zu haben, brutalen Verhör-Methoden ausgesetzt sind, die darauf abzielen, erzwungene Geständnisse zu erwirken oder Häftlinge zu zwingen andere zu belasten (Zu den Missbrauchsfällen gehören schwere Schläge, Elektroschocks, Übergießen mit eisigem Wasser, Schlafentzug, Drohungen, Beleidigungen und sexuelle Übergriffe (OHCHR 27.2.2018, vgl. OHCHR 3.2018). Die Regierungsstellen haben offenbar keine ernsthaften Maßnahmen ergriffen, um diese Anschuldigungen zu untersuchen oder die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Stattdessen wurden Beschwerden bezüglich Folter, Berichten zufolge von der Staatsanwaltschaft unter Berufung auf die Notstandsverordnung (Art. 9 des Dekrets Nr. 667) abgewiesen, die Beamte von einer strafrechtlichen Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand freispricht. Die Tatsache, dass die Behörden es versäumt haben, Folter und Misshandlung öffentlich zu verurteilen und das allgemeine Verbot eines solchen Missbrauchs in der täglichen Praxis durchzusetzen, fördert ein Klima der Straffreiheit, welches dieses Verbot und letztendlich die Rechtsstaatlichkeit ernsthaft untergräbt (OHCHR 27.2.2018). Der UN-Sonderberichterstatter vermutet, dass sich angesichts der Massenentlassungen innerhalb der Behörden Angst breit gemacht hat, sich gegen die Regierung zu stellen. Staatsanwälte untersuchen Foltervorwürfe nicht, um nicht selbst in Verdacht zu geraten (SRF 1.3.2018).

Viele Häftlinge haben bei späteren Gerichtsauftritten erzwungene Geständnisse zurückgezogen. Zu den Tätern gehörten auch Mitglieder der Polizei, der Gendarmerie, der Militärpolizei und der Sicherheitskräfte. Tausende von unzensierten Bildern von Folterungen mutmaßlicher Putschverdächtiger unter erniedrigenden Umständen wurden nach dem

Putsch vom Juli 2016 in den türkischen Medien und sozialen Netzwerken verbreitet, ebenso wie Aussagen, die zu Gewalt gegen Regierungsgegner anstachelten. OHCHR erhielt Berichte über Personen, die von Anti-Terror-Polizeieinheiten und Sicherheitskräften in improvisierten Haftanstalten wie Sportzentren und Krankenhäusern ohne Anklage festgehalten und misshandelt wurden (OHCHR 3.2018).

4. Allgemeine Menschenrechtslage

Die Türkei gehört dem Europarat an und ist Partei der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950, des 1. Zusatzprotokolls (Grundrecht auf Eigentum) sowie des 6. Zusatzprotokolls zur EMRK über die Abschaffung der Todesstrafe in Friedenszeiten, des 11. (obligatorische Gerichtsbarkeit des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte), des 13. (uneingeschränkte Aufhebung der Todesstrafe) und des 14. Zusatzprotokolls. Allerdings hat die türkische Regierung unter Berufung auf den Notstandsfall den Europarat am 22.07.2016 über eine allg. Derogation nach Art. 15 EMRK notifiziert sowie über eine entsprechende Derogation vom Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte. Eine Notifizierung über die Rücknahme der Derogation nach Aufhebung des Notstandes steht noch aus. Die Türkei ist weiterhin Vertragspartei des Europäischen Übereinkommens zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe von 1987. Sie gehört neben dem Europarat auch der OSZE an. Für sie gelten die menschenrechtsrelevanten Dokumente dieser Organisationen, vor allem das Kopenhagener Dokument von 1990. Der Europarat ist im Rahmen von Justizprojekten in der Türkei tätig. Darüber hinaus gehört die Türkei zu den Erstunterzeichnern des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (11.05.2011), das für die Türkei zum 01.08.2014 in Kraft getreten ist (AA 03.08.2018).

Vor dem Hintergrund des andauernden Ausnahmezustands kam es zu Menschenrechtsverletzungen. Abweichende Meinungen wurden rigoros unterdrückt. Davon waren u. a. Journalisten. politische Aktivisten und Menschenrechtsverteidiger betroffen. Es wurden weiterhin Fälle von Folter bekannt. doch in geringerer Zahl als in den Wochen nach dem Putschversuch vom Juli 2016. Die weitverbreitete Straflosigkeit verhindert die wirksame Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen. die von Angehörigen der Behörden verübt wurden. Es kam auch 2017 zu Menschenrechtsverstößen durch bewaffnete Gruppen; im Januar wurden zwei Anschläge verübt. Doch Bombenanschläge gegen die Bevölkerung. die in den Vorjahren regelmäßig stattfanden. gab es im Jahr 2017 nicht. Für die Lage der im Südosten des Landes vertriebenen Menschen wurde keine Lösung gefunden (AI 22.2.2018).

Das Hochkommissariat der Vereinten Nationen (OHCHR) erhielt weiterhin Informationen über zahlreiche Menschenrechtsverletzungen und Missbräuche. die im Berichtszeitraum in der Südosttürkei im Rahmen der Sicherheitsoperationen seitens türkischer Organe begangen wurden. Die NGO "Human Rights Association" veröffentlichte Statistiken über solche Verletzungen. die angeblich im ersten Quartal 2017 in der ost- und südöstlichen Region Anatoliens stattgefunden haben. Demnach belief sich die Gesamtzahl der Verstöße auf 7.907. darunter 263 Vorfälle von Folterungen in Haft. und über 100 Vorfälle von Kriminalisierung von Personen für die Ausübung ihres Rechts auf freie Meinungsäußerung (OHCHR 3.2018).

Die türkische Menschenrechtsvereinigung (IHD) verlautbarte am 23.1.2017, dass 2016 ein katastrophales Jahr für Menschenrechtsverletzungen in der Türkei gewesen sei, da fast 50.000 Menschenrechtsverletzungen gemeldet wurden, vor allem seit der Erklärung des Notstandes nach dem gescheiterten Staatsstreich. Besonders betroffen waren die südöstlichen Provinzen der Türkei (TP 24.1.2017). Willkürliche kurzfristige Festnahmen im Rahmen von - mitunter erlaubten, aber in einigen Fällen eskalierenden - Demonstrationen oder Trauerzügen kommen verstärkt vor. Sie werden von offizieller Seite regelmäßig mit dem Hinweis auf die angebliche Unterstützung einer terroristischen Vereinigung bzw. Verbreitung von Propaganda einer kriminellen Organisation gerechtfertigt (AA 03.08.2018).

Die Notverordnungen haben insbesondere bestimmte bürgerliche und politische Rechte. einschließlich der Meinungs- und Versammlungsfreiheit sowie der Verfahrensrechte eingeschränkt. Die Zivilgesellschaft ist zunehmend unter Druck geraten. insbesondere angesichts einer großen Zahl von Verhaftungen von Aktivisten und der wiederholten Anwendung von Demonstrationsverboten. Auch in den Bereichen Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit. Verfahrens- und Eigentumsrechte gab es gravierende Rückschläge. Die Situation in Bezug auf die Verhütung von Folter und Misshandlung gibt weiterhin Anlass zu ernster Besorgnis. Seit September 2016 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in 163 (von 168) Fällen festgestellt, die sich hauptsächlich auf das Recht auf ein faires Verfahren, die Meinungsfreiheit, die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Freiheit und Sicherheit bezogen (EC 17.4.2018).

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) stimmte mit großer Mehrheit im April 2018 dafür, ein Verfahren gegen die Türkei zu eröffnen und das Land unter Beobachtung zu stellen. Die Wiederaufnahme des sogenannten Monitorings bedeutet, dass zwei Berichterstatter regelmäßig in die Türkei fahren, um die Einhaltung der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit in dem Land zu überprüfen (Zeit 25.4.2017). Die Versammlung beschloss das Monitoring solange durchzuführen, bis der ernsthaften Sorge um die Einhaltung der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in einer zufriedenstellenden Art und Weise Rechnung getragen wird. Zudem warnte die PACE vor der Wiedereinführung der Todesstrafe, die mit der Mitgliedschaft der Türkei im Europarat unvereinbar ist (PACE 25.4.2017). Das türkische Außenministerium bezeichnete die Entscheidung als Schande, hinter der böswillige Kreise innerhalb der PACE stünden, beeinflusst von Islamo- und Xenophobie (DS 25.4.2017).

In einer Resolution Anfang Februar 2018 zur Menschenrechtslage erkennt das Europäische Parlament (EP) das Recht und die Pflicht der türkischen Regierung an, die Täter des Putschversuches vom 16.7.2016 vor Gericht zu stellen. Es hebt jedoch hervor, dass die gescheiterte Machtübernahme durch das Militär als Vorwand dafür herangezogen wird, die legitime und gewaltfreie Opposition noch stärker zu unterdrücken und die Medien und die Zivilgesellschaft durch unverhältnismäßige und unrechtmäßige Handlungen und Maßnahmen daran zu hindern, dass sie friedlich ihr Recht auf freie Meinungsäußerung ausüben. Die Lage in den Bereichen Grundrechte und Grundfreiheiten und Rechtsstaatlichkeit in der Türkei verschlechtert sich stetig und es mangelt der Justiz an Unabhängigkeit. Justiz und Verwaltung machen Gebrauch von willkürlichen Verhaftungen und Schikanen, um Zehntausende zu verfolgen. Deshalb fordert das EP die türkischen Staatsorgane nachdrücklich auf, all diejenigen umgehend und bedingungslos freizulassen, die nur inhaftiert wurden, weil sie ihrer rechtmäßigen Tätigkeit nachgegangen sind und ihr Recht auf freie Meinungsäußerung und Vereinigungsfreiheit ausgeübt haben, und die in Gewahrsam gehalten werden, obwohl keine eindeutigen Beweise für Straftaten vorliegen (EP 8.2.2018).

Die routinemäßige Verlängerung des Ausnahmezustands bis zur Aufhebung am 18.7.2018 hat zu schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen gegen Hunderttausende von Menschen geführt - von willkürlichem Entzug des Rechts auf Arbeit und Bewegungsfreiheit, über Folter und andere Misshandlungen bis hin zu willkürlichen Verhaftungen und Verletzungen des Rechts auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit (OHCHR 20.3.2018, vgl. ZO 20.3.2018).

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) spielt im Land eine besonders wichtige Rolle. Mit der Einführung der Individualbeschwerde seit September 2012 beruft sich das Verfassungsgericht noch häufiger auf die EMRK. Der EGMR sieht nunmehr Beschwerden aus der Türkei erst dann als zulässig an, wenn der nationale Rechtsweg einschließlich Individualbeschwerde ausgeschöpft wurde, was zu einer deutlichen Verringerung der Neuverfahren vor dem EGMR führte. Allerdings ist es fraglich, ob es bei dieser Einschätzung des EGMR bleiben wird, da ein Urteil des Verfassungsgerichts vom 11.01.2018, in dem es die Freilassung der sich Journalisten Mehmet Altan und Sahin Alpay anordnete, von den Instanzengerichten nicht umgesetzt wurde; u.a. mit dem Argument, das Verfassungsgericht habe seine Kompetenzen überschritten und wie eine Tatsacheninstanz agiert (AA 03.08.2018). Seit September 2015 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in 75 Fällen eine oder mehrere Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) festgestellt, die vor allem das Recht auf Leben, das Verbot der Folter, das Recht auf Freiheit und Sicherheit, Recht auf ein faires Verfahren, Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, Gewissensfreiheit und Religionsfreiheit, friedliche Versammlungsfreiheit, Verbot der Diskriminierung und Schutz des Eigentums. Insgesamt wurden 2.075 neue Anträge einem Entscheidungsgremium zugeteilt, wodurch die Zahl der anhängigen Anträge auf 7.982 anstieg. Die EU hat die Türkei aufgefordert, ihre Anstrengungen zur Umsetzung aller Urteile des EGMR zu intensivieren. Die Türkei hat 938 Fälle im Rahmen des verstärkten Überwachungsverfahrens anhängig (EC 9.11.2016).

Die EMRK ist aufgrund Art. 90 der Verfassung gegenüber nationalem Recht vorrangig und direkt anwendbar. EMRK und Rechtsprechung des EGMR werden jedoch bislang von der innerstaatlichen Justiz nicht ausreichend berücksichtigt. Das türkische Justizministerium bemüht sich gemeinsam mit EU und Europarat auch durch Fortbildungen für Richter und Staatsanwälte um Abhilfe. Wiederholt befasste sich das Ministerkomitee des Europarats mit der Türkei aufgrund nicht umgesetzter Urteile wie Ülke/Türkei (Wehrdienstverweigerung) oder Xenides-Arestis/Türkei (Eigentumsfragen in Nord-Zypern) (AA 03.08.2018).

5. Todesstrafe

Die Türkei ist Vertragspartei des Protokolls Nr. 13 der EMRK zur Abschaffung der Todesstrafe unter allen Umständen. Die problematischste Situation besteht nach wie vor im Südosten des Landes angesichts der mangelnden Untersuchungen der gemeldeten Tötungen durch Sicherheitsorgane im Kontext von Sicherheitsoperationen und PKK- Angriffen

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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