Entscheidungsdatum
23.05.2019Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W225 2174853-1/10E
W225 2174852-1/8E
W225 2174855-1/8E
BESCHLUSS
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Barbara WEIß über die Beschwerden von
1) XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.10.2017, Zl:
1090442002/151519708/BMI-BFA_STM_AST,
2) XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.10.2017, Zl:
1090442209/151520161/BMI-BFA_STM_AST,
3) XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gesetzlich vertreten durch
XXXX und XXXX , diese vertreten durch die ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 08.10.2017, Zl:
1090442808/151520366/BMI-BFA_STM_AST,
beschlossen:
A)
Die angefochtenen Bescheide werden gemäß § 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG aufgehoben und zur Erlassung neuer Bescheide an das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zurückverwiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
BEGRÜNDUNG:
I. Verfahrensgang:
I.1. Der Erst- und die Zweitbeschwerdeführerin (BF1 und BF2) sowie ihr gemeinsames Kind, die Drittbeschwerdeführerin (BF3), gelangten unberechtigt in das Bundesgebiet und stellten am 09.10.2015 gegenständliche Anträge auf internationalen Schutz.
I.2. Bei der Einvernahme der Zweitbeschwerdeführerin durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) am 11.07.2017 gab diese unter anderem an, dass sie in Afghanistan gemeinsam mit der Familie ihres Ehemannes in der Stadt Kandahar gelebt habe und Hausfrau gewesen sei. Ihre Eltern sowie ihre Geschwister würden in Pakistan leben. Zum Fluchtgrund befragt, gab die BF2 an, dass ihr Vater von Erpressern bedroht worden sei. Diese hätten auch Drohungen gegenüber den Beschwerdeführern ausgesprochen.
I.3. Mit den nunmehr angefochtenen Bescheiden wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG (Spruchpunkt I.) und bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Gemäß § 57 AsylG wurden Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen nicht erteilt und gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG gegen die Beschwerdeführer Rückkehrentscheidungen gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Es wurde zudem gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung der Beschwerdeführer gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Weiters wurde ausgeführt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise der Beschwerdeführer gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage (Spruchpunkt IV.).
Begründend wurde insbesondere ausgeführt, dass ein Verlassen Afghanistans aus wohlbegründeter Furcht bzw. asylrelevanter individueller Verfolgung nicht glaubhaft gemacht werden konnte. Betreffend der Zweitbeschwerdeführerin wurde festgehalten, dass sie seit ihrer Einreise nach Österreich im Oktober 2015 eine Lebensweise angenommen habe, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde, somit eine "westliche" Lebensführung angenommen habe. Den bisherigen Aktivitäten bzw. der Lebensweise seit ihrer Einreise sei nicht zu entnehmen, dass sie einen "westlichen", selbstbestimmten Lebensstil pflegen. Auch eine entsprechende "innere Wertehaltung" habe nicht glaubhaft gemacht werden können. Infolgedessen verletzte die BF2 mit ihrer Lebensweise die herrschenden sozialen Normen in Afghanistan nicht in einem Ausmaß, das ihnen bei einer Rückkehr (unter Beibehaltung des derzeitigen Lebensstils) eine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention drohen würde.
Darüber hinaus wurde festgestellt, dass es sich bei der BF2 um eine arbeitsfähige, gesunde Frau handle, deren Mann in der Lage sei, ein ausreichendes Auskommen zu sichern. Es könne nicht erkannt werden, warum den Beschwerdeführern ein Aufenthalt (etwa in Kabul, Herat oder auch Mazar-e Sharif) nicht möglich und ihnen dies nicht zumutbar sein solle. Die Voraussetzungen für das Vorliegen einer innerstaatlichen Fluchtalternative seien somit gegeben. Es gäbe keine Hinweise darauf, dass die Beschwerdeführer bei einer Rückkehr in eine existenzbedrohende Notlage geraten würden. Im Fall der Rückkehr bestünde für die Beschwerdeführer keine Gefährdung im Sinne der Art. 2 oder 3 EMRK. Einer gemeinsamen Ausweisung der Beschwerdeführer stünde auch nicht eine Verletzung des Art. 8 EMRK entgegen.
I.4. Gegen die gegenständlichen Bescheide des BFA erhoben die Beschwerdeführer fristgerecht Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit und Verletzung von Verfahrensvorschriften. Es wurden die Anträge gestellt, die angefochtenen Bescheide zur Gänze zu beheben und den Beschwerdeführern den Status von Asylberechtigten gem. § 3 AsylG zuzuerkennen; in eventu die angefochtenen Bescheide wegen Rechtswidrigkeit zur Gänze zu beheben und zur neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückzuverweisen; in eventu für den Fall der Abweisung des obigen Beschwerdeantrages gem. § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG festzustellen, dass den Beschwerdeführern der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf ihren Herkunftsstaat zukommt; sowie festzustellen, dass die gem. § 52 FPG erlassenen Rückkehrentscheidungen gem. § 9 Abs. 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig ist und dass die Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltsberechtigung (plus) gem. § 55 ASylG vorliegen und den Beschwerdeführern daher gem. § 58 Abs. 2 AsylG eine Aufenthaltsberechtigung (plus) von Amts wegen zu erteilen ist.
I.5. Am 30.10.2017 langten die gegenständlichen Beschwerden samt den Verwaltungsakten beim Bundesverwaltungsgericht ein.
I.6. Mit Schreiben vom 02.11.2017, 19.12.2017 sowie vom 01.02.2019 übermittelten die Beschwerdeführer diverse Integrationsunterlagen an das Bundesverwaltungsgericht.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1.1. Gemäß § 7 BFA-VG idgF entscheidet das Bundesverwaltungsgericht über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes. Die Zuständigkeit des Bundesverwaltungsgerichtes ist daher im vorliegenden Beschwerdeverfahren gegeben.
Zu A) Zurückverweisung der Beschwerde
1.2. Gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG hat das Verwaltungsgericht über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG dann in der Sache selbst zu entscheiden, wenn der maßgebliche Sachverhalt feststeht oder die Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts durch das Verwaltungsgericht selbst im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden ist.
Liegen die Voraussetzungen des Abs. 2 nicht vor, hat gemäß § 28 Abs. 3 VwGVG das Verwaltungsgericht im Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 Z 1 B-VG in der Sache selbst zu entscheiden, wenn die Behörde dem nicht bei der Vorlage der Beschwerde unter Bedachtnahme auf die wesentliche Vereinfachung oder Beschleunigung des Verfahrens widerspricht. Hat die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen, so kann das Verwaltungsgericht den angefochtenen Bescheid mit Beschluss aufheben und die Angelegenheit zur Erlassung eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverweisen. Die Behörde ist hiebei an die rechtliche Beurteilung gebunden, von welcher das Verwaltungsgericht bei seinem Beschluss ausgegangen ist.
Das Modell der Aufhebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit an die Behörde folgt konzeptionell jenem des § 66 Abs. 2 AVG, allerdings mit dem Unterschied, dass die Notwendigkeit der Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach § 28 Abs. 3 VwGVG nicht erforderlich ist (Fister/Fuchs/Sachs, Verwaltungsgerichtsverfahren 2013, § 28 VwGVG, Anm. 11.)
§ 28 Abs. 3 2. Satz VwGVG bildet damit die Rechtsgrundlage für eine kassatorische Entscheidung des Verwaltungsgerichtes, wenn "die Behörde notwendige Ermittlungen des Sachverhalts unterlassen" hat.
Aus der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes zu der vergleichbaren Bestimmung des § 66 Abs. 2 AVG ergibt sich, dass nur Mängel der Sachverhaltsfeststellung, d.h. im Tatsachenbereich zur Behebung des Bescheides und Zurückverweisung der Angelegenheit berechtigen (vgl. VwGH 19.11.2009, 2008/07/0168).
Der Verwaltungsgerichtshof hat mit den Erkenntnissen vom 21.11.2002, Zl. 2002/20/0315 und Zl. 2000/20/0084, grundsätzliche Ausführungen zur Anwendbarkeit des § 66 Abs. 2 AVG im Asylverfahren im Allgemeinen und durch den Unabhängigen Bundesasylsenat im Besonderen getätigt. Dabei hat er im letztgenannten Erkenntnis insbesondere ausgeführt: "Bei der Abwägung der für und gegen eine Entscheidung gemäß § 66 Abs. 2 AVG sprechenden Gesichtspunkte muss nämlich auch berücksichtigt werden, dass das Asylverfahren nicht nur möglichst kurz sein soll. Zur Sicherung seiner Qualität hat der Gesetzgeber einen Instanzenzug vorgesehen, der zur belangten Behörde und somit zu einer gerichtsähnlichen, unparteilichen und unabhängigen Instanz als besonderem Garanten eines fairen Asylverfahrens führt (vgl. bereits das Erkenntnis vom 16. April 2002, Zl. 99/20/0430). Die der belangten Behörde in dieser Funktion schon nach der Verfassung zukommenden Rolle einer obersten Berufungsbehörde (Art. 129c 1 B-VG) wird aber ausgehöhlt und die Einräumung eines Instanzenzuges zur bloßen Formsache degradiert, wenn sich das Asylverfahren einem eininstanzlichen Verfahren vor der Berufungsbehörde nähert, weil es das Bundesasylamt ablehnt, auf das Vorbringen sachgerecht einzugehen und brauchbare Ermittlungsergebnisse in Bezug auf die Verhältnisse im Herkunftsstaat in das Verfahren einzuführen. Diese über die Unvollständigkeit der Einvernahme hinaus gehenden Mängel des erstinstanzlichen Verfahrens sprechen auch bei Bedachtnahme auf die mögliche Verlängerung des Gesamtverfahrens unter dem Gesichtspunkt, dass eine ernsthafte Prüfung des Antrages nicht erst bei der "obersten Berufungsbehörde" beginnen und zugleich - abgesehen von der im Sachverhalt beschränkten Kontrolle der letztinstanzlichen Entscheidung durch den Verwaltungsgerichtshof - bei derselben Behörde enden soll [...]."
1.3. Der Verwaltungsgerichtshof verlangt in seiner Rechtsprechung eine ganzheitliche Würdigung des individuellen Vorbringens eines Asylwerbers unter dem Gesichtspunkt der Konsistenz der Angaben, der persönlichen Glaubwürdigkeit des Asylwerbers und der objektiven Wahrscheinlichkeit seines Vorbringens, wobei letzteres eine Auseinandersetzung mit (aktuellen) Länderberichten verlangt (VwGH vom 26.11.2003, Zl. 2003/20/0389).
Ebenso hat der Verfassungsgerichtshof, in nunmehr ständiger Rechtsprechung (vgl. Erkenntnis vom 24.02.2009, Zl. U 179/08-14 u. a.), ausgesprochen, dass willkürliches Verhalten einer Behörde, das in die Verfassungssphäre eingreift, dann anzunehmen ist, wenn in einem entscheidenden Punkt jegliche Ermittlungstätigkeit unterlassen wird oder ein ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren gar nicht stattfindet, insbesondere in Verbindung mit dem Ignorieren des Parteienvorbringens oder dem Außer-Acht-Lassen des konkreten Sachverhalts (vgl. VfSlg.15.451/1999, 15.743/2000, 16.354/2001, 16.383/2001). Ein willkürliches Vorgehen liegt insbesondere dann vor, wenn die Behörde den Bescheid mit Ausführungen begründet, denen jeglicher Begründungswert fehlt (vgl. VfSlg. 13.302/1992 m.w.N., 14.421/1996, 15.743/2000).
2. In seinem Erkenntnis vom 26.06.2014, Zl. Ro 2014/03/0063-4, hat der Verwaltungsgerichtshof zuletzt in Hinblick auf die nach § 28 Abs. 3 VwGVG bestehende Zurückverweisungsmöglichkeit ausgesprochen, dass prinzipiell eine meritorische Entscheidungspflicht der Verwaltungsgerichte bestehe und von der Möglichkeit der Zurückverweisung nur bei krassen beziehungsweise besonders gravierenden Ermittlungslücken Gebrauch gemacht werden könne. Diesbezüglich führte er aus, dass eine Zurückverweisung der Sache an die Verwaltungsbehörde zur Durchführung notwendiger Ermittlungen insbesondere dann in Betracht komme, wenn die Verwaltungsbehörde jegliche erforderliche Ermittlungstätigkeit unterlassen hat, wenn sie zur Ermittlung des maßgebenden Sachverhalts (vgl. § 37 AVG) lediglich völlig ungeeignete Ermittlungsschritte gesetzt oder bloß ansatzweise ermittelt hat. Gleiches gelte, wenn konkrete Anhaltspunkte annehmen lassen, dass die Verwaltungsbehörde (etwa schwierige) Ermittlungen unterließ, damit diese dann durch das Verwaltungsgericht vorgenommen werden.
3. Die belangte Behörde hat die von der Rechtsprechung der Gerichtshöfe des öffentlichen Rechts geforderten Maßstäbe eines umfassend ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahrens in den gegenständlichen Verfahren missachtet. In den gegenständlichen Verfahren wurde ebenso gegen die in § 18 AsylG 2005 determinierten Ermittlungspflichten verstoßen. Der für den Umfang der Ermittlungspflicht maßgebliche § 18 AsylG 2005 bestimmt nämlich, dass das Bundesamt in allen Stadien des Verfahrens von Amts wegen darauf hinzuwirken hat, dass die für die Entscheidung erheblichen Angaben gemacht oder lückenhafte Angaben über die zur Begründung des Antrages geltend gemachten Umstände vervollständigt werden, die Beweismittel für diese Angaben bezeichnet oder die angebotenen Beweismittel ergänzt oder überhaupt alle Aufschlüsse gegeben werden, welche zur Begründung des Antrages notwendig erscheinen. Erforderlichenfalls sind Beweismittel auch von Amts wegen beizuschaffen.
Diese Rechtsnorm, die eine Konkretisierung der aus § 37 iVm. § 39 Abs. 2 AVG hervorgehenden Verpflichtung der Verwaltungsbehörde darstellt, den maßgebenden Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln und festzustellen, hat die belangte Behörde in diesen Verfahren jedoch missachtet.
Das Bundesamt hat betreffend mehrerer wesentlicher Verfahrensfragen den entscheidungsrelevanten Sachverhalt nicht bzw. grundlegend nicht ausreichend ermittelt, hat verfahrenswesentliche Feststellungen nicht getroffen und entsprechende Länderfeststellungen den gegenständlichen Bescheiden nicht zu Grunde gelegt.
Zunächst ist unter Verweis auch auf jüngste Entscheidungen des VfGH (etwa E 3507/2017-15 vom 27. Februar 2018) festzuhalten, dass die im angefochtenen Erkenntnis wiedergegebenen Länderberichte unter anderem nur allgemeine Ausführungen zur Situation von Kindern enthalten. Aus den den gegenständlichen Bescheiden zugrunde gelegten Länderfeststellungen geht insbesondere hervor, dass die Menschenrechtssituation von Kindern in Afghanistan insgesamt Anlass zur Sorge gäbe. So wird hierin ausgeführt, dass körperliche Züchtigungen und Übergriffe im familiären Umfeld, in Schulen oder durch die afghanische Polizei verbreitet seien und der sexuelle Missbrauch von Kindern und Jugendlichen in weiten Teilen Afghanistans nach wie vor ein großes Problem sei. Der sexuelle Missbrauch von Jungen sei weit verbreitet, eine polizeiliche Aufklärung finde nicht statt. Die Länderberichte nennen Kinderarbeit als Problem. Die Regierung zeige auch nur geringe Bemühungen, Kinderarbeit zu verhindern oder Kinder aus ausbeuterischen Verhältnissen zu befreien. Rund 22 Prozent der Kinder in Afghanistan würden einer Arbeit nachzugehen haben. Betreffend die Ausbildungssituation wären Defizite zu erkennen. Den gegenständlichen Länderinformationen ist darüber hinaus auch zu entnehmen, dass viele Kinder in Afghanistan unterernährt seien und ca. zehn Prozent der Kinder vor ihrem fünften Lebensjahr sterben würden.
In seiner Begründung - insbesondere zur Nichtzuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten - setzt sich das BFA jedoch nicht weiter mit der konkreten Situation von Minderjährigen in Afghanistan insgesamt und diesbezüglich eben auch nicht mit den in den angefochtenen Bescheiden zitierten Länderberichten auseinander. Zudem würdigt die Behörde vor dem Hintergrund der den angefochtenen Bescheiden zugrunde gelegten Länderfeststellungen die individuell konkrete Situation der Familie bei einer allfälligen Rückkehr nach Afghanistan nicht ausreichend. Diesbezüglich werden ausschließlich allgemeine Ausführungen betreffend die Möglichkeiten der finanziellen Unterstützung durch Familienangehörige angeführt. Das BFA unterlässt damit jedoch eine vertiefende bzw. individuelle Auseinandersetzung mit den den angefochtenen Bescheiden zugrunde gelegten kinderspezifischen Länderberichten und der Frage, ob dem Kind - es handelt sich zum Zeitpunkt der Entscheidung um eine Tochter im Alter von elf Jahren - im Falle einer Rückkehr eine Verletzung ihrer gemäß Art. 2 und Art. 3 EMRK gewährleisteten Rechte droht (vgl. hiezu jüngst VfGH 21.9.2017, E 2130/2017 ua.; 11.10.2017 E 1734/2017 ua.; 11.10.2017 1803/2017 ua.). Eine - kinderspezifische - Auseinandersetzung mit der Frage, welche Rückkehrsituation die minderjährige Beschwerdeführerin tatsächlich vorfinden würde, kann im vorliegenden Fall nicht schon deshalb unterbleiben, weil die Beschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat auf den Schutz und die Fürsorge ihrer Eltern vertrauen könnte (vgl. VFGH 11.6.2018, E 1815/2018).
Ergänzend ist darauf hinzuweisen, dass dem Bescheid des Kindes keine eigenen Länderberichte zugrunde gelegt wurden, sondern ausschließlich auf die Länderberichte in den Bescheiden der beiden Eltern verwiesen wurde. Bei der Behandlung von Anträgen auf internationalen Schutz von Minderjährigen sind, unabhängig davon, ob diese unbegleitet sind oder gemeinsam mit ihren Eltern oder anderen Angehörigen leben, zur Beurteilung der Sicherheitslage einschlägige Herkunftsländerinformationen, in die auch die Erfahrungen in Bezug auf Kinder Eingang finden, bei entsprechender schlechter allgemeiner Sicherheitslage jedenfalls erforderlich. Dementsprechend hat der Verfassungsgerichtshof wiederholt hervorgehoben, welche Bedeutung die Länderfeststellungen im Hinblick auf Minderjährige haben (vgl. VfGH 11.10.2017, E 1803/2017, E 1463/2018).
Das BFA geht in den angefochtenen Bescheiden somit auf wesentliche Verfahrensfragen nicht ausreichend ein bzw. unterlässt die diesbezüglich erforderlichen Abklärungen gänzlich. Der von der Verwaltungsbehörde in dieser Sache ermittelte Sachverhalt ist somit grundlegend ergänzungsbedürftig und die angefochtenen Bescheide sind damit in den angeführten Punkten begründungslos ergangen.
Das BFA wird somit diese Ermittlungen im Zuge einer ergänzenden Befragung nachzuholen und entsprechend zu würdigen haben.
Die Vornahme solcherart verfahrenswesentlicher Abklärungen kann nicht gänzlich zur erstmaligen bzw. vollständigen Ermittlung im Beschwerdeverfahren an das BVwG delegiert werden. Eine solcherart gänzliche erstmalige Vornahme eines in den angeführten Punkten verfahrenswesentlich durchzuführenden Ermittlungsverfahrens als auch eine solcherart darauf aufbauende erstmalige Beurteilung des maßgeblichen Sachverhaltes durch das Bundesverwaltungsgericht kann jedenfalls nicht im Sinne des Gesetzes liegen. Dies vor allem auch unter besonderer Berücksichtigung des Umstandes, dass das BFA als Spezialbehörde im Rahmen der Staatendokumentation für die Sammlung relevanter Tatsachen zur Situation in den betreffenden Staaten samt den Quellen zuständig ist und eine sämtliche verfahrensrelevante Aspekte abdeckende Prüfung des Antrages nicht erst beim BVwG beginnen und zugleich enden soll.
Dass eine unmittelbare weitere Beweisaufnahme durch das Bundesverwaltungsgericht "im Interesse der Raschheit gelegen oder mit einer erheblichen Kostenersparnis verbunden" wäre, ist - auch angesichts des mit dem bundesverwaltungsgerichtlichen Beschwerdeverfahren als Mehrparteiverfahren verbundenen erhöhten Aufwandes - nicht ersichtlich.
Da der maßgebliche Sachverhalt in den gegenständlichen Verfahren somit nach wie vor in verfahrensrelevant wesentlichen Punkten nicht feststeht, war in einer Gesamtbeurteilung der dargestellten Erwägungen den Anträgen der Beschwerdeführer, die angefochtenen Bescheide zu beheben und an das BFA zurückzuverweisen, stattzugeben.
Auf Grundlage der neuen Ermittlungsergebnisse wird das BFA nach Vornahme von entsprechenden Abklärungen und unter Zugrundelegung von aktuellen, die oben angeführten Punkte abklärenden Länderfeststellungen, neue Bescheide zu erlassen haben.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist zu begründen.
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil der gegenständliche Fall rein tatsachenlastig ist und keinerlei Rechtsfragen - schon gar nicht von grundsätzlicher Bedeutung - aufwirft. Der Vollständigkeit halber sei ausgeführt, dass die Judikatur zu § 66 Abs. 2 AVG in ihrem Kernbereich auf § 28 Abs. 3 VwGVG anzuwenden ist und diesbezüglich seit jeher Einheitlichkeit gegeben ist.
Schlagworte
Behebung der Entscheidung, Ermittlungspflicht, individuelleEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2019:W225.2174855.1.00Zuletzt aktualisiert am
09.08.2019