TE OGH 2019/5/7 10ObS103/18x

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Veröffentlicht am 07.05.2019
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Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Faber sowie die fachkundigen Laienrichter Mag. Dr. Rolf Gleißner (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Werner Pletzenauer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei S*****, Slowenien, gegen die beklagte Partei Steiermärkische Gebietskrankenkasse, 8011 Graz, Josef-Pongratz-Platz 1, vertreten durch Dr. Helmut Destaller und andere Rechtsanwälte in Graz, wegen Kinderbetreuungsgeld, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 28. Juni 2018, GZ 7 Rs 21/18i-9, mit dem infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits- und Sozialgericht vom 13. November 2017, GZ 42 Cgs 89/17a-6, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei hat die Kosten des Revisionsverfahrens selbst zu tragen.

Text

Entscheidungsgründe:

Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Beurteilung der Leistungszuständigkeit Österreichs nach der Verordnung (EG) 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (in weiterer Folge: VO 883/2004) für den Export von pauschalem Kinderbetreuungsgeld als Konto für 456 Tage an die in Slowenien wohnhafte Klägerin anlässlich der Geburt ihres zweiten Kindes am 7. 4. 2017.

Die Klägerin ist seit 24. 9. 2014 als Pflegehelferin bei einem österreichischen Arbeitgeber in Österreich beschäftigt. Vom 24. 8. 2015 bis zum 10. 10. 2015 bezog sie Krankengeld ohne parallele Entgeltfortzahlung durch den Dienstgeber. Am 11. 10. 2015 trat das Beschäftigungsverbot hinsichtlich ihres am 10. 12. 2015 geborenen ersten Kindes ein. Die Klägerin bezog anlässlich der Geburt des ersten Kindes Kinderbetreuungsgeld. Sie gab dem Dienstgeber eine Karenz bis zum 30. 8. 2017 bekannt. Noch vor Ablauf der Karenz trat das Beschäftigungsverbot hinsichtlich ihres zweiten, am 7. 4. 2017 geborenen Kindes ein.

Die beklagte Steiermärkische Gebietskrankenkasse lehnte mit Bescheid vom 28. 8. 2017 die Zuerkennung des pauschalen Kinderbetreuungsgeldes anlässlich der Geburt des zweiten Kindes der Klägerin ab.

Mit der gegen diesen Bescheid erhobenen Klage begehrte die Klägerin die Feststellung, dass ihr Kinderbetreuungsgeld als Konto (bzw Ausgleichszahlung) für 456 Tage ab der Geburt zustünden.

Das Erstgericht erkannte den Anspruch der Klägerin auf pauschales Kinderbetreuungsgeld als Konto als zu Recht bestehend.

Es führte aus, Art 67 VO 883/2004 sehe für das als Familienleistung zu qualifizierende Kinderbetreuungsgeld eine Exportpflicht des gemäß Art 11 ff der VO zuständigen Mitgliedstaats vor. Eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung ausübe, unterliege gemäß Art 11 Abs 3 lit a VO 883/2004 den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats. Art 1 lit a VO 883/2004 definiere die Beschäftigung als jede Tätigkeit oder gleichgestellte Situation gemäß dem Beschäftigungsbegriff des nationalen Sozialrechts. Der für das Kinderbetreuungsgeld relevante Begriff der Erwerbstätigkeit werde in § 24 Abs 2 KBGG auch im Sinn des Art 1 lit a der VO definiert.

Gemäß dem neu eingeführten § 24 Abs 3 KBGG (BGBl I 2016/53) solle eine der Erwerbstätigkeit gleichgestellte Situation nur bei Erfüllung der nationalen Gleichstellungserfordernisse vorliegen. Diese Gleichstellung erfasse nur zwei Sachverhalte, nämlich das Vorliegen eines Beschäftigungsverbots oder einer Karenz nach dem MSchG, sofern unmittelbar davor eine mindestens 182-tägige in Österreich kranken- und pensionsversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit tatsächlich ausgeübt worden sei.

Es sei unstrittig, dass der vor Beginn des Beschäftigungsverbots bestehende Karenzurlaub der Klägerin als gleichgestellte Situation den Anspruch auf Kinderbetreuungsgeld nicht hindere. Entscheidend sei die Frage, ob der Bezug von Krankengeld unmittelbar vor dem Eintritt des Beschäftigungsverbots hinsichtlich des ersten Kindes der Klägerin dem Erfordernis der 182-tägigen in Österreich kranken- und pensionsversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit entspreche. Dies sei nach dem Wortlaut des § 24 KBGG nicht der Fall.

Allerdings sei nach Art 11 Abs 2 VO 883/2004 bei Personen, die aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung eine Geldleistung bezögen, davon auszugehen, dass sie diese Beschäftigung ausübten. Der Oberste Gerichtshof habe zu 10 ObS 117/14z SSV-NF 29/13 klargestellt, dass in kollisionsrechtlicher Hinsicht der Bezug von Krankengeld auch ohne parallele Entgeltfortzahlung als Beschäftigung iSd Art 11 Abs 2 VO 883/2004 zu qualifizieren sei. Soweit § 24 Abs 2 KBGG den Beschäftigungsbegriff des Art 1 lit a der VO definiere, sei er unionsrechtswidrig, weil er den Bezug von Krankengeld ohne parallele Entgeltfortzahlung nicht als Zeit einer Beschäftigung werte. Diese Einschränkung des nationalen Rechts sei nicht anzuwenden. Mit Einführung des § 24 Abs 3 KBGG habe der Gesetzgeber zwar eine von diesem Ergebnis abweichende Klarstellung bezweckt; das ändere aber nichts an der aufgezeigten Unionsrechtswidrigkeit.

Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil.

Es billigte die Rechtsansicht des Erstgerichts und führte aus, der hier strittige Krankengeldbezug der Klägerin sei eine Geldleistung, die unter Art 11 Abs 2 VO 883/2004 falle und daher unabhängig von der nationalen Systematik als Ausübung einer Beschäftigung zu werten sei. Der Gesetzgeber habe mit § 24 Abs 3 KBGG die Klarstellung angestrebt, dass die einer Beschäftigung gleichgestellten Situationen ausschließlich durch die nationalen Rechtsvorschriften festgelegt würden. Das Ansinnen des nationalen Gesetzgebers, eine unionsrechtliche Norm authentisch zu interpretieren, sei jedoch verfehlt; § 24 Abs 2 iVm Abs 3 KBGG widerspreche weiterhin dem Unionsrecht.

Das Berufungsgericht ließ die Revision zu, weil keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur Vereinbarkeit von § 24 Abs 3 KBGG mit dem Unionsrecht vorliege.

Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision der Beklagten, mit der sie die Abweisung des Klagebegehrens anstrebt.

Die Klägerin beteiligte sich nicht am Revisionsverfahren.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil zur Qualifikation von Zeiten des Krankengeldbezugs ohne parallele Entgeltfortzahlung zum Zweck der kollisionsrechtlichen Beurteilung (VO 883/2004) eines Anspruchs auf pauschales Kinderbetreuungsgeld seit Schaffung des § 24 Abs 3 KBGG noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung vorliegt.

Die Revision ist jedoch nicht berechtigt.

1. Aufgrund des Umstands, dass die in Slowenien wohnhafte Klägerin Leistungen aus dem österreichischen System der sozialen Sicherheit beansprucht, liegt ein grenzüberschreitender Sachverhalt vor, der den persönlichen Anwendungsbereich der VO 883/2004 eröffnet. Der strittige Anspruch ist auch vom sachlichen Anwendungsbereich der VO 883/2004 erfasst, weil das österreichische Kinderbetreuungsgeld eine zu koordinierende Familienleistung iSd Art 1 lit z und Art 3 Abs 1 lit j der VO ist (RIS-Justiz RS0122905 [T3]).

2. Art 67 VO 883/2004 sieht den Export von Familienleistungen vor. Zuständig für die Erbringung und damit auch für den Export von Familienleistungen ist jener Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften gemäß Art 11 ff der VO anwendbar sind (10 ObS 148/14h SSV-NF 29/59 = DRdA 2016/29, 259 [Rief]; 10 ObS 135/16z SSV-NF 31/15 = DRdA 2018/11, 124 [Kunz]; 10 ObS 96/17s, DRdA 2018/54, 516 [Rief]). (Nur) für den Fall, dass für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Ansprüche auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren sind, sieht Art 68 Abs 1 VO 883/2004 Prioritätsregeln vor. Die Bestimmung legt somit, um Doppelleistungen zu vermeiden, für den Fall der Kumulierung von Anspruchsberechtigungen fest, welche Staaten vorrangig zuständig sind (10 ObS 148/14h; vgl EuGH vom 7. 2. 2018, Rs C-322/17, Bogatu, Rz 24).

3. Da die Klägerin Ansprüche auf Familienleistungen gegen den österreichischen Sozialversicherungsträger geltend macht, ist zu prüfen, ob Österreich nach Art 11 VO 883/2004 – ein in Art 12 bis 16 der VO geregelter Fall liegt hier nicht vor – dafür leistungszuständig ist.

3.1. Gemäß Art 11 Abs 3 lit a VO 883/2004 unterliegt eine Person, die in einem Mitgliedstaat eine Beschäftigung ausübt, den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats. Übt eine Person keine Beschäftigung aus, so unterliegt sie gemäß Art 11 Abs 3 lit e VO 883/2004 grundsätzlich den Rechtsvorschriften des Wohnsitzmitgliedstaats.

Der Begriff der „Beschäftigung“ iSd VO 883/2004 wird in deren Art 1 lit a definiert. Beschäftigung ist demnach jede Tätigkeit oder gleichgestellte Situation, die für die Zwecke der Rechtsvorschriften der sozialen Sicherheit des Mitgliedstaats, in dem die Tätigkeit ausgeübt wird oder die gleichgestellte Situation vorliegt, als solche gilt. Damit verweist Art 1 lit a VO 883/2004 auf das Sozialrecht des betreffenden Mitgliedstaats (10 ObS 117/14z, SSV-NF 29/13 = EvBl 2016/4, 32 [Niksova] = DRdA 2016/3, 37 [Kunz] = ZAS 2016/5, 33 [Petric]).

Gleichzeitig fingiert Art 11 Abs 2 VO 883/2004 unter bestimmten Umständen eine Beschäftigung: Demnach wird bei Personen, die aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung eine Geldleistung beziehen, davon ausgegangen, dass sie diese Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben. Art 11 Abs 2 VO 883/2004 soll kurzfristige Zuständigkeitsänderungen bei vorübergehender Einstellung der Erwerbstätigkeit und kurzfristigem Bezug von Geldleistungen der sozialen Sicherheit, wie etwa Krankengeld oder Lohnfortzahlung, verhindern. In derartigen Fällen wird für die Bestimmung der Zuständigkeit davon ausgegangen, dass die Tätigkeit während des Bezugs der Leistung der sozialen Sicherheit weiter ausgeübt wird (Pöltl in Spiegel [Hrsg], Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, Art 11 VO 883/2004 Rz 7).

Für die Anwendung des Beschäftigungsbegriffs des nationalen Sozialrechts (zu diesem sogleich unten 3.2.) im Anwendungsbereich der VO 883/2004 ist zu beachten, dass die Bestimmung des Art 11 Abs 2 VO 883/2004 einen Kernbereich des unionsrechtlichen Begriffs der Beschäftigung darstellt. Beim Bezug von Leistungen, die unter Art 11 Abs 2 der VO zu subsumieren sind, ist daher unabhängig von der nationalen Systematik von der Ausübung einer Beschäftigung auszugehen (10 ObS 117/14z; 10 ObS 51/17y; 10 ObS 96/17s; Spiegel in Spiegel, Art 1 VO 883/2004 Rz 4). Hievon abgesehen, ist es den Mitgliedstaaten überlassen, den Beschäftigungsbegriff näher zu definieren (10 ObS 117/14z; 10 ObS 96/17s).

3.2. Eine solche Definition des Begriffs „Beschäftigung“ iSd Art 1 lit a VO 883/2004 ist für den Bereich des pauschalen und des einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes in § 24 Abs 2 KBGG festgelegt (RS0130043), wobei diese Definition gleichzeitig der Festlegung der Anspruchsvoraussetzungen von einkommensabhängigem Kinderbetreuungsgeld dient.

Gemäß § 24 Abs 2 KBGG in der hier anzuwendenden, für Geburten nach dem 28. 2. 2017 geltenden Fassung (BGBl I 2016/53; § 50 Abs 14 KBGG) versteht man unter Erwerbstätigkeit im Sinne dieses Bundesgesetzes „die tatsächliche Ausübung einer in Österreich sozialversicherungspflichtigen (kranken- und pensionsversicherungspflichtigen) Erwerbstätigkeit. Als der Ausübung einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit gleichgestellt gelten Zeiten der vorübergehenden Unterbrechung dieser zuvor mindestens 182 Kalendertage andauernden Erwerbstätigkeit während eines Beschäftigungsverbotes nach dem Mutterschutzgesetz 1979 (MSchG), BGBl. Nr. 221, oder gleichartigen anderen österreichischen Rechtsvorschriften, sowie Zeiten der vorübergehenden Unterbrechung dieser zuvor mindestens 182 Kalendertage andauernden Erwerbstätigkeit zum Zwecke der Kindererziehung während Inanspruchnahme einer Karenz nach dem MSchG oder Väter-Karenzgesetz (VKG), BGBl. Nr. 651/1989, oder gleichartigen anderen österreichischen Rechtsvorschriften, bis maximal zum Ablauf des zweiten Lebensjahres eines Kindes.“

Mit der Novelle BGBl I 2016/53 wurde § 24 KBGG ein dritter Absatz angefügt. Dieser lautet:

Nur bei Erfüllung des nationalen Gleichstellungserfordernisses des Abs 2 zweiter Satz liegt eine gleichgestellte Situation im Sinne des Art. 68 iVm Art. 1 lit. a der VO 883/2004 […] vor, wobei diese der Ausübung einer Erwerbstätigkeit gleichgestellte Situation für alle Eltern spätestens mit Ablauf des zweiten Lebensjahres eines Kindes endet. [...]“

3.3. Im vorliegenden Fall gehen die Parteien übereinstimmend davon aus, dass die vor der Geburt des zweiten Kindes gelegenen Zeiten der Unterbrechung der Erwerbstätigkeit der Klägerin gemäß § 24 Abs 2 KBGG als der tatsächlichen Ausübung einer in Österreich sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit gleichgestellt gelten, sofern die weitere Voraussetzung einer zuvor mindestens 182 Tage andauernden Erwerbstätigkeit erfüllt ist.

Das Arbeitsverhältnis der Klägerin war während des den Beschäftigungsverboten und der Karenz vorangegangenen Zeitraums von 182 Tagen durchgehend aufrecht. Allerdings bezog die Klägerin innerhalb dieses Zeitraums vom 24. 8. 2015 bis 10. 10. 2015 Krankengeld ohne parallele Entgeltfortzahlung durch den Arbeitgeber.

Die Qualifikation dieser Zeit des Bezugs von Krankengeld ist entscheidend für die Beurteilung, ob das Erfordernis einer 182 Kalendertage andauernden, der Unterbrechung vorangegangenen Erwerbstätigkeit erfüllt ist.

3.4. Gemäß § 11 Abs 1 ASVG erlischt die Pflichtversicherung von Dienstnehmern, wenn der Zeitpunkt, an dem der Anspruch auf Entgelt endet, nicht mit dem Zeitpunkt des Endes des Beschäftigungsverhältnisses zusammenfällt. Dies ist beim Bezug von Krankengeld ohne parallele Entgeltfortzahlung der Fall. Bezieherinnen von Krankengeld unterliegen zwar gemäß § 8 Abs 1 Z 2 ASVG einer Teilversicherung in der Pensionsversicherung, es besteht aber keine Pflichtversicherung in der Krankenversicherung.

Der Bezug von Krankengeld ohne Entgeltfortzahlung ist daher gemäß § 24 Abs 2 KBGG – sofern es um die Beurteilung der Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug einkommensabhängigen Kinderbetreuungsgeldes geht – nicht als eine der Ausübung einer Erwerbstätigkeit gleichgestellte Situation zu werten (10 ObS 117/14z; vgl RS0129362 [T1]).

3.5. Im vorliegenden Fall sind aber nicht die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Kinderbetreuungsgeld als Ersatz des Erwerbseinkommens zu beurteilen. § 24 Abs 2 KBGG ist hier vielmehr ausschließlich zur kollisionsrechtlichen Beurteilung der Leistungszuständigkeit Österreichs gemäß Art 11 VO 883/2004 heranzuziehen.

In der einen vergleichbaren Sachverhalt betreffenden, noch vor Inkrafttreten von § 24 Abs 3 KBGG ergangenen bereits mehrfach erwähnten Entscheidung 10 ObS 117/14z stellte der Oberste Gerichtshof klar, dass bei Anwendung des § 24 Abs 2 KBGG zur kollisionsrechtlichen Beurteilung auf Art 11 Abs 2 VO 883/2004 Bedacht zu nehmen ist.

Nach dieser Bestimmung wird – wie ausgeführt – bei Personen, die aufgrund oder infolge ihrer Beschäftigung eine Geldleistung beziehen, davon ausgegangen, dass sie diese Beschäftigung oder Tätigkeit ausüben, wobei dies für im Einzelnen genannte Renten oder für Geldleistungen bei Krankheit, die eine Behandlung von unbegrenzter Dauer abdecken, nicht gilt (Art 11 Abs 2 der VO). Einer der genannten Ausnahmefälle liegt hier jedoch nicht vor, soll doch das Krankengeld gemäß §§ 138 ff ASVG nicht eine Behandlung von unbegrenzter Dauer abdecken.

Ausgehend davon, dass Art 11 Abs 2 VO (EG) 883/2004 einen Kernbereich des unionsrechtlichen Begriffs der „Beschäftigung“ darstellt, kommt die Entscheidung 10 ObS 117/14z zum Ergebnis, dass für den Zweck der kollisionsrechtlichen Beurteilung der Leistungszuständigkeit für die Gewährung von Kinderbetreuungsgeld ein Bezug von Krankengeld gemäß §§ 138 ff ASVG auf jeden Fall – unabhängig von der nationalen Systematik – für die Bestimmung des anwendbaren Rechts gemäß Art 11 ff VO 883/2004 als Ausübung einer Beschäftigung gilt.

Klargestellt wird auch, dass eine unionsrechtskonforme Auslegung des § 24 Abs 2 KBGG in diesem Sinn aufgrund des eindeutigen Wortlauts der Bestimmung, die auf die tatsächliche Ausübung einer sozialversicherungspflichtigen Erwerbstätigkeit abstellt und keine Gleichstellung der Bezugszeiten von Krankengeld anordnet, ausscheidet.

Aufgrund der Verpflichtung der nationalen Gerichte, dem Unionsrecht entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet zu lassen (vgl RS0109951 [T3]), sprach der Oberste Gerichtshof in 10 ObS 117/14z aus, dass in kollisionsrechtlicher Hinsicht der Bezug von Krankengeld ohne parallele Entgeltfortzahlung als Beschäftigung iSd Art 11 Abs 2 VO 883/2004 zu qualifizieren sei und bejahte die Zuständigkeit Österreichs gemäß Art 11 Abs 3 lit a iVm Art 67 VO 883/2004 als Beschäftigerstaat für die Gewährung des Kinderbetreuungsgeldes.

3.6. Diese Rechtsprechung wurde in der Folge fortgeschrieben.

In der Entscheidung 10 ObS 51/17y wurde die Leistungszuständigkeit Österreichs für den Bezug von Kinderbetreuungsgeld in einem Fall bejaht, in dem die Antragstellerin ihre Erwerbstätigkeit in Österreich – bei durchgehend aufrechtem Dienstverhältnis – durch Zeiten des Bezugs von Weiterbildungsgeld gemäß § 26 Abs 1 AlVG (während einer Bildungskarenz gemäß § 11 AVRAG) unterbrochen hatte. Die Zeit des Bezugs des Weiterbildungsgeldes wurde im Hinblick auf die dafür erforderlichen arbeitsvertraglichen Voraussetzungen als eine Geldleistung iSd Art 11 Abs 2 VO 883/2004 qualifiziert.

3.7. Die dargestellte Rechtsprechung beruht, wie bereits ausgeführt, auf der Rechtslage vor Einführung des § 24 Abs 3 KBGG (BGBl I 2016/53).

Diese Bestimmung trat mit 1. 3. 2017 in Kraft (§ 50 Abs 15 KBGG). Mit der Schaffung des § 24 Abs 3 KBGG strebte der Gesetzgeber die Klarstellung an, dass für die Zwecke der VO 883/2004 nicht „auf europarechtliche Zuständigkeitsregeln (anwendbares Recht), sondern – europarechtskonform – auf die jeweiligen nationalen Voraussetzungen abgestellt wird“ (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP 11). Als Beispiel wird angeführt, eine Grenzgängerin, die durch einen Krankengeldbezug gemäß Art 11 Abs 2 VO 883/2004 den österreichischen Rechtsvorschriften unterliege, habe während dieses Krankengeldbezugs weiterhin Anspruch auf österreichische Familienleistungen (in voller Höhe oder als Ausgleichszahlung) für ihre mit ihr gemeinsam in einem anderen EWR-Staat lebenden Kinder. Liege die erwerbslose Zeit des Krankengeldbezugs jedoch im Sechs-Monatszeitraum vor der Geburt eines Kindes und sei die Person nach der Geburt in Karenz nach dem MSchG, so liege mangels Ausübung einer Erwerbstätigkeit und mangels Erfüllung des Gleichstellungserfordernisses keine Zuständigkeit Österreichs zur Leistung von Kinderbetreuungsgeld vor (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP 11).

3.8. In der Literatur wird die Konformität dieser Bestimmung mit dem Unionsrecht überwiegend in Zweifel gezogen.

Nach Sonntag (Unions- und verfassungsrechtliche Probleme der KBGG-Nov 2016 und des Familienzeitbonusgesetzes, ASoK 2017, 2 [4 f]) leidet auch die Bestimmung des § 24 Abs 3 KBGG unter der von der Rechtsprechung bereits zu § 24 Abs 2 KBGG aufgezeigten Unionsrechtswidrigkeit. Der nationale Gesetzgeber könne die vom Obersten Gerichtshof unionsrechtlich begründete Rechtsfolge nicht beeinflussen.

Felten (in Spiegel, Art 68 VO 883/2004 Rz 6/1) führt aus, der nationale Gesetzgeber habe zwar das Recht, die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Familienleistungen autonom festzulegen, er dürfe dabei aber keine diskriminierenden Anspruchsvoraussetzungen definieren. Genau aus diesem Grund habe der Oberste Gerichtshof eine weite Definition des Beschäftigungsbegriffs vertreten, da die in Rede stehenden Einschränkungen in erster Linie Personen benachteiligten, die von ihren Freizügigkeitsrechten Gebrauch gemacht hätten. Es müsse daher bezweifelt werden, dass § 24 Abs 3 KBGG unionsrechtskonform sei.

Auch Burger-Ehrnhofer (Kinderbetreuungsgeldgesetz und Familienzeitbonusgesetz³ [2017] § 24 Rz 17) erachtet die in § 24 Abs 2 und 3 KBGG erfolgte Beschränkung des Beschäftigungsbegriffs als zumindest unionsrechtlich bedenklich.

Lediglich Holzmann-Windhofer (in Holzmann-Windhofer/Weißenböck, Kinderbetreuungsgeldgesetz [2017] 11 f) geht unter Verweis auf die Materialien von der umfassenden Unionsrechtskonformität des § 24 Abs 3 KBGG aus.

3.9. Der Oberste Gerichtshof nahm in der Entscheidung 10 ObS 96/17s auf § 24 Abs 3 KBGG Bezug. Da der zu beurteilende Anspruchszeitraum allerdings noch vor dem Inkrafttreten von § 24 Abs 3 KBGG lag, wird lediglich der Meinungsstand zu dieser Bestimmung dargestellt.

3.10. Der Senat schließt sich den dargestellten kritischen Stimmen der Literatur an. § 24 Abs 3 KBGG ist nicht geeignet, eine aus dem im Anwendungsbereich der VO (EG) 883/2004 bestehenden Widerspruch des § 24 Abs 2 KBGG zu Art 11 Abs 2 der VO folgende Unionsrechtswidrigkeit zu beseitigen.

Daher hält der Oberste Gerichtshof an der bereits zu 10 ObS 117/14z ausführlich begründeten Beurteilung fest.

3.11. Die vom Europäischen Gerichtshof kürzliche entschiedene Rechtssache Eugen Bogatu gegen Minister for Social Protection (EuGH 7. 2. 2019, Rs C-322/17) gibt ebenfalls keinen Anlass, von der dargestellten Rechtsprechung abzugehen. Mit dieser Entscheidung wurde vielmehr (nur) klargestellt, dass Art 67 iVm Art 11 der VO 883/2004 für den Anspruch einer Person auf Familienleistungen weder verlange, dass diese Person im zuständigen Mitgliedstaat eine Beschäftigung ausübe, noch, dass sie von diesem Mitgliedstaat aufgrund oder infolge einer Beschäftigung eine Geldleistung beziehe (Rz 33). Zu der hier entscheidenden Rechtsansicht, dass der gemäß Art 1 lit a VO 883/2004 heranzuziehende Beschäftigungsbegriff des nationalen Sozialrechts die Vorgaben des Art 11 Abs 2 der VO einhalten muss, findet sich in diesem Urteil hingegen keine Stellungnahme.

4. Im Ergebnis ist daher für die kollisionsrechtliche Beurteilung gemäß Art 11 der VO die Zeit des Krankengeldbezugs der Klägerin vom 24. 8. 2015 bis zum 10. 10. 2015 als Beschäftigung iSd Art 11 Abs 2 VO 883/2004 zu qualifizieren.

In diesem Sinn erfüllt die Klägerin die Voraussetzungen des § 24 Abs 2 KBGG. Dem Beginn der Unterbrechung der Erwerbstätigkeit der Klägerin (und damit dem Beginn der „Gleichstellungskette“ [vgl Holzmann-Windhofer in Holzmann-Windhofer/Weißenböck, KBGG 154] von Zeiten des Beschäftigungsverbots und der Karenz nach dem MSchG) ist eine mindestens 182 Tage dauernde Erwerbstätigkeit im Sinn der VO 883/2004 vorangegangen, weil der Bezug des Krankengeldes kollisionsrechtlich als Ausübung einer Beschäftigung zu qualifizieren ist.

Österreich ist daher gemäß Art 11 Abs 3 lit a iVm Art 67 VO 883/2004 als Beschäftigungsstaat für die Gewährung von Familienleistungen (hier: des pauschalen Kinderbetreuungsgeldes als Konto) an die Klägerin zuständig.

Der Revision der Beklagten war daher ein Erfolg zu versagen.

Der Ausspruch über die Kosten beruht auf § 77 Abs 1 Z 1 ASGG.

Textnummer

E125653

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2019:010OBS00103.18X.0507.000

Im RIS seit

09.08.2019

Zuletzt aktualisiert am

16.09.2020
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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