TE Bvwg Erkenntnis 2019/6/6 W147 1318420-4

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 06.06.2019
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Entscheidungsdatum

06.06.2019

Norm

B-VG Art.133 Abs4
FPG §53 Abs1
FPG §53 Abs3

Spruch

W147 1318420-4/15E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Stephan KANHÄUSER als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Russische Föderation, vertreten durch ARGE Rechtsberatung Diakonie Flüchtlingsdienst gem- GmbH, 1170 Wien, Wattgasse 48/3. Stock, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 26. November 2018, Zl. 439727007 - 180293657, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird mit der Maßgabe stattgegeben, dass die Dauer des Einreiseverbotes gemäß § 53 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 3 Fremdenpolizeigesetz 2005 - FPG, BGBl. I Nr. 100/2005 in der Fassung BGBl. I Nr. 56/2018, auf fünf Jahre herabgesetzt wird. Im Übrigen wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG), BGBl. Nr. 1/1930 in der Fassung BGBl. I Nr. 164/2013, nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer, ein Staatsangehöriger der Russischen Föderation und der tschetschenischen Volksgruppe angehörig, stellte am 31. Dezember 2007 nach illegaler Einreise in das österreichische Bundesgebiet durch seine Mutter als gesetzliche Vertreterin einen Antrag auf internationalen Schutz.

2. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 5. März 2008 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz abgewiesen. Gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 AsylG iVm § 34 Abs. 3 AsylG wurde dem Beschwerdeführer subsidiärer Schutz zuerkannt und gemäß § 8 Abs. 4 und 5 AsylG eine befristete Aufenthaltsberechtigung bis zum 15. September 2008 erteilt.

3. Gegen den Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesasylamtes erhob die Mutter des Beschwerdeführers Beschwerde.

4. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 25.09.2008 wurde die befristete Aufenthaltsberechtigung des Beschwerdeführers bis zum 15.09.2009 verlängert.

5. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 6. November 2009 wurde der mit Bescheid des Bundesasylamtes zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9. Abs. 1 AsylG aberkannt und die erteilte Aufenthaltsberechtigung entzogen. Gemäß § 10 Abs. 1 AsylG wurde der Beschwerdeführer aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation ausgewiesen.

6. Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 9. April 2013, Zahl D11 318420-2/2009/16E, als unbegründet abgewiesen.

7. Am 16. Juli 2014 reiste der Beschwerdeführer gemeinsam mit seinen Eltern und seiner Schwester mittels Laissez Passer von Deutschland kommend in das Bundesgebiet ein und stellten am 17. Oktober 2014 einen Antrag auf internationalen Schutz.

8. Mit Bescheid des Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 20. Oktober 2014 wurden dem Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), dem Beschwerdeführer gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG der Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Russische Föderation nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.), ihm ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 und 55 AsylG nicht erteilt und gegen den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen. Darüber hinaus wurde gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers in die Russische Föderation zulässig sei. Die Frist für seine freiwillige Ausreise wurde gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt III.).

9. Der Beschwerdeführer zog im Rahmen der mündlichen Verhandlung nach erfolgter Rechtsbelehrung seine Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. zurück.

10. Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 23. September 2015, GZ W146 1318420-3/11, wurde der Beschwerde des Beschwerdeführers gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides stattgeben und festgestellt, dass seine Ausreise aus dem österreichischen Bundesgebiet in die Russische Föderation gemäß § 9 Abs. 1 bis 3 BFA-VG auf Dauer unzulässig sei.

Das Bundesverwaltungsgericht begründet seine Entscheidung im Wesentlichen mit dem langjährigen Aufenthalt des Beschwerdeführers und der erfolgten Integration der Familie des Beschwerdeführers.

11. Mit Urteil des XXXX vom XXXX , Zahl XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen § 107 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zwei Monaten bedingt unter Gewährung einer Probezeit von drei Jahren verurteilt.

12. Am 27. Oktober 2016 erteilte die zuständige Bezirkshauptmannschaft dem Beschwerdeführer zur Zahl XXXX eine Aufenthaltstitel "Rot-Weiß-Rot Karte-plus", welche am 27. Oktober 2017 bis zum 26. Oktober 2018 verlängert wurde.

13. Mit Urteil des XXXX vom XXXX , Zahl XXXX , wurde der Beschwerdeführer nach § 84 Abs. 4 StGB, §§ 127, 129 Abs. 1 Z 1 StGB, § 12 3. Fall StGB, § 125 StGB, § 135 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten, davon 20 Monate Freiheitsstrafe bedingt nachgesehen, verurteilt.

14. Mit Verständigung vom Ergebnis der Beweisaufnahme vom 3. Mai 2018 teilte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Bundesamt) der Beschwerdeführerin mit, dass es aufgrund seiner zwei rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilungen beabsichtige, gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und ein Einreiseverbot zu erlassen. Dem Beschwerdeführer wurde eine zweiwöchige Frist zur Stellungnahme eingeräumt.

15. Mit Stellungnahme des Beschwerdeführers vom 14. Mai 2018 führte dieser im Wesentlichen aus, dass er nach der Entlassung aus der Haft erstrebt sei, eine Arbeit aufzunehmen und im Heimatland zwar weder politisch noch strafrechtlich verfolgt werde, jedoch sich mit der Österreichischen Republik sehr verbunden fühle und von weiteren Straftaten absehen werde.

16. Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des XXXX vom XXXX , Zahl

XXXX , wegen §§ 127 und 129 Abs. 1 Z 1 StGB, § 142 Abs. 1 und Abs. 2 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von zwei Jahren verurteilt.

17. Mit dem oben im Spruch angeführten Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde gegen den Beschwerdeführer gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung erlassen (Spruchpunkt I.), gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung in die Russische Föderation gemäß § 46 FPG zulässig ist (Spruchpunkt II.), gegen den Beschwerdeführer gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von sieben Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt III.) und weiters gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA-VG einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt V.).

Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl führte darin aus, dass der Beschwerdeführer dreimal verurteilt worden sei; zuletzt sei der Beschwerdeführer mit Urteil des XXXX vom XXXX , Zahl XXXX , wegen des Vergehens des Diebstahls teils durch Einbruch nach den §§ 127 und 129 Abs. 1 Z 1 StGB und des Verbrechens des Raubes nach § 142 Abs. 1 und Abs. 2 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von zwei Jahren verurteilt worden, weswegen auch eine negative Zukunftsprognose zu erstellen sei.

Der Beschwerdeführer sei ledig und kinderlos und habe er bis zu seiner Inhaftierung mit seiner Familie in einem gemeinsamen Haushalt gelebt. Auch lasse sich eine berufliche Integration des Beschwerdeführers nicht ableiten, da er bisher lediglich 45 Tage arbeitstätig gewesen sei, sodass die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung die persönlichen Interessen des Beschwerdeführers überwiegen würde. Zum Einreiseverbot führte die belangte Behörde aus, dass sich aus dem Persönlichkeitsbild des Beschwerdeführers ableiten lasse, dass er nicht gewillt sei, sich der österreichischen Rechtsordnung zu unterwerfen, weshalb die Gefahr bestehe, dass der Beschwerdeführer weitere Straftaten verüben werde.

18. Mit Verfahrensanordnung gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG vom gleichen Tag wurde dem Beschwerdeführer für das Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht die "ARGE Rechtsberatung - Diakonie und Volkshilfe, Wattgasse 48/3. Stock, 1170 Wien" zur Seite gestellt.

19. Gegen diesen Bescheid wurde fristgerecht Beschwerde erhoben und die Erledigung in vollem Umfang wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie Verletzung von Verfahrensvorschriften in vollem Umfang angefochten. Der Beschwerdeführer monierte im Wesentlichen, dass er seit 2016 aufgrund einer FSME-Erkrankung kognitiv beeinträchtigt sei, was bei der Zumutbarkeit der Rückkehr in das Heimatland zu berücksichtigen sei. Auch sei im Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidung ein Verlängerungsverfahren des Beschwerdeführers anhängig gewesen, sodass die belangte Behörde gar keine Rückkehrentscheidung hätte fällen dürfen. Auch habe die belangte Behörde bei der Verhängung des Einreiseverbotes nicht berücksichtigt, dass sich der Beschwerdeführer reuig gezeigt habe, sich im gelockerten Vollzug befinde und nach seiner Haftentlassung Wiedereingliederungsprogramme absolvieren werde.

20. Mit einer Beschwerdeergänzung vom 2. Januar 2019 brachte der Beschwerdeführer einen psychologischen Befund einer klinischen Psychologin und Gesundheitspsychologin vom 21. Oktober 2016 in Vorlage, wonach bei dem Beschwerdeführer eine weit unterdurchschnittliche kognitive Leistungsfähigkeit diagnostiziert worden sei. Beigelegt wurde ein an die zur Aufenthaltsverlängerung zuständige Bezirkshauptmannschaft gerichtetes Schreiben vom 23. November 2018.

21. Die Beschwerdevorlage der belangten Behörde vom 3. Januar 2019 langte am 4. Januar 2019 beim Bundesverwaltungsgericht ein.

22. Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 8. Januar 2019, GZ W147 1318420-4/3Z, wurde der Beschwerde gemäß § 18 Abs. 5 BFA-VG die aufschiebende Wirkung zuerkannt.

23. Am 26. Februar 2019 langte beim Bundesverwaltungsgericht die Verständigung der zuständigen Justizanstalt über die Flucht des Beschwerdeführers vom 25. Februar 2019 ein.

24. Am 28. Februar 2019 teilte die zuständige Justizanstalt mit, dass sich der Beschwerdeführer seit 27. Februar 2019 wieder in Haft befinden würde.

25. Am 15. März 2019 fand zur Ermittlung des maßgeblichen Sachverhalts in Anwesenheit einer Dolmetscherin für die russische Sprache und im Beisein des Rechtsvertreters eine öffentliche mündliche Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht statt, in welcher der Beschwerdeführer zu seinem Privat- und Familienleben und derzeitigen Lebensumständen befragt wurde. Der Beschwerdeführer brachte in diesem Zusammenhang einen psychologischen Befund vom 13. März 2019 des psychologischen Dienstes einer Justizanstalt in Vorlage.

26. Am 3. April 2019 langte eine weitere Stellungnahme zu den eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten des Beschwerdeführers beim Bundeverwaltungsgericht ein.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger der Russischen Föderation und Angehöriger der tschetschenischen Volksgruppe. Er bekennt sich zum muslimischen Glauben.

Er stellte am 31. Dezember 2007 im Alter von neun Jahren durch seine Mutter als gesetzliche Vertreterin einen Asylerstreckungsantrag.

Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 6. November 2009 wurde der dem Beschwerdeführer zuerkannte Status des subsidiär Schutzberechtigen gemäß § 9 Abs. 1 AsylG aberkannt und die ersteilte befristete Aufenthaltsberechtigung entzogen. Der Beschwerdeführer wurde gemäß § 10 Abs. 1 AsylG aus dem österreichischen Bundesgebiet ausgewiesen. Die dagegen erhobene Beschwerde wurde mit Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 9. April 2013, Zahl: D11 318420-0/2009/16E, als unbegründet abgewiesen.

Am 17. Juli 2014 stellte der Beschwerdeführer einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, nachdem er mit seiner Familie mittels Laissez Passer aus Deutschland in das Bundesgebiet einreiste.

Mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 23. Juni 2015, Zahl: W146 1318420-3/11E, wurde der Beschwerde gegen Spruchpunkt III. des angefochtenen Bescheides, nachdem der Beschwerdeführer seine Beschwerde gegen die Spruchpunkte I. und II. im Rahmen der mündlichen Verhandlung zurückzog, stattgegeben und festgestellt, dass eine Ausreise in die Russischen Föderation auf Dauer unzulässig ist.

Der Beschwerdeführer hielt sich seit seiner erneuten Einreise im Jahre 2014 (zuerst vom 31. Dezember 2007 bis zum 6. November 2009 aufgrund seines Status als subsidiär Schutzberechtigter), danach aufgrund seines Asylantrages durchgängig rechtmäßig in Österreich auf. Zum Zeitpunkt der Einreise war er neun Jahre alt. Bis dahin wuchs er in Tschetschenien auf. Er beherrscht sowohl die russische als auch die tschetschenische Sprache.

Der Beschwerdeführer ist ledig und hat keine Sorgepflichten. Zudem leben in Österreich seine Eltern und seine Schwester. Der Beschwerdeführer hat bis zu seiner Inhaftierung bei seinen Eltern gewohnt und die Hauptschule sowie ein Polytechnikum besucht.

Der Beschwerdeführer bezog in der Zeit vom 21. November 2016 bis zum 15. Mai 2017 und in der Zeit vom 18. Januar 2018 bis zum 21. Januar 2018 Arbeitslosengeld. Vom 25. September 2017 bis zum 8. November 2017 (insgesamt 45 Tage) war der Beschwerdeführer bei einer Metallwerkstätte beschäftigt.

Mit Urteil des XXXX vom XXXX , Zahl XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen des Vergehens der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs. 1 StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe im Ausmaß von zwei Monaten unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren verurteilt.

Mit Urteil des XXXX vom XXXX , Zahl XXXX , wurde der Beschwerdeführer wegen des Verbrechens der schweren Körperverletzung nach § 84 Abs. 4 StGB, des Vergehens des Diebstahls teils durch Einbruch, teils als Beteiligter nach den §§ 127, 129 Abs. 1 Z 1 , 15 und 12 dritte Alternative StGB, des Vergehens der Sachbeschädigung nach § 125 StGB und des Vergehens der dauernden Sachentziehung nach § 28 StGB und § 19 Abs. 1 JGG zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von zwei Jahren verurteilt. 20 Monate der Freiheitsstrafe wurden unter Gewährung einer Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehen.

Der Beschwerdeführer wurde mit Urteil des XXXX vom XXXX , Zahl XXXX , wegen des Vergehens des Diebstahls teils durch Einbruch nach den §§ 127 und 129 Abs. 1 Z 1 StGB und des Verbrechens des Raubes nach § 142 Abs. 1 und Abs. 2 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von zwei Jahren verurteilt.

Der Beschwerdeführer befand sich von 12. Juli 2018 17:00 Uhr bis 13. Juli 2018 13:00 Uhr in polizeilicher Anhaltung, vom 13. Juli 2018 von 13:00 Uhr bis zum 16. Juli 2018 08:00 Uhr in Untersuchungshaft und vom 16. Juli 2018 08:00 Uhr bis zum 5. August 2018 um 08:00 Uhr in Strafhaft.

Weiters befand sich der Beschwerdeführer vom 5. August 2018 ab 8:00 Uhr bis zum 30. Oktober 2018 13:55 Uhr in Untersuchungshaft und anschließend bis zum 29. März 2019 09:00 Uhr in Strafhaft.

Der voraussichtliche Entlassungszeitpunkt des Beschwerdeführers ist mit 12. Juni 2020 08:00 Uhr datiert.

Am 25. Februar 2019 floh der Beschwerdeführer aus der Strafhaft, wurde jedoch am 27. Februar 2019 wieder in Gewahrsam genommen.

Eine hinreichende Wahrscheinlichkeit, wonach der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr ins Herkunftsland der Folter, einer unmenschlichen Bestrafung oder unmenschlichen Behandlung ausgesetzt ist, konnte nicht festgestellt werden.

Hinsichtlich der relevanten Situation in der Russischen Föderation, insbesondere Tschetschenien, wird zunächst prinzipiell auf die im Akt einliegenden und dem Beschwerdeführer in der mündlichen Beschwerdeverhandlung vorgehaltenen Länderfeststellungen verwiesen.

2. Zur aktuellen politischen und menschenrechtlichen Situation in der Russischen Föderation werden insbesondere folgende Feststellungen getroffen:

0. vergleichende Länderkundliche Analyse (VLA) i.S. §3 Abs 4a AsylG

Erläuterung

Bei der Erstellung des vorliegenden LIB wurde die im §3 Abs 4a AsylG festgeschriebene Aufgabe der Staatendokumentation zur Analyse "wesentlicher, dauerhafter Veränderungen der spezifischen, insbesondere politischen Verhältnisse, die für die Furcht vor Verfolgung maßgeblich sind", berücksichtigt. Hierbei wurden die im vorliegenden LIB verwendeten Informationen mit jenen im vorhergehenden LIB abgeglichen und auf relevante, im o.g. Gesetz definierte Verbesserungen hin untersucht.

Als den oben definierten Spezifikationen genügend eingeschätzte Verbesserungen wurden einer durch Qualitätssicherung abgesicherten Methode zur Feststellung eines tatsächlichen Vorliegens einer maßgeblichen Verbesserung zugeführt (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt II). Wurde hernach ein tatsächliches Vorliegen einer Verbesserung i.S. des Gesetzes festgestellt, erfolgte zusätzlich die Erstellung einer entsprechenden Analyse der Staatendokumentation (siehe Methodologie der Staatendokumentation, Abschnitt IV) zur betroffenen Thematik.

1. Politische Lage

Die Russische Föderation hat ca. 143 Millionen Einwohner (CIA 12.7.2018, vgl. GIZ 7.2018c). Russland ist eine Präsidialdemokratie mit föderativem Staatsaufbau. Der Präsident verfügt über weit reichende exekutive Vollmachten, insbesondere in der Außen- und Sicherheitspolitik (GIZ 7.2018a, vgl. EASO 3.2017). Er ernennt auf Vorschlag der Staatsduma den Vorsitzenden der Regierung, die stellvertretenden Vorsitzenden und die Minister und entlässt sie (GIZ 7.2018a). Wladimir Putin ist im März 2018, bei der Präsidentschaftswahl im Amt mit 76,7% bestätigt worden. Die Wahlbeteiligung lag der Nachrichtenagentur TASS zufolge bei knapp 67% und erfüllte damit nicht ganz die Erwartungen der Präsidialadministration (Standard.at 19.3.2018). Putins wohl ärgster Widersacher Alexej Nawalny durfte nicht bei der Wahl kandidieren. Er war zuvor in einem von vielen als politisch motivierten Prozess verurteilt worden und rief daraufhin zum Boykott der Abstimmung auf, um die Wahlbeteiligung zu drücken (Presse.at 19.3.2018). Oppositionelle Politiker und die Wahlbeobachtergruppe Golos hatten mehr als 2.400 Verstöße gezählt, darunter mehrfach abgegebene Stimmen und die Behinderung von Wahlbeobachtern. Wähler waren demnach auch massiv unter Druck gesetzt worden, um an der Wahl teilzunehmen. Auch die Wahlkommission wies auf mutmaßliche Manipulationen hin (Tagesschau.de 19.3.2018, FH 1.2018). Putin kann dem Ergebnis zufolge nach 18 Jahren an der Staatsspitze weitere sechs Jahre das Land führen. Gemäß der Verfassung darf er nach dem Ende seiner sechsjährigen Amtszeit nicht erneut antreten, da es eine Beschränkung auf zwei aufeinander folgende Amtszeiten gibt (Tagesschau.de 19.3.2018, vgl. OSCE/ODIHR 18.3.2018).

Die Verfassung wurde per Referendum am 12.12.1993 mit 58,4% der Stimmen angenommen. Sie garantiert die Menschen- und Bürgerrechte. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist zwar in der Verfassung verankert, jedoch verfügt der Präsident über eine Machtfülle, die ihn weitgehend unabhängig regieren lässt. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte, trägt die Verantwortung für die Innen- und Außenpolitik und kann die Gesetzentwürfe des Parlaments blockieren. Die Regierung ist dem Präsidenten untergeordnet, der den Premierminister mit Zustimmung der Staatsduma ernennt. Das Parlament - Staatsduma und Föderationsrat - ist in seinem Einfluss stark beschränkt. Der Föderationsrat ist als "obere Parlamentskammer" das Verfassungsorgan, das die Föderationssubjekte auf föderaler Ebene vertritt. Er besteht aus 178 Abgeordneten: Jedes Föderationssubjekt entsendet je einen Vertreter aus der Exekutive und Legislative in den Föderationsrat. Die Staatsduma mit 450 Sitzen wird für vier Jahre nach dem Verhältniswahlrecht auf der Basis von Parteilisten gewählt. Es gibt eine Siebenprozentklausel. Wichtige Parteien sind die regierungsnahen Einiges Russland (Jedinaja Rossija) mit 1,9 Millionen Mitgliedern und Gerechtes Russland (Spravedlivaja Rossija) mit 400.000 Mitgliedern. Die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) mit 150.000 Mitgliedern, die die Nachfolgepartei der früheren KP ist. Die Liberaldemokratische Partei (LDPR) mit 185.000 Mitgliedern, die populistisch und nationalistisch ausgerichtet ist, die Wachstumspartei (Partija Rosta), die sich zum Neoliberalismus bekennt; Jabloko, eine demokratisch-liberale Partei mit 55.000 Mitgliedern, die Patrioten Russlands (Patrioty Rossii), linkszentristisch, mit 85.000 Mitgliedern, die Partei der Volksfreiheit (PARNAS) und die demokratisch-liberale Partei mit 58.000 Mitgliedern (GIZ 7.2018a). Die Zusammensetzung der Staatsduma nach Parteimitgliedschaft gliedert sich wie folgt: Einiges Russland (339 Sitze), Kommunistische Partei Russlands (42 Sitze), Liberaldemokratische Partei Russlands (40 Sitze), Gerechtes Russland (23 Sitze), Vaterland-Partei (1 Sitz), Bürgerplattform (1 Sitz) (AA 5.2018b).

Russland ist eine Föderation, die aus 85 Föderationssubjekten (einschließlich der international umstrittenen Einordnung der Republik Krim und der Stadt föderalen Ranges, Sewastopol) mit unterschiedlichem Autonomiegrad besteht. Die Föderationssubjekte (Republiken, Autonome Gebiete, Autonome Kreise, Gebiete, Regionen und Föderale Städte) verfügen über jeweils eine eigene Legislative und Exekutive (GIZ 7.2018a, vgl. AA 5.2018b). Die Gouverneure der Föderationssubjekte werden auf Vorschlag der jeweils stärksten Fraktion der regionalen Parlamente vom Staatspräsidenten ernannt. Dabei wählt der Präsident aus einer Liste dreier vorgeschlagener Kandidaten den Gouverneur aus (GIZ 7.2018a).

Es wurden acht Föderationskreise (Nordwestrussland, Zentralrussland, Südrussland, Nordkaukasus, Wolga, Ural, Sibirien, Ferner Osten) geschaffen, denen jeweils ein Bevollmächtigter des Präsidenten vorsteht. Der Staatsrat der Gouverneure tagt unter Leitung des Präsidenten und gibt der Exekutive Empfehlungen zu aktuellen politischen Fragen und zu Gesetzesprojekten. Nach der Eingliederung der Republik Krim und der Stadt Sewastopol in die Russische Föderation wurde am 21.3.2014 der neunte Föderationskreis Krim gegründet. Die konsequente Rezentralisierung der Staatsverwaltung führt seit 2000 zu politischer und wirtschaftlicher Abhängigkeit der Regionen vom Zentrum. Diese Tendenzen wurden bei der Abschaffung der Direktwahl der Gouverneure in den Regionen und der erneuten Unterordnung der regionalen und kommunalen Machtorgane unter das föderale Zentrum ("exekutive Machtvertikale") deutlich (GIZ 7.2018a).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (5.2018b): Russische Föderation - Außen- und Europapolitik,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/aussenpolitik/laender/russischefoederation-node/russischefoederation/201534, Zugriff 1.8.2018

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CIA - Central Intelligence Agency (12.7.2018): The World Factbook, https://www.cia.gov/library/publications/the-world-factbook/geos/rs.html, Zugriff 1.8.2018

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EASO - European Asylum Support Office (3.2017): COI-Report Russian Federation - State Actors of Protection, http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1489999668_easocoi-russia-state-actors-of-protection.pdf, Zugriff 1.8.2018

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FH - Freedom House (1.2018): Freedom in the World 2017 - Russia, https://www.ecoi.net/de/dokument/1428824.html, Zugriff 1.8.2018

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018a): Russland, Geschichte und Staat, https://www.liportal.de/russland/geschichte-staat/#c17836, Zugriff 1.8.2018

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GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (7.2018c): Russland, Gesellschaft, https://www.liportal.de/russland/gesellschaft/, Zugriff 1.8.2018

-

OSCE/ODIHR - Organization for Security and Co-operation in Europe/Office for Democratic Institutions and Human Rights (18.3.2018): Russian Federation Presidential Election Observation Mission Final Report,

https://www.osce.org/odihr/elections/383577?download=true, Zugriff 29.8.2018

-

Presse.at (19.3.2018): Putin: "Das russische Volk schließt sich um Machtzentrum zusammen",

https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5391213/Putin_Das-russische-Volk-schliesst-sich-um-Machtzentrum-zusammen, Zugriff 1.8.2018

-

Standard.at (19.3.2018): Putin sichert sich vierte Amtszeit als Russlands Präsident,

https://derstandard.at/2000076383332/Putin-sichert-sich-vierte-Amtszeit-als-Praesident, Zugriff 1.8.2018

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Tagesschau.de (19.3.2018): Klarer Sieg für Putin, https://www.tagesschau.de/ausland/russland-wahl-putin-101.html, Zugriff 1.8.2018

1.1. Tschetschenien

Die Tschetschenische Republik ist eine der 22 Republiken der Russischen Föderation. Die Fläche beträgt 15.647 km2 (Rüdisser 11.2012) und laut offizieller Bevölkerungsstatistik der Russischen Föderation zum 1.1.2018 beläuft sich die Einwohnerzahl Tschetscheniens auf 1,4 Millionen (GKS 25.1.2018), wobei die offiziellen Angaben von unabhängigen Medien infrage gestellt werden. Laut Aussagen des Republiksoberhauptes Ramzan Kadyrow sollen rund 600.000 TschetschenInnen außerhalb der Region leben, die eine Hälfte davon in der Russischen Föderation, die andere Hälfte im Ausland. Experten zufolge hat die Hälfte Tschetschenien während der Kriege nach dem Zerfall der Sowjetunion verlassen, bei der anderen Hälfte handle es sich um Siedlungsgebiete außerhalb Tschetscheniens, die bereits vor über einem Jahrhundert entstanden seien, teilweise durch Migration aus dem Russischen in das Osmanische Reich, und zwar über Anatolien bis in den arabischen Raum (ÖB Moskau 12.2017). In Bezug auf Fläche und Einwohnerzahl ist Tschetschenien somit mit der Steiermark vergleichbar. Etwa die Hälfte des tschetschenischen Territoriums besteht aus Ebenen im Norden und Zentrum der Republik.

Heutzutage ist die Republik eine nahezu monoethnische: 95,3% der Bewohner/innen Tschetscheniens gaben [bei der letzten Volkszählung] 2010 an, ethnische Tschetschenen/innen zu sein. Der Anteil ethnischer Russen/innen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,9%. Rund 1% sind ethnische Kumyk/innen, des Weiteren leben einige Awar/innen, Nogaier/innen, Tabasar/innen, Türk/innen, Inguschet/innen und Tatar/innen in der Republik (Rüdisser 11.2012).

In Tschetschenien gilt Ramzan Kadyrow als Garant Moskaus für Stabilität. Mit Duldung der russischen Staatsführung hat er in der Republik ein autoritäres Herrschaftssystem geschaffen, das vollkommen auf seine eigene Person ausgerichtet ist und weitgehend außerhalb des föderalen Rechtsrahmens funktioniert (ÖB Moskau 12.2017, vgl. AA 21.5.2018). So musste im Mai 2016 der Vorsitzende des Obersten Gerichts Tschetscheniens nach Kritik von Kadyrow zurücktreten, obwohl die Ernennung/Entlassung der Richter grundsätzlich in föderale Kompetenz fällt. Fraglich bleibt auch die föderale Kontrolle über die tschetschenischen Sicherheitskräfte, deren faktische Loyalität vorrangig dem Oberhaupt der Republik gilt. Im Juni 2016 beschloss das tschetschenische Parlament die vorzeitige Selbstauflösung, um vorgezogene Neuwahlen parallel zu den Wahlen zum Oberhaupt der Republik durchzuführen. Bei den Wahlen vom 18.9.2016 lag die Wahlbeteiligung in Tschetschenien weit über dem landesweiten Durchschnitt. Kadyrow wurde laut offiziellen Angaben bei hoher Wahlbeteiligung mit überwältigender Mehrheit für eine weitere Amtszeit von fünf Jahren gewählt. Unabhängige Medien berichteten über Unregelmäßigen bei den Wahlen, in deren Vorfeld Human Rights Watch über massive Druckausübung auf Kritiker des derzeitigen Machthabers berichtet hatte. Das tschetschenische Oberhaupt bekundet immer wieder seine absolute Loyalität gegenüber dem Kreml (ÖB Moskau 12.2017). Vertreter russischer und internationaler NGOs berichten immer wieder von Gewalt und Menschenrechtsverletzungen, einem Klima der Angst und Einschüchterung (AA 21.5.2018). Gegen vermeintliche Extremisten und deren Angehörige, aber auch gegen politische Gegner, wird rigoros vorgegangen. Anfang 2016 sorgte Kadyrow landesweit für Aufregung, als er die liberale Opposition in Moskau als Staatsfeinde bezeichnete, die danach trachteten, Russland zu zerstören. Nachdem er dafür von Menschenrechtsaktivisten sowie von Vertretern des präsidentiellen Menschenrechtsrats scharf kritisiert worden war, wurde in Grozny eine Massendemonstration zur Unterstützung Kadyrows organisiert (ÖB Moskau 12.2017).

Während der mittlerweile über zehn Jahre dauernden Herrschaft des amtierenden Republikführers Ramzan Kadyrow gestaltete sich Tschetscheniens Verhältnis zur Russischen Föderation ambivalent. Einerseits ist Kadyrow bemüht, die Zugehörigkeit der Republik zu Russland mit Nachdruck zu bekunden, tschetschenischen Nationalismus mit russischem Patriotismus zu verbinden, Russlands Präsidenten in der tschetschenischen Hauptstadt Grozny als Staatsikone auszustellen und sich als "Fußsoldat Putins" zu präsentieren. Andererseits hat er das Föderationssubjekt Tschetschenien so weit in einen Privatstaat verwandelt, dass in der Umgebung des russischen Präsidenten die Frage gestellt wird, inwieweit sich die von Wladimir Putin ausgebaute föderale Machtvertikale dorthin erstreckt. Zu Kadyrows Eigenmächtigkeit gehört auch eine Außenpolitik, die sich vor allem an den Mittleren Osten und die gesamte islamische Welt richtet. Kein anderer regionaler Führer beansprucht eine vergleichbare, über sein eigenes Verwaltungsgebiet und die Grenzen Russlands hinausreichende Rolle. Kadyrow inszeniert Tschetschenien als Anwalt eines russländischen Vielvölker-Zusammenhalts, ist aber längst zum "inneren Ausland" Russlands geworden. Deutlichster Ausdruck dieser Entwicklung ist ein eigener Rechtszustand, in dem islamische und gewohnheitsrechtliche Regelungssysteme sowie die Willkür

des Republikführers in Widerspruch zur Gesetzgebung Russlands geraten (SWP 3.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-

GKS - Staatliches Statistikamt (25.1.2018): Bevölkerungsverteilung zum 1.1.2018,

http://www.gks.ru/free_doc/new_site/population/demo/PrPopul2018.xlsx, Zugriff 1.8.2018

-

ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

-

Rüdisser, V. (11.2012): Russische Föderation/Tschetschenische Republik. In: Länderinformation n°15, Österreichischer Integrationsfonds,

http://www.integrationsfonds.at/themen/publikationen/oeif-laenderinformation/, Zugriff 1.8.2018

-

SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (3.2018): Tschetscheniens Stellung in der Russischen Föderation. Ramsan Kadyrows Privatstaat und Wladimir Putins föderale Machtvertikale, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2018S01_hlb.pdf, Zugriff 1.8.2018

1.2. Dagestan

Dagestan ist mit ungefähr drei Millionen Einwohnern die größte kaukasische Teilrepublik und wegen seiner Lage am Kaspischen Meer für Russland strategisch wichtig. Dagestan ist das ethnisch vielfältigste Gebiet des Kaukasus (ACCORD 16.5.2018, vgl. IOM 6.2014). Im Unterschied zu den faktisch mono-ethnischen Republiken Tschetschenien und Inguschetien setzt sich die Bevölkerung Dagestans aus einer Vielzahl von Ethnien zusammen. In der Republik gibt es 60 verschiedene Nationalitäten, einschließlich der Vertreter der 30 alteingesessenen Ethnien. Alle sprechen unterschiedliche Sprachen. Dieser Umstand legt die Vielzahl der in Dagestan wirkenden Kräfte fest, begründet die Notwendigkeit eines Interessenausgleichs bei der Lösung entstehender Konflikte und stellt ein Hindernis für eine starke autoritäre Zentralmacht in der Republik dar. Allerdings findet dieser "Interessenausgleich" traditionellerweise nicht auf dem rechtlichen Wege statt, was in Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Clans münden kann (IOM 6.2014).

Dagestan ist hinsichtlich persönlicher Freiheiten besser gestellt als Tschetschenien, bleibt allerdings eine der ärmsten Regionen Russlands, in der die Sicherheitslage zwar angespannt ist, sich in jüngerer Zeit aber verbessert hat. War die weit überwiegende Anzahl von Gewaltopfern bei Auseinandersetzungen zwischen "Aufständischen" und Sicherheitskräften in den Jahren 2015 und 2016 in Dagestan zu verzeichnen, hat die Gewalt in den letzten Jahren abgenommen (AA 21.5.2018). Gründe für den Rückgang der Gewalt sind die konsequente Politik der Repression radikaler Elemente und das rigide Vorgehen der Sicherheitskräfte, aber auch die Abwanderung islamistischer Kämpfer in die Kampfgebiete in Syrien und in den Irak (ÖB Moskau 12.2017).

Was das politische Klima betrifft, gilt die Republik Dagestan im Vergleich zu Tschetschenien noch als relativ liberal. Die Zivilgesellschaft ist hier stärker vertreten als in Tschetschenien. Ebenso existiert - anders als in der Nachbarrepublik - zumindest eine begrenzte Pressefreiheit. Die ethnische Diversität stützt ein gewisses Maß an politischem Pluralismus und steht autokratischen Herrschaftsverhältnissen entgegen. Im Jahr 2006 wurde Muchu Alijew vom Kreml als Präsident an die Spitze der Republik gesetzt. 2013 wurde er von Magomedsalam Magomedow ersetzt. Magomedow war vor allem mit Korruption und Vetternwirtschaft konfrontiert, die auch sein Vorgänger nicht lösen konnte. Anfang 2013 ersetzte der Kreml Magomedow durch Ramzan Abdulatipow, den in Moskau wohl bekanntesten Dagestaner. Abdulatipow galt dort als Experte für interethnische Beziehungen und religiöse Konflikte im Nordkaukasus. Abdulatipows Kampf gegen Korruption und Nepotismus führte zwar zum Austausch von Personal, doch die Strukturen, die dem Problem zugrunde liegen, wurden kaum angetastet. Es war auch nicht zu erwarten, dass sich ein Phänomen wie das Clan- und Seilschaftsprinzip, das für Dagestan so grundlegende gesellschaftlich-politische Bedeutung hat, ohne weiteres würde überwinden lassen. Dieses Prinzip wird nicht nur durch ethnische, sondern auch durch viele andere Zuordnungs- und Gemeinschaftskriterien bestimmt und prägt Politik wie Geschäftsleben der Republik auf entscheidende Weise. Zudem blieb der Kampf gegen den bewaffneten Untergrund oberste Priorität, was reformpolitische Programme in den Hintergrund rückte. Dabei zeugt die Praxis der Anti-Terror-Operationen in der Ära Abdulatipow von einer deutlichen Stärkung der "Siloviki", das heißt des Sicherheitspersonals. Zur Bekämpfung der Rebellen setzt der Sicherheitsapparat alte Methoden ein. Wie in Tschetschenien werden die Häuser von Verwandten der Untergrundkämpfer gesprengt, und verhaftete "Terrorverdächtige" können kaum ein faires Gerichtsverfahren erwarten. Auf Beschwerden von Bürgern über Willkür und Straflosigkeit der Sicherheitskräfte reagierte Abdulatipow mit dem Argument, Dagestan müsse sich "reinigen", was ein hohes Maß an Geduld erfordere (SWP 4.2015). Im Herbst 2017 setzte Präsident Putin ein neues Republiksoberhaupt ein. Mit dem Fraktionsvorsitzenden der Staatspartei Einiges Russland in der Staatsduma und ehemaligen hohen Polizeifunktionär Wladimir Wassiljew schreckte der Kreml die lokalen Eliten auf. Wassiljew ist keiner von ihnen, er war mit Blick auf das zuvor behutsam gepflegte Gleichgewicht der Ethnien wie eine Faust aufs Auge. Der Kreml hatte länger schon damit begonnen, ortsfremde Funktionäre in die Regionen zu entsenden. Im Nordkaukasus hatte er davon Abstand genommen. Immerhin dürfte Wassiljew für ethnische Fragen ein gewisses Gespür mitbringen. Er ist selbst halb Kasache, halb Russe. Wassiljew ist das Gegenmodell zu Kadyrows ungestümer Selbstherrlichkeit. Er ist ein altgedienter Funktionär und einer, der durch den Zugriff Moskaus auf Dagestan - und nicht in Abgrenzung von der Zentralmacht - Ordnung, Sicherheit und wirtschaftliche Prosperität herstellen soll. Mit Wassiljew tritt jemand mit wirklich direktem Draht zur Zentralmacht im Nordkaukasus auf. Das könnte ihn, zumindest für einige Zeit, zum starken Mann in der ganzen Region machen. Dafür allerdings benötigt er genauso die Akzeptanz der Einheimischen (NZZ 12.2.2018).

Anfang 2018 wurden in der Hauptstadt Dagestans, Machatschkala, der damalige Regierungschef [Abdussamad Gamidow], zwei seiner Stellvertreter und ein kurz vorher abgesetzter Minister von föderalen Kräften verhaftet und nach Moskau gebracht. Ihnen wird vorgeworfen, sie hätten eine organisierte kriminelle Gruppierung gebildet zur Ausbeutung der wirtschaftlich abgeschlagenen und am stärksten von allen russischen Regionen am Tropf des Zentralstaats hängenden Nordkaukasus-Republik. Kurz vorher waren bereits der Bürgermeister von Machatschkala und der Stadtarchitekt festgenommen worden (NZZ 12.2.2018).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (21.5.2018): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Russischen Föderation

-

ACCORD (16.5.2018): Themendossier Sicherheitslage in Dagestan & Zeitachse von Angriffen,

https://www.ecoi.net/de/laender/russische-foederation/themendossiers/sicherheitslage-in-dagestan-zeitachse-von-angriffen/, Zugriff 2.8.2018

-

IOM - International Organisation of Migration (6.2014):

Länderinformationsblatt Russische Föderation

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NZZ - Neue Zürcher Zeitung (12.2.2018): Durchgreifen in Dagestan:

Moskau räumt im Nordkaukasus auf, https://www.nzz.ch/international/moskau-raeumt-im-nordkaukasus-auf-ld.1356351, Zugriff 2.8.2018

-

ÖB Moskau (12.2017): Asylländerbericht Russische Föderation

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2015): Dagestan:

Russlands schwierigste Teilrepublik, http://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/studien/2015_S08_hlb_isaeva.pdf, Zugriff 2.8.2018

2. Sicherheitslage

Wie verschiedene Anschläge mit zahlreichen Todesopfern in den letzten Jahren gezeigt haben, kann es in Russland, auch außerhalb der Kaukasus-Region, zu Anschlägen kommen. Todesopfer forderte zuletzt ein Terroranschlag in der Metro von St. Petersburg im April 2017. Die russischen Behörden halten ihre Warnung vor Anschlägen aufrecht und rufen weiterhin zu besonderer Vorsicht auf (AA 28.8.2018a, vgl. BMeiA 28.8.2018, GIZ 6.2018d). Trotz verschärfter Sicherheitsmaßnahmen kann das Risiko von Terrorakten nicht ausgeschlossen werden. Die russischen Sicherheitsbehörden weisen vor allem auf eine erhöhte Gefährdung durch Anschläge gegen öffentliche Einrichtungen und größere Menschenansammlungen hin (Untergrundbahn, Bahnhöfe und Züge, Flughäfen etc.) (EDA 28.8.2018).

Russland tritt als Protagonist internationaler Terrorismusbekämpfung auf und begründet damit seinen Militäreinsatz in Syrien. Vom Beginn des zweiten Tschetschenienkriegs 1999 bis ins Jahr 2013 sah es sich mit 75 größeren Terroranschlägen auf seinem Staatsgebiet konfrontiert, die Hunderten Zivilisten das Leben kosteten. Verantwortlich dafür war eine über Tschetschenien hinausgehende Aufstandsbewegung im Nordkaukasus. Gewaltzwischenfälle am Südrand der Russischen Föderation gingen 2014 um 46% und 2015 um weitere 51% zurück. Auch im Global Terrorism Index, der die Einwirkung des Terrorismus je nach Land misst, spiegelt sich diese Entwicklung wider. Demnach stand Russland 2011 noch an neunter Stelle hinter mittelöstlichen, afrikanischen und südasiatischen Staaten, weit vor jedem westlichen Land. Im Jahr 2016 rangierte es dagegen nur noch auf Platz 30 hinter Frankreich (Platz 29), aber vor Großbritannien (Platz 34) und den USA (Platz 36). Nach der Militärintervention in Syrien Ende September 2015 erklärte der sogenannte Islamische Staat (IS) Russland den Dschihad und übernahm die Verantwortung für den Abschuss eines russischen Passagierflugzeugs über dem Sinai mit 224 Todesopfern. Seitdem ist der Kampf gegen die Terrormiliz zu einer Parole russischer Außen- und Sicherheitspolitik geworden, auch wenn der russische Militäreinsatz in Syrien gewiss nicht nur von diesem Ziel bestimmt ist, sondern die Großmachtrolle Russlands im Mittleren Osten stärken soll. Moskau appelliert beim Thema Terrorbekämpfung an die internationale Kooperation (SWP 4.2017).

Eine weitere Tätergruppe rückt in Russland ins Zentrum der Medienaufmerksamkeit, nämlich Islamisten aus Zentralasien. Die Zahl der Zentralasiaten, die beim sogenannten IS kämpfen, wird auf einige tausend geschätzt (Deutschlandfunk 28.6.2017).

Quellen:

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AA - Auswärtiges Amt (28.8.2018a): Russische Föderation: Reise- und Sicherheitshinweise,

https://www.auswaertiges-amt.de/de/russischefoederationsicherheit/201536#content_0, Zugriff 28.8.2018

-

BmeiA (28.8.2018): Reiseinformation Russische Föderation, https://www.bmeia.gv.at/reise-aufenthalt/reiseinformation/land/russische-foederation/, Zugriff 28.8.2018

-

Deutschlandfunk (28.6.2017): Anti-Terrorkampf in Dagestan. Russische Methoden,

https://www.deutschlandfunk.de/anti-terrorkampf-in-dagestan-russische-methoden.724.de.html?dram:article_id=389824, Zugriff 29.8.2018

-

EDA - Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten (28.8.2018): Reisehinweise für Russland, https://www.eda.admin.ch/eda/de/home/vertretungen-und-reisehinweise/russland/reisehinweise-fuerrussland.html, Zugriff 28.8.2018

-

GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GmbH (6.2018d): Russland, Alltag,

https://www.liportal.de/russland/alltag/#c18170, Zugriff 28.8.2018

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SWP - Stiftung Wissenschaft und Politik (4.2017): Russland und der Nordkaukasus im Umfeld des globalen Jihadismus, https://www.swp-berlin.org/fileadmin/contents/products/aktuell/2017A23_hlb.pdf, Zugriff 28.8.2018

2.1. Nordkaukasus

Die Menschenrechtsorganisation Memorial beschreibt in ihrem Bericht über den Nordkaukasus vom Sommer 2016 eindrücklich, dass die Sicherheitslage für gewöhnliche Bürger zwar stabil ist, Aufständische einerseits und Kritiker der bestehenden Systeme sowie Meinungs- und Menschenrechtsaktivisten andererseits weiterhin repressiven Maßnahmen und Gewalt bis hin zum Tod ausgesetzt sind (AA 21.5.2018). In internationalen sicherheitspolitischen Quellen wird die Lage im Nordkaukasus mit dem Begriff "low level insurgency" umschrieben (SWP 4.2017).

Das Kaukasus-Emirat, das seit 2007 den islamistischen Untergrundkampf im Nordkaukasus koordiniert, ist seit Ende 2014 durch das Überlaufen einiger Feldkommandeure zum sogenannten IS von Spaltungstendenzen erschüttert und geschwächt. Der IS verstärkte 2015 seine russischsprachige Propaganda in Internet-Foren wie Furat Media, ohne dass die Behörden laut Novaya Gazeta diesem Treiben große A

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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