TE Vwgh Erkenntnis 2019/7/15 Ra 2017/11/0240

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Veröffentlicht am 15.07.2019
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Index

10/07 Verwaltungsgerichtshof
19/05 Menschenrechte
40/01 Verwaltungsverfahren
68/02 Sonstiges Sozialrecht

Norm

AVG §52
BBG 1990 §40 Abs1
BBG 1990 §42
BBG 1990 §45
MRK Art6
VwGG §42 Abs1 Z1
VwGVG 2014 §24
VwGVG 2014 §24 Abs4

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Rigler und den Hofrat Dr. Schick sowie die Hofrätin Dr. Pollak als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Soyer, über die Revision der Nadine D F in I, vertreten durch Mag. Christoph Arnold und Mag. Fiona Kathrin Arnold, Rechtsanwälte in 6020 Innsbruck, Stafflerstraße 2/EG, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Juli 2017, Zl. I407 2136371-1/3E, betreffend Ausstellung eines Behindertenpasses (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Sozialministeriumservice Landesstelle Tirol), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Begründung

1 Mit Bescheid vom 22. August 2016 wies die belangte Behörde einen am 18. Juli 2016 eingelangten Antrag der Revisionswerberin auf Ausstellung eines Behindertenpasses ab, da der Grad der Behinderung lediglich 10% betrage.

2 Mit dem angefochtenen, ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung ergangenen Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts wurde die gegen den Bescheid der belangten Behörde erhobene Beschwerde abgewiesen. Unter einem wurde gemäß § 25a VwGG ausgesprochen, dass die Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG unzulässig sei.

3 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vom Verwaltungsgericht gemeinsam mit den Akten des Verfahrens vorgelegte (außerordentliche) Revision.

4 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in dem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

5 Die Revision ist zulässig, weil das Verwaltungsgericht entgegen der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen hat.

6 Die Revision ist auch begründet.

7 Das Verwaltungsgericht begründete sein Erkenntnis nach

Wiedergabe des von der belangten Behörde eingeholten Gutachtens im Wesentlichen damit, die Feststellung des Grades der Behinderung der Revisionswerberin folge der "aktenmäßigen Einschätzung" des Gesundheitszustandes der Revisionswerberin durch den von der Behörde bestellten Gutachter. Die in der Beschwerde vorgebrachten Leiden und Befunde seien bereits in diesem Gutachten ausführlich berücksichtigt worden.

Eine Verhandlung habe im Hinblick auf die Judikatur des EGMR wegen der "technischen Natur" des Sachverhalts, welcher durch das von der belangten Behörde eingeholte Gutachten geklärt sei, unterbleiben können.

8 Die Revision rügt unter anderem das Unterbleiben der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht.

9 Der Verwaltungsgerichtshof betont in ständiger Rechtsprechung, dass die Einschätzung des Grades der Behinderung aufgrund eines medizinischen Sachverständigengutachtens keine Frage bloß technischer Natur ist und dass wegen des für die Entscheidungsfindung wesentlichen persönlichen Eindrucks von der Person des Antragstellers grundsätzlich die Durchführung einer mündlichen Verhandlung geboten ist (vgl. VwGH 8.7.2015, Ra 2015/11/0036; 21.4.2016, Ra 2016/11/0018; 25.5.2016, Ra 2016/11/0057; 16.8.2016, Ra 2016/11/0013; 21.6.2017, Ra 2017/11/0040; 28.3.2018, Ra 2016/11/0085, 0086). 10 Schon weil in der Beschwerde mit einer beigelegten ärztlichen Bestätigung vom 9. September 2016 untermauert vorgebracht wurde, dass die Revisionswerberin - anders als im von der belangten Behörde eingeholten Gutachten ausgeführt - definitiv (auch) an Zöliakie (Marsh Typ I) leide, konnte das Verwaltungsgericht vor dem Hintergrund von Pkt. 07.04.05 der Anlage zur Einschätzungsverordnung nicht davon ausgehen, dass der entscheidungserhebliche Sachverhalt geklärt war und eine mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten ließ. Die Voraussetzungen für das Absehen von der Durchführung der beantragten Verhandlung nach § 24 Abs. 4 VwGVG lagen demnach nicht vor (vgl. etwa VwGH 25.2.2019, Ra 2018/08/0251).

11 Da das Verwaltungsgericht die Rechtslage bezüglich des Erfordernisses der Durchführung einer mündlichen Verhandlung verkannt hat, war das angefochtene Erkenntnis gemäß § 42 Abs. 1 VwGG aufzuheben, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen eingegangen zu werden brauchte.

Wien, am 15. Juli 2019

Schlagworte

Sachverständiger Erfordernis der Beiziehung Arzt

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RA2017110240.L00

Im RIS seit

13.08.2019

Zuletzt aktualisiert am

13.08.2019
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
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