Entscheidungsdatum
18.04.2019Norm
AsylG 2005 §3 Abs1Spruch
W187 2176442-1/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Hubert REISNER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehörigkeit Afghanistan, vertreten durch die ARGE Rechtsberatung, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , XXXX nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs 1 und 4 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt.
Gemäß § 3 Abs 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.
B)
Die Revision ist gemäß Art 133 Abs 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer reiste schlepperunterstützt unter Umgehung der Einreisebestimmungen in das Bundesgebiet ein und stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz.
Der Beschwerdeführer wurde am XXXX im Rahmen einer Erstbefragung von einem Organwalter des öffentlichen Sicherheitsdienstes im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu zu seiner Identität, seiner Reiseroute und seinen Fluchtgründen einvernommen. Hier gab er an, am XXXX in XXXX , Afghanistan, geboren zu sein, der Volksgruppe der Paschtunen anzugehören und sunnitischer Moslem zu sein. Als Beweggrund für seine Ausreise führte er an, dass sein Vater und sein Bruder im Zuge von Grundstücksstreitigkeiten getötet worden seien. Da auch sein Leben in Gefahr gewesen sei, sei er geflüchtet.
2. Der Beschwerdeführer wurde einer Altersfeststellung unterzogen, deren Ergebnis als "fiktives" Geburtsdatum den XXXX und somit die Volljährigkeit des Beschwerdeführers im Zeitpunkt der Asylantragstellung feststellte. Das Ergebnis der Altersfeststellung wurde dem Beschwerdeführer schriftlich mit der Möglichkeit zur Stellungnahme zur Kenntnis gebracht.
3. Am XXXX wurde der Beschwerdeführer vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Paschtu niederschriftlich zu seinem Antrag auf internationalen Schutz einvernommen. Als Fluchtgrund führte er (auf das Wesentliche zusammengefasst) an, dass sein Bruder den Sohn einer anderen Familie im Zuge von Grundstücksstreitigkeiten erschossen habe, woraufhin sowohl der Bruder als auch der Vater des Beschwerdeführers von der Gegenseite erschossen worden seien. Nach deren Tod sei auch der Beschwerdeführer mit dem Umbringen bedroht worden, da die gegnerische Familie mit Schwierigkeiten seitens des Beschwerdeführers gerechnet habe, sobald dieser erwachsen sei.
4. Mit dem angefochtenen Bescheid wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt I.) sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs 1 iVm § 2 Abs 1 Z 13 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) abgewiesen. Ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen wurde dem Beschwerdeführer gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt. Gegen den Beschwerdeführer wurde gemäß § 10 Abs 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Afghanistan gemäß § 46 FPG zulässig sei (Spruchpunkt III.). Unter Spruchpunkt IV. wurde die Frist für die freiwillige Ausreise gemäß § 55 Abs 1 bis 3 FPG mit 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgesetzt.
5. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer, unterstützt durch den amtswegig beigegebenen und im Spruch ausgewiesenen Rechtsvertreter, fristgerecht vollumfängliche Beschwerde wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit infolge unrichtiger rechtlicher Beurteilung sowie der Verletzung von Verfahrensvorschriften. Gemeinsam mit der Beschwerde wurde eine ACCORD-Anfragebeantwortung zur Sicherheitslage in der Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers vom 14.9.2016 vorgelegt.
6. Das BFA legte die Beschwerde und den Akt des Verwaltungsverfahrens dem Bundesverwaltungsgericht zur Entscheidung vor und erklärte unter einem, auf die Durchführung und Teilnahme an einer mündlichen Beschwerdeverhandlung zu verzichten.
7. Mit Eingabe vom XXXX legte der Beschwerdeführer weitere Integrationsunterlagen vor.
8. Mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung wurden den Parteien einschlägige Länderinformationen zu Afghanistan übermittelt.
9. Am XXXX fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche mündliche Verhandlung statt, im Zuge derer der Beschwerdeführer im Beisein des ausgewiesenen Rechtsvertreters und einer Dolmetscherin für die Sprache Paschtu vom erkennenden Richter zu seinem Antrag auf internationalen Schutz und seinen Beschwerdegründen einvernommen wurde. Die belangte Behörde verzichtete schriftlich auf die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung.
Die Verhandlungsschrift lautet auszugsweise:
"[...]
Richter: Verstehen Sie die Dolmetscherin gut?
Beschwerdeführer: Ja.
Richter: Sind Sie psychisch und physisch in der Lage, der heute stattfindenden mündlichen Verhandlung zu folgen? Liegen Gründe vor, die Sie daran hindern?
Beschwerdeführer: Ja.
Richter: Nehmen Sie regelmäßig Medikamente, befinden Sie sich in medizinischer Behandlung?
Beschwerdeführer: Nein.
[...]
Richter: Können Sie sich an Ihre Aussage vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erinnern? Waren diese richtig, vollständig und wahrheitsgetreu?
Beschwerdeführer: Ja.
Richter: Geben Sie Ihr Geburtsdatum an. Wo sind Sie auf die Welt gekommen?
Beschwerdeführer: Ich bin im Dorf XXXX im Distrikt XXXX in der Provinz Nangahar am XXXX geboren.
Richter: Welche Sprachen sprechen Sie? Können Sie diese lesen und schreiben?
Beschwerdeführer: Paschtu ist meine Muttersprache. Dari kann ich auch ein wenig sprechen. Ich bin Analphabet, in diesen beiden Sprachen kann ich weder lesen noch schreiben. Ich habe ein bisschen Deutsch hier gelernt. In Deutsch kann ich auch ein wenig lesen und schreiben.
Richter: Geben Sie Ihre Volksgruppe, Religion und Ihren Familienstand an.
Beschwerdeführer: Ich bin Paschtune und sunnitischer Moslem. Ich bin verheiratet.
Richter: Haben Sie Kinder?
Beschwerdeführer: Nein.
Richter: Wo ist Ihre Ehefrau?
Beschwerdeführer: Sie ist bei ihrem Vater im Distrikt XXXX in der Provinz Nangahar.
Richter: Können Sie bitte soweit wie möglich chronologisch angeben, wann und wo Sie sich in Afghanistan aufgehalten haben.
Beschwerdeführer: Ich habe von meiner Geburt bis zu meiner Ausreise, 2015, in meinem Dorf gelebt.
Richter: Wie haben Sie in Afghanistan gewohnt?
Beschwerdeführer: Ich habe mit meiner Ehegattin gemeinsam mit meinen Eltern gewohnt. Mein Vater hat als Landwirt gearbeitet und ich habe ihm das Essen, Wasser oder Tee gebracht oder ein wenig beim Arbeiten geholfen.
Richter: Was haben Sie in Afghanistan gemacht, gearbeitet, gelernt oder etwas Anderes?
Beschwerdeführer: Ich bin zwei Jahre in die Schule gegangen. Danach bin ich in die Moschee gegangen und habe Koran lesen gelernt. Dort sind alle Landwirte. Eine Ausbildungsmöglichkeit gibt es nicht. Es gibt auch keine anderen Arbeitsmöglichkeiten.
Richter: Wo und wie leben Ihre Verwandten?
Beschwerdeführer: Meine Frau und meine Mutter leben derzeit bei meinem Schwiegervater im Distrikt XXXX .
Richter: Haben Sie Kontakt zu Ihrer Familie (Vater, Mutter, Bruder, Schwester, Onkel)?
Beschwerdeführer: Ja.
Richter: Haben Sie in Afghanistan andere Verwandte oder sonstige wichtige Kontaktpersonen und wie heißen sie? Wo leben sie? Haben Sie zu ihnen Kontakt?
Beschwerdeführer: Nein.
Richter: Wollen Ihre Eltern und Geschwister auch nach Österreich kommen?
Beschwerdeführer: Ich habe keine Geschwister. Ich habe nur eine Mutter. Ja, meine Mutter und meine Frau wollen schon, weil sie als alleinstehende Frauen dort nicht leben können.
Richter: Wie ist Ihr Leben derzeit in Österreich? Was machen Sie in Österreich?
Beschwerdeführer: Ich habe die A1 und A2- Kurse besucht. Darüber hinaus habe ich den Führerschein gemacht. Ich habe ein Jugendcolleg besucht. Ich habe einen Führerschein für die Klassen AM und B am 29.10.2018 erhalten (Der Beschwerdeführer legt den Führerschein mit der Nr. XXXX vor. Dieser wird ihm nach Einsicht zurückgegeben). Es kommen Leute in unser Heim und sie helfen uns, Deutsch zu lernen. Ich bin bemüht, einen weiteren Sprachkurs zu bekommen. Mir wurde von meinem Betreuer gesagt, dass ich warten muss, weil es sehr viele Leute in der Warteschlange gibt. Ansonsten lerne ich Deutsch, gehe Fußball spielen und verbringe die Zeit im Heim.
Richter: Haben Sie Freunde in Österreich?
Beschwerdeführer: Ja. Ich habe österreichische Freunde. Mit denen gehe ich auch Fußball spielen. Aber wir besuchen uns nicht gegenseitig zu hause.
Richter: Sind Sie Mitglied in einem Verein?
Beschwerdeführer: Nein.
Richter: Hatten Sie Probleme mit der Polizei oder einem Gericht?
Beschwerdeführer: Nein.
Richter: Wie war das mit dem Leichtfahrzeug, dass Sie ohne Führerschein gelenkt haben?
Beschwerdeführer: Mein Freund hat ein Moped gekauft. Er hat gemeint, dass man fürs Moped fahren keinen Führerschein benötigt. Deswegen bin ich mit dem Moped gefahren. Es war ein kleines Moped. Jeder sagte mir, dass es kein Problem ist, damit zu fahren.
Richter: Schildern Sie den Vorfall, der zu Ihrer Flucht geführt hat!
Beschwerdeführer: Während der Herrschaft der Taliban hat mein Vater ca. fünf Jirib (1 Jirib = 2.000 Quadratmeter) von einem Mann namens XXXX um ca. 12.000 Euro gekauft gehabt. Mein Vater und mein Bruder haben diese Grundstücke bewirtschaftet. Davon konnten wir leben. Nach dem Sturz der Taliban haben diese Grundstücke einen höheren Wert bekommen. XXXX ist zu meinem Vater gekommen und hat behauptet, dass er die Grundstücke meinem Vater nicht verkauft hätte, sondern nur verpachtet hätte. Mein Vater wäre nur sein Landwirt. Mein Vater hat ihm aber gesagt, dass er "den Kaufvertrag mit seiner Unterschrift" hat. XXXX ist weggegangen. Nach drei Monaten ist er zurückgekommen und hat gesagt, dass die Frist vorbei ist und mein Vater soll die Grundstücke einfach verlassen. Er hatte Macht. Wir konnten gegen ihn nichts unternehmen. Mein Vater hat sich an die Dorfältesten gewandt. Wir wollten eine Jirga einberufen und dieser Jirga den Kaufvertrag mit seiner Unterschrift zeigen und damit beweisen, dass diese Grundstücke uns gehören. Wir haben zu XXXX die Ältesten geschickt, die "Jirgas". Er hat das aber nicht akzeptiert. Er ist eine mächtige Person, sowohl bei den Taliban als auch bei der Regierung hat er seine Kontaktpersonen, seine Leute. Wir selbst konnten nichts unternehmen und wir haben uns auf die Jirga verlassen. Die Jirga hat uns beruhigt und gesagt, dass die Grundstücke uns gehören. Wir müssen nur ein bisschen warten. XXXX würde uns unsere Grundstücke geben. Nach ein paar Tagen hat XXXX unsere Grundstücke ummauert. Wir haben uns wieder an die Jirga gewandt und von dem Vorfall geschildert und gefragt, was wir jetzt machen sollen. Die Jirga hat uns gesagt, dass diese Person eine mächtige Person ist und sie auch gegen ihn nichts unternehmen können. Wir müssen einfach warten. Mein Bruder ärgerte sich und hat gesagt, dass wir die Grundstücke gekauft haben, dafür auch bezahlt haben und so viel Zeit vergangen ist. Er hat gemeint, dass er hingehen wird und die Mauer zerstören wird. Mein Vater hat versucht, meinen Bruder daran zu hindern, weil er Angst um meinen Bruder hatte und ihm gesagt hat, dass XXXX eine mächtige Person sei. Mein Vater konnte aber meinen Bruder davon nicht abhalten. Deswegen hat auch mein Vater ihn begleitet, damit mein Bruder nichts Falsches macht. Mein Bruder hat für die eigene Verteidigung seine Pistole mitgenommen und er wollte die Mauer zerstören. Als mein Bruder versucht hat, die Mauer zu zerstören, waren dort die Leute von XXXX . Sie haben ihn angerufen und ihm mitgeteilt, dass mein Bruder die Mauer zerstören möchte. XXXX ist mit seinen zwei Söhnen und zwei weiteren Unterstützern mit Waffen gekommen. Sie haben begonnen, mit meinem Bruder und meinem Vater zu streiten. Sie waren viele und mein Bruder und mein Vater waren zu zweit. Mein Bruder hat vor Angst geschossen und dadurch ist der Sohn von XXXX getroffen und getötet worden. Sie waren stärker oder mächtiger. Sie haben auf der Stelle meinen Bruder und meinen Vater erschossen (Der Beschwerdeführer ersucht um eine kurze Unterbrechung der Verhandlung). Meine Mutter und die Dorfbewohner wollten die Leichen von meinem Vater und meinem Bruder zum Bezirksamt bringen, um gegen XXXX Anzeige zu erstatten. XXXX hatte auch im Bezirk seine Leute gehabt. Als meine Mutter die Anzeige erstatten wollte, wurde vom Bezirksamtsmitarbeiter meine Mutter und den Dorfbewohnern gesagt, dass mein Vater und mein Bruder Taliban seien. Wir konnten dort nichts mehr machen. Sie haben so viel Macht gehabt, dass sie zwei Leute von uns umgebracht haben. Dann haben sie diese auch noch als Taliban bezeichnet. Nach dem Begräbnis sind die Angehörigen der afghanischen Streitkräfte drei Tage danach zu unserem Haus gekommen. Diese sind bestimmt von XXXX bestochen worden, ansonsten wären sie nicht zu uns gekommen. Zu dieser Zeit habe ich mich zusammen mit meiner Mutter und meiner Ehegattin bei meinem Schwiegervater versteckt. Die Angehörigen der Streitkräfte haben eine Razzia durchgeführt. Anschließend haben sie unser Haus angezündet und gesagt, dass die Taliban sich in diesem Haus aufhalten. Sie wollten auch mich nicht am Leben lassen, weil sie sich sicher waren, wenn ich einmal erwachsen bin, werde ich dafür sorgen, dass ich die Grundstücke bekomme. Das sage ich auch aus diesem Grund, weil sie meinen Vater und meinen Bruder nicht am Leben ließen. Sie hätten auch mich umgebracht. Darüber hinaus haben sie aufgrund der Paschtunwali die Gedanken gehabt, dass ich mich eines Tages an ihnen aufgrund der Blutrache rächen werde (Die D verweist auf das Gutachten, das sie im Jahr 2009 für den Asylgerichtshof erstattet hat). Sie haben mich gesucht und ich habe mich bei meinem Schwiegervater versteckt gehalten. Mein Schwager hat mir gesagt, dass ich auch in XXXX gesucht werde. Dieser Schwager hat mir gesagt, dass sie mich zwar schützen werden, aber die Gefahr besteht, dass er oder seine Leute mich umbringen werden. Er hat wegen seiner Schwester diese Sorgen gehabt. Mein Schwager hat mir gesagt, dass es besser ist, dass ich auch ihr Haus verlasse. Mein Schwager hat dann durch einen Schlepper meine Ausreise organisiert.
Richter: Sie sagen, dass Sie erst dann eine Bedrohung dargestellt hätten, wenn Sie erwachsen gewesen wären. Sie haben vorhin gesagt, dass Sie verheiratet sind. Waren Sie noch nicht erwachsen, als Sie geheiratet haben?
Beschwerdeführer: Ich war ca. 16 oder 17 Jahre alt, als ich geheiratet habe. Das machen die Eltern. Das ist auch dort so üblich. Diese Personen sind sehr mächtig und haben viel Macht. Mein Vater konnte gegen sie nichts unternehmen. Was kann ich schon gegen sie unternehmen?
Richter: Sind Sie jemals persönlich bedroht oder angegriffen worden?
Beschwerdeführer: Nach dem Tod meines Vaters und meines Bruders habe ich die Gefahr gespürt und habe mich bei meinem Schwiegervater versteckt gehalten. Was könnte eine größere Gefahr sein, als dass sie meinen Vater und meinen Bruder umgebracht haben? Wenn ich ihnen begegnet wäre, hätten sie mich auch erschossen.
Richter: Wer hat die Reise nach Österreich bezahlt?
Beschwerdeführer: Mein Schwager hat unseren Traktor und den Schmuck meiner Frau verkauft. Das restliche Geld habe ich von ihm ausgeborgt.
Richter: Schildern Sie bitte nochmals die Gründe Ihrer Beschwerde!
Beschwerdeführer: Ich habe in meiner Beschwerde geschrieben, dass dort für mein Leben Gefahr besteht. Wenn ich in Afghanistan bin, wird er mich umbringen. Ich bin nach Österreich gekommen, um geschützt zu werden. Hier habe ich einen Antrag auf Asyl gestellt und möchte hier mir ein Leben aufbauen. Ich möchte hier ein gutes Leben verbringen.
Richter: Was würde passieren, wenn Sie jetzt nach Afghanistan zurückkehren müssten?
Beschwerdeführer: Ich kann nicht. Sie werden mich umbringen.
Rechtsvertreter: Zum Protokoll aus dem Bescheid, Seite 11: Da haben Sie erwähnt, dass XXXX einflussreich war und das Militär bestochen hat und vermutlich auch eine Anzeige gemacht hat, sodass der afghanische Staat der Meinung war, dass Sie Talibanangehöriger sind. Glauben Sie, dass Sie aus diesem Grund weiterhin bedroht und verfolgt werden im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat?
Beschwerdeführer: Ja, sicher.
Rechtsvertreter: Würde das ganz speziell in Ihrem Fall eine Rolle spielen, weil Sie der einzige Mann in der Familie wären?
Beschwerdeführer: Ja. Es besteht die Gefahr für mich von allen drei
Seiten: Erstens, die afghanischen Streitkräfte, die von XXXX bestochen wurden und unser Haus angezündet haben, 2. von XXXX und 3. von den Taliban, weil dieser XXXX vorher ein Talib war. Wenn ich nicht mehr am Leben bin, wird das selbstverständlich einen negativen Einfluss auf meine Mutter und meine Frau haben. Unter den Paschtunen ist es nicht üblich, dass man Frauen angreift.
[...]
Richter: Haben Sie die Dolmetscherin gut verstanden?
Beschwerdeführer: Ja."
Im Rahmen der mündlichen Verhandlung wurde auf das Gutachten von Mag. Zerka MALYAR zu Blutrache und Ehrenmord in Afghanistan vom 27.7.2009, erstattet vor dem Asylgerichtshof, hg zitiert im Erkenntnis W174 1436214-1 vom 21.1.2016, verwiesen.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen
Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den dem Bundesverwaltungsgericht vorliegenden Verwaltungsakt des BFA und den Akt des Bundesverwaltungsgerichts betreffend den Beschwerdeführer sowie durch Durchführung einer mündlichen Verhandlung.
1. Feststellungen
1.1 Zur Person des Beschwerdeführers und seinem Leben in Afghanistan
Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger und der Volksgruppe der Paschtunen sowie der sunnitischen Glaubensgemeinschaft zugehörig. Sein Geburtsdatum wurde mit XXXX festgestellt. Er ist im Entscheidungszeitpunkt jedenfalls volljährig.
Der Beschwerdeführer ist traditionell verheiratet und hat keine Kinder. Seine Ehefrau hält sich in Afghanistan auf.
Der Beschwerdeführer spricht muttersprachlich Paschtu, er spricht und versteht auch etwas Dari und Deutsch. Er ist Analphabet und kann auf Paschtu und Dari weder lesen noch schreiben; auf Deutsch kann er ein wenig lesen und schreiben.
Der Beschwerdeführer ist in der afghanischen Provinz Nangarhar, Distrikt XXXX , geboren und lebte dort gemeinsam mit seiner Familie, das sind seine Eltern und sein älterer Bruder, bis zu seiner Ausreise. Weitere Geschwister hat der Beschwerdeführer nicht.
Der Beschwerdeführer besuchte zwei Jahre die Grundschule in seinem Heimatdorf, eine weitere Schulbildung oder Berufsausbildung erhielt er nicht. Er half seinem Vater gelegentlich bei Arbeiten in der Landwirtschaft.
1.2 Zum Fluchtgrund
Die Familie des Beschwerdeführers kaufte während der Talibanherrschaft ein landwirtschaftliches Grundstück von ihrem Nachbarn XXXX , welches der Familie des Beschwerdeführers fortan als Lebensgrundlage diente. Nach dem Sturz des Talibanregimes in der Heimatprovinz des Beschwerdeführers erfuhren die dortigen Grundstücke eine Wertsteigerung, weshalb der Nachbar das Grundstück der Familie des Beschwerdeführers wieder für sich beanspruchte, wobei er anstatt des Verkaufs lediglich eine Verpachtung dieses Grundstücks an die Familie des Beschwerdeführers behauptete. Das Ergebnis der daraufhin einberufenen Jirga wurde vom Nachbarn XXXX , welcher einflussreich ist und sowohl Kontakte zur Regierung als auch unter den Taliban hat, nicht akzeptiert. Dieser errichtete daraufhin eine Mauer um das strittige Grundstück. Im Zuge des darauffolgenden Streits erschoss zunächst der Bruder des Beschwerdeführers einen Sohn des Nachbarn XXXX , woraufhin sowohl der Vater als auch der Bruder des Beschwerdeführers von Seiten des XXXX erschossen wurden.
Der Beschwerdeführer reiste im Frühjahr 2015 aus Angst vor Verfolgung aus Afghanistan aus und stellte im Juni 2015 gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.
Der Beschwerdeführer befürchtet im Fall seiner Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der Zugehörigkeit zur Familie seines Vaters, der von einer anderen Familie ebenso wie der Bruder des Beschwerdeführers getötet wurde, von dieser Familie aufgrund einer antizipierten Blutrache ebenfalls getötet zu werden.
1.3 Zum Leben des Beschwerdeführers in Österreich
Der Beschwerdeführer hält sich seit Ende Juni 2015 durchgehend in Österreich auf. Er bezieht Leistungen aus der Grundversorgung und ist nicht erwerbstätig. Er nahm an mehreren integrativen Workshops, an einem Jugendcollege und an Deutschkursen (bis A2) teil. Der Beschwerdeführer erlangte im Oktober 2018 den Führerschein. In seiner Freizeit spielt er mit seinen Freunden Fußball. Der vorgelegte Sozialbericht des Arbeiter-Samariter-Bundes zeichnet ein positives Persönlichkeitsbild vom Beschwerdeführer.
Der Beschwerdeführer hat in Österreich keine Verwandten oder Familienangehörigen.
Der Beschwerdeführer ist gesund und arbeitsfähig. Er ist in Österreich strafgerichtlich unbescholten.
1.4 Zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers
1.4.1 Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.6.2018:
1.4.1.1 Politische Lage
Parlament und Parlamentswahlen
Die afghanische Nationalversammlung ist die höchste legislative Institution des Landes und agiert im Namen des gesamten afghanischen Volkes (Casolino 2011). Sie besteht aus dem Unterhaus, auch wolesi jirga, "Kammer des Volkes", genannt, und dem Oberhaus, meshrano jirga auch
"Ältestenrat" oder "Senat" genannt. Das Unterhaus hat 250 Sitze, die sich proportional zur Bevölkerungszahl auf die 34 Provinzen verteilen. Verfassungsgemäß sind für Frauen 68 Sitze, für die Minderheit der Kutschi zehn Sitze und für Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft ein Sitz im Unterhaus reserviert (AAN 22.1.2017; vgl. USDOS 20.4.2018, USDOS 15.8.2017, CRS 13.12.2017, Casolino 2011). Die Mitglieder des Unterhauses haben ein Mandat von fünf Jahren (Casolino 2011). Die verfassungsmäßigen Quoten gewährleisten einen Frauenanteil von ca. 25% im Unterhaus (AAN 22.1.2017).
Das Oberhaus umfasst 102 Sitze (IPU 27.2.2018). Zwei Drittel von diesen werden von den gewählten Provinzräten vergeben. Das verbleibende Drittel, wovon 50% mit Frauen besetzt werden müssen, vergibt der Präsident selbst. Zwei der vom Präsidenten zu vergebenden Sitze sind verfassungsgemäß für die Kutschi-Minderheit und zwei weitere für behinderte Personen bestimmt. Auch ist de facto ein Sitz für einen Vertreter der Hindu- bzw. Sikh-Gemeinschaft reserviert (USDOS 20.4.2018; vgl. USDOS 15.8.2017).
Die Rolle des Parlaments bleibt begrenzt. Zwar beweisen die Abgeordneten mit kritischen Anhörungen und Abänderungen von Gesetzentwürfen in teils wichtigen Punkten, dass das Parlament grundsätzlich funktionsfähig ist. Zugleich nutzt das Parlament seine verfassungsmäßigen Rechte, um die Arbeit der Regierung destruktiv zu behindern, Personalvorschläge der Regierung z.T. über längere Zeiträume zu blockieren und sich Zugeständnisse wohl auch durch finanzielle Zuwendungen an einzelne Abgeordnete abkaufen zu lassen. Insbesondere das Unterhaus hat sich dadurch sowohl die RNE als auch die Zivilgesellschaft zum Gegner gemacht. Generell leider die Legislative unter einem kaum entwickelten Parteiensystem und mangelnder Rechenschaft der Parlamentarier gegenüber ihren Wählern (AA 5.2018).
Die für Oktober 2016 angekündigten Parlamentswahlen konnten wegen ausstehender Wahlrechtsreformen nicht am geplanten Termin abgehalten werden. Daher bleibt das bestehende Parlament weiterhin im Amt (AA 9.2016; vgl. CRS 12.1.2017). Im September 2016 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet und Anfang April 2018 wurde von der unabhängigen Wahlkommission (IEC) der 20. Oktober 2018 als neuer Wahltermin festgelegt. Gleichzeitig sollen auch die Distriktwahlen stattfinden (AAN 12.4.2018; vgl. AAN 22.1.2017, AAN 18.12.2016).
Parteien
Die afghanische Verfassung erlaubt die Gründung politischer Parteien, solange deren Programm nicht im Widerspruch zu den Prinzipien des Islam steht (USDOS 15.8.2017). Um den Parteien einen allgemeinen und nationalen Charakter zu verleihen, verbietet die Verfassung jeglichen Zusammenschluss in politischen Organisationen, der aufgrund von ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Zugehörigkeit erfolgt (Casolino 2011). Auch darf keine rechtmäßig zustande gekommene Partei oder Organisation ohne rechtliche Begründung und ohne richterlichen Beschluss aufgelöst werden (AE o. D.). Der Terminus "Partei" umfasst gegenwärtig eine Reihe von Organisationen mit sehr unterschiedlichen organisatorischen und politischen Hintergründen. Trotzdem existieren Ähnlichkeiten in ihrer Arbeitsweise. Einer Anzahl von ihnen war es möglich, die Exekutive und Legislative der Regierung zu beeinflussen (USIP 3.2015).
Die meisten dieser Gruppierungen erscheinen jedoch mehr als Machtvehikel ihrer Führungsfiguren, denn als politisch-programmatisch gefestigte Parteien. Ethnischer Proporz, persönliche Beziehungen und ad hoc geformte Koalitionen genießen traditionell mehr Einfluss als politische Organisationen. Die Schwäche des sich noch entwickelnden Parteiensystems ist auf strukturelle Elemente (wie z.B. das Fehlen eines Parteienfinanzierungsgesetzes) zurückzuführen sowie auf eine allgemeine Skepsis der Bevölkerung und der Medien. Reformversuche sind im Gange, werden aber durch die unterschiedlichen Interessenlagen immer wieder gestört, etwa durch das Unterhaus selbst (AA 9.2016). Ein hoher Grad an Fragmentierung sowie eine Ausrichtung auf Führungspersönlichkeiten sind charakteristische Merkmale der afghanischen Parteienlandschaft (AAN 6.5.2018).
Mit Stand Mai 2018 waren 74 Parteien beim Justizministerium (MoJ) registriert (AAN 6.5.2018).
Parteienlandschaft und Opposition
Nach zweijährigen Verhandlungen unterzeichneten im September 2016 Vertreter der afghanischen Regierung und der Hezb-e Islami ein Abkommen (CRS 12.1.2017), das letzterer Immunität für "vergangene politische und militärische" Taten zusichert. Dafür verpflichtete sich die Gruppe, alle militärischen Aktivitäten einzustellen (DW 29.9.2016). Das Abkommen beinhaltete unter anderem die Möglichkeit eines Regierungspostens für den historischen Anführer der Hezb-e-Islami, Gulbuddin Hekmatyar; auch soll sich die afghanische Regierung bemühen, internationale Sanktionen gegen Hekmatyar aufheben zu lassen (CRS 12.1.2017). Tatsächlich wurde dieser im Februar 2017 von der Sanktionsliste des UN-Sicherheitsrates gestrichen (AAN 3.5.2017). Am 4.5.2017 kehrte Hekmatyar nach Kabul zurück (AAN 4.5.2017). Die Rückkehr Hekmatyars führte u.a. zu parteiinternen Spannungen, da nicht alle Fraktionen innerhalb der Hezb-e Islami mit der aus dem Friedensabkommen von 2016 erwachsenen Verpflichtung sich unter Hekmatyars Führung wiederzuvereinigen, einverstanden sind (AAN 25.11.2017; vgl. Tolonews 19.12.2017, AAN 6.5.2018). Der innerparteiliche Konflikt dauert weiter an (Tolonews 14.3.2018).
Ende Juni 2017 gründeten Vertreter der Jamiat-e Islami-Partei unter Salahuddin Rabbani und Atta Muhammad Noor, der Jombesh-e Melli-ye Islami-Partei unter Abdul Rashid Dostum und der Hezb- e Wahdat-e Mardom-Partei unter Mardom Muhammad Mohaqeq die semi-oppositionelle "Coalition for the Salvation of Afghanistan", auch "Ankara Coalition" genannt. Diese Koalition besteht aus drei großen politischen Parteien mit starker ethnischer Unterstützung (jeweils Tadschiken, Usbeken und Hazara) (AB 18.11.2017; vgl. AAN 6.5.2018).
Unterstützer des weiterhin politisch tätigen ehemaligen Präsidenten Hamid Karzai gründeten im Oktober 2017 eine neue politische Bewegung, die Mehwar-e Mardom-e Afghanistan (The People's Axis of Afghanistan), unter der inoffiziellen Führung von Rahmatullah Nabil, des ehemaligen Chefs des afghanischen Geheimdienstes (NDS). Später distanzierten sich die Mitglieder der Bewegung von den politischen Ansichten Hamid Karzais (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 11.10.2017).
Anwarul Haq Ahadi, der langjährige Anführer der Afghan Mellat, eine der ältesten Parteien Afghanistans, verbündete sich mit der ehemaligen Mujahedin-Partei Harakat-e Enqilab-e Eslami-e Afghanistan. Gemeinsam nehmen diese beiden Parteien am New National Front of Afghanistan teil (NNF), eine der kritischsten Oppositionsgruppierungen in Afghanistan (AAN 6.5.2018; vgl. AB 29.5.2017).
Eine weitere Oppositionspartei ist die Hezb-e Kongara-ya Melli-ye Afghanistan (The National Congress Party of Afghanistan) unter der Führung von Abdul Latif Pedram (AB 15.1.2016; vgl. AB 29.5.2017).
Auch wurde die linksorientierte Hezb-e-Watan-Partei (The Fatherland Party) wieder ins Leben gerufen, mit der Absicht, ein wichtiges Segment der ehemaligen linken Kräfte in Afghanistan zusammenzubringen (AAN 6.5.2018; vgl. AAN 21.8.2017).
Friedens- und Versöhnungsprozess
Am 28. Februar 2018 machte Afghanistans Präsident Ashraf Ghani den Taliban ein Friedensangebot (NYT 11.3.2018; vgl. TS 28.2.2018). Die Annahme des Angebots durch die Taliban würde, so Ghani, diesen verschiedene Garantien gewähren, wie eine Amnestie, die Anerkennung der Taliban-Bewegung als politische Partei, eine Abänderung der Verfassung und die Aufhebung der Sanktionen gegen ihre Anführer (TD 7.3.2018). Quellen zufolge wird die Annahme bzw. Ablehnung des Angebots derzeit in den Rängen der Taliban diskutiert (Tolonews
16.4.2018; vgl. Tolonews 11.4.2018). Anfang 2018 fanden zwei Friedenskonferenzen zur Sicherheitslage in Afghanistan statt: die zweite Runde des Kabuler Prozesses [Anm.: von der afghanischen Regierung ins Leben gerufene Friedenskonferenz mit internationaler Beteiligung] und die Friedenskonferenz in Taschkent (TD 24.3.2018; vgl. TD 7.3.2018, NZZ 28.2.2018). Anfang April rief Staatspräsident Ghani die Taliban dazu auf, sich für die Parlamentswahlen im Oktober 2018 als politische Gruppierung registrieren zu lassen, was von diesen jedoch abgelehnt wurde (Tolonews 16.4.2018). Ende April 2018 kam es in diesem Zusammenhang zu Angriffen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich des IS, aber auch der Taliban) auf mit der Wahlregistrierung betraute Behörden in verschiedenen Provinzen.
Am 19.5.2018 erklärten die Taliban, sie würden keine Mitglieder afghanischer Sicherheitskräfte mehr angreifen, wenn diese ihre Truppen verlassen würden, und gewährten ihnen somit eine "Amnestie". In ihrer Stellungnahme erklärten die Aufständischen, dass das Ziel ihrer Frühlingsoffensive Amerika und ihre Alliierten seien (AJ 19.5.2018).
Am 7.6.2018 verkündete Präsident Ashraf Ghani einen Waffenstillstand mit den Taliban für den Zeitraum 12.6.2018 - 20.6.2018. Die Erklärung erfolgte, nachdem sich am 4.6.2018 über 2.000 Religionsgelehrte aus ganz Afghanistan in Kabul versammelt hatten und eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aussprachen (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 7.6.2018, RFL/RL 5.6.2018). Durch die Fatwa wurden Selbstmordanschläge für ungesetzlich (nach islamischem Recht, Anm.) erklärt und die Taliban dazu aufgerufen, den Friedensprozess zu unterstützen (Reuters 5.6.2018). Die Taliban selbst gingen am 9.6.2018 auf das Angebot ein und erklärten einen Waffenstillstand von drei Tagen (die ersten drei Tage des Eid-Fests, Anm.). Der Waffenstillstand würde sich jedoch nicht auf die ausländischen Sicherheitskräfte beziehen; auch würden sich die Taliban im Falle eines militärischen Angriffs verteidigen (HDN 10.6.2018; vgl. TH 10.6.2018, Tolonews 9.6.2018).
1.4.1.2 Sicherheitslage
Wegen einer Serie von öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffen in städtischen Zentren, die von regierungsfeindlichen Elementen ausgeführt wurden, erklärten die Vereinten Nationen (UN) im Februar 2018 die Sicherheitslage für sehr instabil (UNGASC 27.2.2018).
Für das Jahr 2017 registrierte die Nichtregierungsorganisation INSO (International NGO Safety Organisation) landesweit 29.824 sicherheitsrelevante Vorfälle. Im Jahresvergleich wurden von INSO 2016 landesweit 28.838 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert und für das Jahr 2015 25.288. Zu sicherheitsrelevanten Vorfällen zählt INSO Drohungen, Überfälle, direkter Beschuss, Entführungen, Vorfälle mit IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und andere Arten von Vorfällen (INSO o.D.).
Für das Jahr 2017 registrierte die UN insgesamt 23.744 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan (UNGASC 27.2.2018); für das gesamte Jahr 2016 waren es 23.712 (UNGASC 9.3.2017). Landesweit wurden für das Jahr 2015 insgesamt 22.634 sicherheitsrelevanter Vorfälle registriert (UNGASC 15.3.2016).
Im Jahr 2017 waren auch weiterhin bewaffnete Zusammenstöße Hauptursache (63%) aller registrierten sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs (Sprengfallen/ Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung - USBV) und Luftangriffen. Für das gesamte Jahr 2017 wurden 14.998 bewaffnete Zusammenstöße registriert (2016: 14.977 bewaffnete Zusammenstöße) (USDOD 12.2017). Im August 2017 stuften die Vereinten Nationen (UN) Afghanistan, das bisher als "Post-Konflikt-Land" galt, wieder als "Konfliktland" ein; dies bedeute nicht, dass kein Fortschritt stattgefunden habe, jedoch bedrohe der aktuelle Konflikt die Nachhaltigkeit der erreichten Leistungen (UNGASC 10.8.2017).
Die Zahl der Luftangriffe hat sich im Vergleich zum Jahr 2016 um 67% erhöht, die gezielten Tötungen um 6%. Ferner hat sich die Zahl der Selbstmordattentate um 50% erhöht. Östlichen Regionen hatten die höchste Anzahl an Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von südlichen Regionen. Diese beiden Regionen zusammen waren von 55% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle betroffen (UNGASC 27.2.2018). Für den Berichtszeitraum 15.12.2017 - 15.2.2018 kann im Vergleich zum selben Berichtszeitraum des Jahres 2016, ein Rückgang (-6%) an sicherheitsrelevanten Vorfällen verzeichnet werden (UNGASC 27.2.2018).
Afghanistan ist nach wie vor mit einem aus dem Ausland unterstützten und widerstandsfähigen Aufstand konfrontiert. Nichtsdestotrotz haben die afghanischen Sicherheitskräfte ihre Entschlossenheit und wachsenden Fähigkeiten im Kampf gegen den von den Taliban geführten Aufstand gezeigt. So behält die afghanische Regierung auch weiterhin Kontrolle über Kabul, größere Bevölkerungszentren, die wichtigsten Verkehrsrouten und den Großteil der Distriktzentren (USDOD 12.2017). Zwar umkämpften die Taliban Distriktzentren, sie konnten aber keine Provinzhauptstädte (bis auf Farah-Stadt; vgl. AAN 6.6.2018) bedrohen - ein signifikanter Meilenstein für die ANDSF (USDOD 12.2017; vgl. UNGASC 27.2.2018); diesen Meilenstein schrieben afghanische und internationale Sicherheitsbeamte den intensiven Luftangriffen durch die afghanische Nationalarmee und der Luftwaffe sowie verstärkter Nachtrazzien durch afghanische Spezialeinheiten zu (UNGASC 27.2.2018).
Die von den Aufständischen ausgeübten öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe in städtischen Zentren beeinträchtigten die öffentliche Moral und drohten das Vertrauen in die Regierung zu untergraben. Trotz dieser Gewaltserie in städtischen Regionen war im Winter landesweit ein Rückgang an Talibanangriffen zu verzeichnen (UNGASC 27.2.2018). Historisch gesehen gehen die Angriffe der Taliban im Winter jedoch immer zurück, wenngleich sie ihre Angriffe im Herbst und Winter nicht gänzlich einstellen. Mit Einzug des Frühlings beschleunigen die Aufständischen ihr Operationstempo wieder. Der Rückgang der Vorfälle im letzten Quartal 2017 war also im Einklang mit vorangegangenen Schemata (LIGM 15.2.2018).
Anschläge bzw. Angriffe und Anschläge auf hochrangige Ziele
Die Taliban und weitere aufständische Gruppierungen wie der Islamische Staat (IS) verübten auch weiterhin "high-profile"-Angriffe, speziell im Bereich der Hauptstadt, mit dem Ziel, eine Medienwirksamkeit zu erlangen und damit ein Gefühl der Unsicherheit hervorzurufen und so die Legitimität der afghanischen Regierung zu untergraben (USDOD 12.2017; vgl. SBS 28.2.2018, NZZ 21.3.2018, UNGASC 27.2.2018). Möglicherweise sehen Aufständische Angriffe auf die Hauptstadt als einen effektiven Weg, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung zu untergraben, anstatt zu versuchen, Territorium in ländlichen Gebieten zu erobern und zu halten (BBC 21.3.2018).
Die Anzahl der öffentlichkeitswirksamen (high-profile) Angriffe hatte sich von 1.6. - 20.11.2017 im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des Vorjahres erhöht (USDOD 12.2017). In den ersten Monaten des Jahres 2018 wurden verstärkt Angriffe bzw. Anschläge durch die Taliban und den IS in verschiedenen Teilen Kabuls ausgeführt (AJ 24.2.2018; vgl. Slate 22.4.2018). Als Antwort auf die zunehmenden Angriffe wurden Luftangriffe und Sicherheitsoperationen verstärkt, wodurch Aufständische in einigen Gegenden zurückgedrängt wurden (BBC 21.3.2018); auch wurden in der Hauptstadt verstärkt Spezialoperationen durchgeführt, wie auch die Bemühungen der US-Amerikaner, Terroristen zu identifizieren und zu lokalisieren (WSJ 21.3.2018).
Landesweit haben Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, in den Monaten vor Jänner 2018 ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (TG 29.1.2018; vgl. BBC 29.1.2018); auch hat die Gewalt Aufständischer gegenüber Mitarbeiter/innen von Hilfsorganisationen in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.1.2018). Die Taliban verstärken ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Die Hauptstadt Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (AP 30.1.2018).
Angriffe auf afghanische Sicherheitskräfte und Zusammenstöße zwischen diesen und den Taliban finden weiterhin statt (AJ 22.5.2018; AD 20.5.2018).
Registriert wurde auch eine Steigerung öffentlichkeitswirksamer gewalttätiger Vorfälle (UNGASC 27.2.2018), von denen zur Veranschaulichung hier auszugsweise einige Beispiele wiedergegeben werden sollen (Anmerkung der Staatendokumentation: Die folgende Liste enthält öffentlichkeitswirksame (high-profile) Vorfälle sowie Angriffe bzw. Anschläge auf hochrangige Ziele und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit).
• Selbstmordanschlag vor dem Ministerium für ländliche Rehabilitation und Entwicklung (MRRD) in Kabul: Am 11.6.2018 wurden bei einem Selbstmordanschlag vor dem Eingangstor des MRRD zwölf Menschen getötet und 30 weitere verletzt. Quellen zufolge waren Frauen, Kinder und Mitarbeiter des Ministeriums unter den Opfern (AJ 11.6.2018). Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Angriff (Reuters 11.6.2018; Gandhara 11.6.2018).
• Angriff auf das afghanische Innenministerium (MoI) in Kabul: Am 30.5.2018 griffen bewaffnete Männer den Sitz des MoI in Kabul an, nachdem vor dem Eingangstor des Gebäudes ein mit Sprengstoff geladenes Fahrzeug explodiert war. Bei dem Vorfall kam ein Polizist ums Leben. Die Angreifer konnten nach einem zweistündigen Gefecht von den Sicherheitskräften getötet werden. Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Angriff (CNN 30.5.2018; vgl. Gandhara 30.5.2018).
• Angriff auf Polizeistützpunkte in Ghazni: Bei Taliban-Anschlägen auf verschiedene Polizeistützpunkte in der afghanischen Provinz Ghazni am 21.5.2018 kamen mindestens 14 Polizisten ums Leben (AJ 22.5.2018).
• Angriff auf Regierungsbüro in Jalalabad: Nach einem Angriff auf die Finanzbehörde der Provinz Nangarhar in Jalalabad kamen am 13.5.2018 mindestens zehn Personen, darunter auch Zivilisten, ums Leben und 40 weitere wurden verletzt (Pajhwok 13.5.2018; vgl. Tolonews 13.5.2018). Die Angreifer wurden von den Sicherheitskräften getötet (AJ 13.5.2018). Quellen zufolge bekannte sich der Islamische Staat (IS) zum Angriff (AJ 13.5.2018).
• Angriff auf Polizeireviere in Kabul: Am 9.5.2018 griffen bewaffnete Männer jeweils ein Polizeirevier in Dasht-e-Barchi und Shar-i-Naw an und verursachten den Tod von zwei Polizisten und verwundeten sechs Zivilisten. Auch wurden Quellen zufolge zwei Attentäter von den Sicherheitskräften getötet (Pajhwok 9.5.2018). Der IS bekannte sich zum Angriff (Pajhwok 9.5.2018; vgl. Tolonews 9.5.2018).
• Selbstmordangriff in Kandahar: Bei einem Selbstmordanschlag auf einen Konvoi der NATO-Truppen in Haji Abdullah Khan im Distrikt Daman der Provinz Kandahar sind am 30.4.2018 elf Kinder ums Leben gekommen und 16 weitere Menschen verletzt worden; unter den Verletzten befanden sich u.a. rumänische Soldaten (Tolonews 30.4.2018b; vgl. APN 30.4.2018b, Focus 30.4.2018, IM 30.4.2018). Weder der IS noch die Taliban reklamierten den Anschlag für sich (Spiegel 30.4.2018; vgl. Tolonews 30.4.2018b).
• Doppelanschlag in Kabul: Am 30.4.2018 fand im Bezirk Shash Derak in der Hauptstadt Kabul ein Doppelanschlag statt, bei dem Selbstmordattentäter zwei Explosionen verübten (AJ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a). Die erste Detonation erfolgte in der Nähe des Sitzes des afghanischen Geheimdienstes (NDS) und wurde von einem Selbstmordattentäter auf einem Motorrad verübt; dabei wurden zwischen drei und fünf Menschen getötet und zwischen sechs und elf weitere verletzt (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018b); Quellen zufolge handelte es sich dabei um Zivilisten (Focus 30.4.2018). Die zweite Detonation ging von einem weiteren Selbstmordattentäter aus, der sich, als Reporter getarnt, unter die am Anschlagsort versammelten Journalisten, Sanitäter und Polizisten gemischt hatte (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018b, Pajhwok 30.4.2018, Tolonews 30.4.2018a). Dabei kamen u.a. zehn Journalisten ums Leben, die bei afghanischen sowie internationalen Medien tätig waren (TI 1.5.2018; vgl. AJ 30.4.2018, APN 30.4.2018a,). Bei den beiden Anschlägen sind Quellen zufolge zwischen 25 und 29 Personen ums Leben gekommen und 49 verletzt worden (AJ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a, DZ 30.4.2018, Tolonews 30.4.2018a). Der IS bekannte sich zu beiden Angriffen (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a). Quellen zufolge sind Geheimdienstmitarbeiter das Ziel des Angriffes gewesen (DZ 30.4.2018; vgl. APN 30.4.2018a).
• Angriff auf die Marshal Fahim Militärakademie: Am 29.1.2018 attackierten fünf bewaffnete Angreifer einen militärischen Außenposten in der Nähe der Marshal Fahim Militärakademie (auch bekannt als Verteidigungsakademie), die in einem westlichen Außendistrikt der Hauptstadt liegt. Bei dem Vorfall wurden mindestens elf Soldaten getötet und 15 weitere verletzt, bevor die vier Angreifer getötet und ein weiterer gefasst werden konnten. Der IS bekannte sich zu dem Vorfall (Reuters 29.1.2018; vgl. NYT 28.1.2018).
• Bombenangriff mit einem Fahrzeug in Kabul: Am 27.1.2018 tötete ein Selbstmordattentäter der Taliban mehr als 100 Menschen und verletzte mindestens 235 weitere (Reuters 27.1.2018; vgl. TG 28.1.2018). Eine Bombe - versteckt in einem Rettungswagen - detonierte in einem schwer gesicherten Bereich der afghanischen Hauptstadt (TG 27.1.2018; vgl. TG 28.1.2018) - dem sogenannten Regierungs- und Diplomatenviertel (Reuters 27.1.2018).
• Angriff auf eine internationale Organisation (Save the Children - SCI) in Jalalabad: Am 24.1.2018 brachte ein Selbstmordattentäter ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug am Gelände der Nichtregierungsorganisation (NGO) Save The Children in der Provinzhauptstadt Jalalabad zur Explosion. Mindestens zwei Menschen wurden getötet und zwölf weitere verletzt; der IS bekannte sich zu diesem Vorfall (BBC 24.1.2018; vgl. Reuters 24.1.2018, TG 24.1.2018).
• Angriff auf das Hotel Intercontinental in Kabul: Am 20.1.2018 griffen fünf bewaffnete Männer das Luxushotel Intercontinental in Kabul an. Der Angriff wurde von afghanischen Truppen abgewehrt, nachdem die ganze Nacht um die Kontrolle über das Gebäude gekämpft worden war (BBC 21.1.2018; vgl. DW 21.1.2018). Dabei wurden mindestens 14 Ausländer/innen und vier Afghan/innen getötet. Zehn weitere Personen wurden verletzt, einschließlich sechs Mitglieder der Sicherheitskräfte (NYT 21.1.2018). 160 Menschen konnten gerettet werden (BBC 21.1.2018). Alle fünf Angreifer wurden von den Sicherheitskräften getötet (Reuters 20.1.2018). Die Taliban bekannten sich zu dem Angriff (DW 21.1.2018).
• Selbstmordattentat mit einem mit Sprengstoff beladenen Tanklaster:
Am 31.5.2017 kamen bei einem Selbstmordattentat im hochgesicherten Diplomatenviertel Kabuls mehr als 150 Menschen ums Leben, mindestens 300 weitere wurden schwer verletzt (FAZ 6.6.2017; vgl. AJ 31.5.2017, BBC 31.5.2017; UN News Centre 31.5.2017). Der IS bekannte sich zu diesem Vorfall (FN 7.6.2017).
Angriffe gegen Gläubige und Kultstätten
Registriert wurde eine steigende Anzahl der Angriffe gegen Glaubensstätten, religiöse Führer sowie Gläubige; 499 zivile Opfer (202 Tote und 297 Verletzte) waren im Rahmen von 38 Angriffen im Jahr 2017 zu verzeichnen. Die Anzahl dieser Art Vorfälle hat sich im Gegensatz zum Jahr 2016 (377 zivile Opfer, 86 Tote und 291 Verletzte bei 12 Vorfällen) verdreifacht, während die Anzahl ziviler Opfer um 32% gestiegen ist (UNAMA 2.2018). Auch verzeichnete die UN in den Jahren 2016 und 2017 Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Religiösen Führern ist es nämlich möglich, durch ihre Predigten öffentliche Standpunkte zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 7.11.2017). Ein Großteil der zivilen Opfer waren schiitische Muslime. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 7.11.2017; vgl. UNAMA 2.2018). Es wurden aber auch Angriffe auf sunnitische Moscheen und religiöse Führer ausgeführt (TG 20.10.2017; vgl. UNAMA 7.11.2017)
Diese serienartigen und gewalttätigen Angriffe gegen religiöse Ziele, haben die afghanische Regierung veranlasst, neue Maßnahmen zu ergreifen, um Gebetsstätten zu beschützen: landesweit wurden 2.500 Menschen rekrutiert und bewaffnet, um 600 Moscheen und Tempel vor Angriffen zu schützen (UNGASC 20.12.2017).
Beispiele von Anschlägen gegen Gläubige und Glaubensstätten
• Angriff auf Treffen der Religionsgelehrten in Kabul: Am 4.6.2018 fand während einer loya jirga zwischen mehr als 2.000 afghanischen Religionsgelehrten, die durch eine Fatwa zur Beendigung der Gewalt aufriefen, ein Selbstmordanschlag statt. Bei dem Angriff kamen 14 Personen ums Leben und weitere wurden verletzt (Tolonews 7.6.2018; vgl. Reuters 5.6.2018). Quellen zufolge bekannte sich der IS zum Angriff (Reuters 5.6.2018; vgl. RFE/RL 5.6.2018).
• Angriff auf Kricket-Stadion in Jalalabad: Am 18.5.2018, einem Tag nach Anfang des Fastenmonats Ramadan, kamen bei einem Angriff während eines Kricket-Matchs in der Provinzhauptstadt Nangarhars Jalalabad mindestens acht Personen ums Leben und mindestens 43 wurden verletzt (TRT 19.5.2018; vgl. Tolonews 19.5.2018, TG 20.5.2018). Quellen zufolge waren das direkte Ziel dieses Angriffes zivile Zuschauer des Matchs (TG 20.5.2018; RFE/RL 19.5.2018), dennoch befanden sich auch Amtspersonen unter den Opfern (TNI 19.5.2018). Quellen zufolge bekannte sich keine regierungsfeindliche Gruppierung zum Angriff (RFE/RL 19.5.2018); die Taliban dementierten ihre Beteiligung an dem Anschlag (Tolonews 19.5.2018; vgl. TG 20.5.2018).
• Selbstmordanschlag während Nowruz-Feierlichkeiten: Am 21.3.2018 (Nowruz-Fest; persisches Neujahr) kam es zu einem Selbstmordangriff in der Nähe des schiitischen Kart-e Sakhi-Schreins, der von vielen afghanischen Gemeinschaften - insbesondere auch der schiitischen Minderheit - verehrt wird. Sie ist ein zentraler Ort, an dem das Neujahrsgebet in Kabul abgehalten wird. Viele junge Menschen, die tanzten, sangen und feierten, befanden sich unter den 31 getöteten; 65 weitere wurden verletzt (BBC 21.3.2018). Die Feierlichkeiten zu Nowruz dauern in Afghanistan mehrere Tage und erreichen ihren Höhepunkt am 21. März (NZZ 21.3.2018). Der IS bekannte sich auf seiner Propaganda Website Amaq zu dem Vorfall (RFE/RL 21.3.2018).
• Angriffe auf Moscheen: Am 20.10.2017 fanden sowohl in Kabul, als auch in der Provinz Ghor Angriffe auf Moscheen statt: während des Freitagsgebets detonierte ein Selbstmordattentäter seine Sprengstoffweste in der schiitischen Moschee, Imam Zaman, in Kabul. Dabei tötete er mindestens 30 Menschen und verletzte 45 weitere. Am selben Tag, ebenso während des Freitagsgebetes, griff ein Selbstmordattentäter eine sunnitische Moschee in Ghor an und tötete 33 Menschen (Telegraph 20.10.2017; vgl. TG 20.10.2017).
• Tötungen in Kandahar: Im Oktober 2017 bekannten sich die afghanischen Taliban zu der Tötung zweier religiöser Persönlichkeiten in der Provinz Kandahar. Die Tötungen legitimierten die Taliban, indem sie die Getöteten als Spione der Regierung bezeichneten (UNAMA 7.11.2017).
• Angriff auf schiitische Moschee: Am 2.8.2017 stürmten ein Selbstmordattentäter und ein bewaffneter Schütze während des Abendgebetes die schiitische Moschee Jawadia in Herat City; dabei wurden mindestens 30 Menschen getötet (BBC 3.8.2017; vgl. Pajhwok 2.8.2017). Insgesamt war von 100 zivilen Opfer die Rede (Pajhwok 2.8.2017). Der IS bekannte sich zu diesem Vorfall (BBC 3.8.2017).
• Entführung in Nangarhar: Die Taliban entführten und folterten einen religiösen Gelehrten in der Provinz Nangarhar, dessen Söhne Mitglieder der ANDSF waren - sie entließen ihn erst, als Lösegeld für ihn bezahlt wurde (UNAMA 7.11.2017).
• In der Provinz Badakhshan wurde ein religiöser Führer von den Taliban entführt, da er gegen die Taliban predigte. Er wurde gefoltert und starb (UNAMA 7.11.2017).
Angriffe auf Behörden zur Wahlregistrierung
Seit der Ankündigung des neuen Wahltermins durch den afghanischen Präsidenten Ashraf Ghani im Jänner 2018 haben zahlreiche Angriffe auf Behörden, die mit der Wahlregistrierung betraut sind, stattgefunden (ARN 21.5.2018; vgl. DW 6.5.2018, AJ 6.5.2018, Tolonews 6.5.2018, Tolonews 29.4.2018, Tolonews 22.4.2018). Es folgt eine Auflistung der größten Vorfälle:
• Bei einem Selbstmordanschlag auf ein für die Wahlregistrierung errichtetes Zelt vor einer Moschee in der Provinz Khost kamen Quellen zufolge am 6.5.2018 zwischen 13 und 17 Menschen ums Leben und mindestens 30 weitere wurden verletzt (DW 6.5.2018; vgl. Tolonews 6.5.2018, AJ 6.5.2018).
• Am 22.4.2018 kamen in der Nähe einer Behörde zur Wahlregistrierung in Pul-e-Khumri in der Provinz Baghlan sechs Menschen ums Leben und fünf weitere wurden verletzt; bisher bekannte sich keine Gruppierung zum Anschlag (Tolonews 22.4.2018; vgl. NZZ 22.4.2018).
• Am 22.4.2018 kamen vor einer Behörde zur Wahlregistrierung in Kabul 60 Menschen ums Leben und 130 wurden verletzt. Der Angriff fand im mehrheitlich aus ethnischen Hazara bewohnten Kabuler Distrikt Dacht-e-Barchi statt. Der Islamische Staat (IS) bekannte sich zum Anschlag, der gegen die "schiitischen Apostaten" gerichtet war (USIP 24.4.2018; vgl. Slate 22.4.2018).
Zivilist/innen
Im Jahr 2017 registrierte die UNAMA 10.453 zivile Opfer (3.438 Tote und 7.015 Verletzte) - damit wurde ein Rückgang von 9% gegenüber dem Vergleichswert des Vorjahres 2016 (11.434 zivile Opfer mit 3.510 Toten und 7.924 Verletzen) festgestellt. Seit 2012 wurde zum ersten Mal ein Rückgang verzeichnet: im Vergleich zum Jahr 2016 ist die Anzahl ziviler Toter um 2% zurückgegangen, während die Anzahl der Verletzten um 11% gesunken ist. Seit 1.1.2009- 31.12.2017 wurden insgesamt 28.291 Tote und 52.366 Verletzte von der UNAMA registriert. Regierungsfeindliche Gruppierungen waren für 65 % aller zivilen Opfer im Jahr 2017 verantwortlich; Hauptursache dabei waren IEDs, gefolgt von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken (UNAMA 2.2018). Im Zeitraum 1.1.2018 - 31.3.2018 registriert die UNAMA
2.258 zivile Opfer (763 Tote und 1.495 Verletzte). Die Zahlen reflektieren ähnliche Werte wie in den Vergleichsquartalen für die Jahre 2016 und 2017. Für das Jahr 2018 wird ein neuer Trend beobachtet: Die häufigste Ursache für zivile Opfer waren IEDs und komplexe Angriffe. An zweiter Stelle waren Bodenoffensiven, gefolgt von gezielten Tötungen, Blindgängern (Engl. UXO, "Unexploded Ordnance") und Lufteinsätzen. Die Bewohner der Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Faryab und Kandahar waren am häufigsten vom Konflikt betroffen (UNAMA 12.4.2018).
Regierungsfeindlichen Gruppierungen wurden landesweit für das Jahr 2017 6.768 zivile Opfer (2.303 Tote und 4.465 Verletzte) zugeschrieben - dies deutet auf einen Rückgang von 3 % im Vergleich zum Vorjahreswert von 7.003 zivilen Opfern (2.138 Tote und 4.865 Verletzte). Der Rückgang ziviler Opfer, die regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben werden, ist auf einen Rückgang ziviler Opfer, die durch Bodenkonfrontation, IED und ferngezündete Bomben zu Schaden gekommen sind, zurückzuführen. Im Gegenzug dazu hat sich die Anzahl ziviler Opfer aufgrund von Selbstmordangriffen und komplexen Attacken erhöht. Die Anzahl ziviler und nicht- ziviler Opfer, die aufgrund gezielter Tötungen durch regierungsfeindliche Elemente zu Schaden gekommen sind, ist ähnlich jener aus dem Jahr 2016 (UNAMA 2.2018).
Im Jänner 2018 waren 56.3 % der Distrikte unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung, während Aufständische 14.5 % der Distrikte kontrollierten bzw. unter ihrem Einfluss hatten. Die übriggebliebenen 29.2 % der Distrikte waren umkämpft. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten, die von Aufständischen kontrolliert werden, waren mit Stand Jänner 2018 Uruzgan, Kunduz und Helmand. Alle Provinzhauptstädte befanden sich unter der Kontrolle bzw. dem Einfluss der afghanischen Regierung (SIGAR 30.4.2018).