Entscheidungsdatum
21.06.2019Index
41/02 Passrecht FremdenrechtNorm
NAG §24 Abs1Text
IM NAMEN DER REPUBLIK
Das Verwaltungsgericht Wien erkennt durch seine Richterin Mag. Schubert-Zsilavecz, LL.M., BA über die Beschwerde des Herrn A. B. (geb. 1988, StA. Türkei), vertreten durch Rechtsanwältin, gegen den Bescheid des Landeshauptmannes von Wien, Magistratsabteilung 35, vom 18.2.2019, Zl. ..., mit welchem der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck „Daueraufenthalt - EU“ gemäß § 45 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 3 Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz – NAG, BGBl. 100/2005, abgewiesen wurde, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 19.6.2019,
zu Recht:
I. Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG wird die Beschwerde als unbegründet abgewiesen und der angefochtene Bescheid bestätigt.
II. Gemäß § 25a VwGG ist gegen dieses Erkenntnis eine ordentliche Revision an den Verwaltungsgerichtshof zulässig.
Entscheidungsgründe
I. Verfahrensgang, angefochtener Bescheid und Beschwerde
Mit Antrag vom 11.5.2018 begehrte der Beschwerdeführer die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“. Mit Schriftsatz vom 4.12.2018 änderte der Beschwerdeführer den Aufenthaltszweck auf „Daueraufenthalt - EU“.
Mit Bescheid vom 18.2.2019 wies die belangte Behörde den genannten Antrag ab und führte begründend im Wesentlichen aus, dass die Erteilung eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ dem Beschwerdeführer Rechte gewähren würde, die über seine Rechte gemäß § 4c AuslBG hinausgehen würden. Das NAG kenne keinen spezifischen Aufenthaltstitel für jene türkischen Staatsangehörigen, die bereits eine Rechtsposition nach dem ersten Spiegelstrich des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80, aber noch nicht nach dessen dritten Spiegelstrich, erreicht hätten. Daraus lasse sich nicht der Schluss ziehen, dass dem Beschwerdeführer ein über seine aus dem ARB 1/80 erlangte Rechtsposition hinausgehender Aufenthaltstitel in Form des beantragten Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt - EU“ zu erteilen wäre, zumal die Rechte des Beschwerdeführers mit einer Bewilligung gemäß § 4c AuslBG ausreichend gewahrt bleiben würden.
In der hiergegen eingebrachten Beschwerde wird beantragt, das Verwaltungsgericht möge eine mündliche Verhandlung durchführen sowie den angefochtenen Bescheid wegen Rechtswidrigkeit seines Inhalts aufgrund unrichtiger rechtlicher Beurteilung aufheben und dem Zweckänderungsantrag stattgeben; in eventu die Rechtssache zur neuerlichen Entscheidung an die belangte Behörde zurückverweisen. Begründend wird im Wesentlichen ausgeführt, der Beschwerdeführer verfüge seit 8.4.2018 als türkischer Arbeitnehmer über ein Niederlassungsrecht gestützt auf Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80, weil er seit 7.4.2017 mittels Beschäftigungsbewilligungen bei C. AG angestellt sei. Der Beschwerdeführer sei niedergelassen und könne die Zeit, die er aufgrund von Aufenthaltsbewilligungen „Student“ in Österreich war, zur Hälfte gemäß § 45 Abs. 2 NAG auf die Fünfjahresfrist des § 45 Abs. 1 NAG anrechnen.
Die belangte Behörde traf keine Beschwerdevorentscheidung und legte die Beschwerde samt bezughabendem Verwaltungsakt dem Verwaltungsgericht Wien zur Entscheidung vor.
Das Verwaltungsgericht Wien führte zur Erörterung der Rechtsfrage am 19.6.2019 eine öffentliche mündliche Verhandlung durch, an welcher der Beschwerdeführer und seine Rechtsvertreterin teilnahmen. Die belangte Behörde nahm nicht an der Verhandlung teil.
II. Feststellungen
Der Beschwerdeführer ist ein am ...1988 geborener türkischer Staatsangehöriger, der seit 26.1.2007 durchgehend über einen Aufenthaltstitel für den Aufenthaltszweck Studierender verfügte. Die ihm zuletzt erteilte Aufenthaltsbewilligung hatte eine Gültigkeitsdauer von 28.12.2017 bis 28.12.2018. Am 11.5.2018 stellte der Beschwerdeführer persönlich den Zweckänderungsantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels für den Zweck „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“. Mit Schriftsatz vom 4.12.2018 änderte der Beschwerdeführer den Aufenthaltszweck auf „Daueraufenthalt - EU“.
Der Beschwerdeführer begann im Oktober 2011 an der Universität … den Bachelorstudiengang „D.“, welchen er am 27.6.2014 mit dem akademischen Grad des Bachelor of Arts (BA) abschloss. Danach war der Beschwerdeführer in den Masterstudiengängen E. (seit 1.3.2017), F. (beide seit 1.10.2014) inskribiert, mittlerweile ist der Beschwerdeführer von seinen Studien an der Universität … abgemeldet.
Seit dem 4.4.2017 (heute demnach seit etwa zwei Jahren und zweieinhalb Monaten) besitzt der Beschwerdeführer durchgehend eine Beschäftigungsbewilligung für eine unselbständige Erwerbstätigkeit bei C. AG (Sitz in Wien, FN ...). Seit 7.4.2017 ist er bei dieser im Ausmaß von 20 Wochenstunden beschäftigt. Zuletzt wurde die Beschäftigungsbewilligung gemäß § 4c AuslBG für den Zeitraum 15.10.2018 bis 14.10.2019 für die berufliche Tätigkeit als Marketingassistent im Ausmaß von 30 Stunden pro Woche und mit einem monatlichen Entgelt von 1.500 brutto bescheidmäßig verlängert.
III. Beweiswürdigung
Die Feststellungen gründen sich auf die im Verwaltungsakt einliegenden, bei Antragstellung und dem Verwaltungsgericht vorgelegten unstrittigen und unbedenklichen Unterlagen, insbesondere auf die mit Bescheid vom 8.10.2018 erteilte Beschäftigungsbewilligung, die eine Gültigkeit von 15.10.2018 bis 14.10.2019 aufweist. Überdies ergeben sich die Feststellungen aus einem vom Verwaltungsgericht Wien eingeholten Sozialversicherungsauszug betreffend den Beschwerdeführer sowie aus den entsprechenden Aussagen des Beschwerdeführers im Rahmen der durchgeführten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht Wien.
IV. Rechtliche Beurteilung
1. § 24, § 45 Abs. 1 und 2 in der heute geltenden Fassung des NAG, BGBl. I Nr. 145/2017, sowie § 26 in der heute geltenden Fassung BGBl. I Nr. 100/2005, lauten:
„Verlängerungsverfahren
§ 24. (1) Verlängerungsanträge (§ 2 Abs. 1 Z 11) sind vor Ablauf der Gültigkeitsdauer des Aufenthaltstitels, frühestens jedoch drei Monate vor diesem Zeitpunkt, bei der örtlich zuständigen Behörde im Inland einzubringen; § 23 gilt. Danach gelten Anträge als Erstanträge. Nach Stellung eines Verlängerungsantrages ist der Antragsteller, unbeschadet der Bestimmungen nach dem FPG, bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Antrag weiterhin rechtmäßig im Bundesgebiet aufhältig. Über die rechtzeitige Antragstellung kann dem Fremden auf begründeten Antrag eine einmalige Bestätigung im Reisedokument angebracht werden, die keine längere Gültigkeitsdauer als drei Monate aufweisen darf. Diese Bestätigung berechtigt zur visumfreien Einreise in das Bundesgebiet. Der Bundesminister für Inneres ist ermächtigt, Form und Inhalt der Bestätigung durch Verordnung zu regeln.
(2) …
(3) Fremden ist im Rahmen eines Verlängerungsverfahrens ein Aufenthaltstitel mit dem gleichen Aufenthaltszweck zu erteilen, wenn die Voraussetzungen für diesen weiterhin vorliegen.
(4) Mit einem Verlängerungsantrag (Abs. 1) kann bis zur Erlassung des Bescheides ein Antrag auf Änderung des Aufenthaltszwecks des bisher innegehabten Aufenthaltstitels oder auf Änderung des Aufenthaltstitels verbunden werden. Sind die Voraussetzungen für den beantragten anderen Aufenthaltszweck oder Aufenthaltstitel nicht erfüllt, ist darüber gesondert mit Bescheid abzusprechen und der bisherige Aufenthaltstitel mit dem gleichen Aufenthaltszweck zu verlängern, soweit die Voraussetzungen dafür weiterhin vorliegen.
(5) …
Zweckänderungsverfahren
§ 26. Wenn der Fremde den Aufenthaltszweck während seines Aufenthalts in Österreich ändern will, hat er dies der Behörde im Inland unverzüglich bekannt zu geben. Eine Zweckänderung ist nur zulässig, wenn der Fremde die Voraussetzungen für den beantragten Aufenthaltstitel erfüllt und ein gegebenenfalls erforderlicher Quotenplatz zur Verfügung steht. Sind alle Voraussetzungen gegeben, hat der Fremde einen Rechtsanspruch auf Erteilung dieses Aufenthaltstitels. Liegen die Voraussetzungen nicht vor, ist der Antrag abzuweisen; die Abweisung hat keine Auswirkung auf das bestehende Aufenthaltsrecht.
Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“
§ 45. (1) Drittstaatsangehörigen, die in den letzten fünf Jahren ununterbrochen tatsächlich niedergelassen waren, kann ein Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“ erteilt werden, wenn sie
1. die Voraussetzungen des 1. Teiles erfüllen und
2. das Modul 2 der Integrationsvereinbarung (§ 10 IntG) erfüllt haben.
(2) Zur Niederlassung berechtigten Drittstaatsangehörigen ist die Zeit eines unmittelbar vorangehenden rechtmäßigen Aufenthalts im Bundesgebiet auf Grundlage einer Aufenthaltsbewilligung (§ 8 Abs. 1 Z 12) oder eines Aufenthaltstitels „Aufenthaltsberechtigung besonderer Schutz“ (§ 57 AsylG 2005) zur Hälfte auf die Fünfjahresfrist gemäß Abs. 1 anzurechnen. Zur Niederlassung berechtigten Drittstaatsangehörigen ist die Zeit eines unmittelbar vorangehenden rechtmäßigen Aufenthaltes im Bundesgebiet aufgrund einer „Aufenthaltsberechtigung plus“ (§ 54 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005) oder einer „Aufenthaltsberechtigung“ (§ 54 Abs. 1 Z 2 AsylG 2005) zur Gänze auf die Fünfjahresfrist anzurechnen.
(3)…“
Art. 6 des Beschlusses Nr. 1/80 des - durch das (am 12.9.1963 in Ankara von der Republik Türkei einerseits und den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft andererseits unterzeichnete und durch den Beschluss 64/732/EWG vom 23.12.1963, ABl. Nr. 217/1964, S. 3685, im Namen der Gemeinschaft geschlossene, gebilligte und bestätigte) Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei errichteten - Assoziationsrats über die Entwicklung der Assoziation vom 19.9.1980 (wie bisher und nachfolgend: ARB 1/80) lautet:
"Artikel 6
(1) Vorbehaltlich der Bestimmungen in Artikel 7 über den freien Zugang der Familienangehörigen zur Beschäftigung hat der türkische Arbeitnehmer, der dem regulären Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats angehört, in diesem Mitgliedstaat
- nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung Anspruch auf Erneuerung seiner Arbeitserlaubnis bei dem gleichen Arbeitgeber, wenn er über einen Arbeitsplatz verfügt;
- nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung - vorbehaltlich des den Arbeitnehmern aus den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft einzuräumenden Vorrangs - das Recht, sich für den gleichen Beruf bei einem Arbeitgeber seiner Wahl auf ein unter normalen Bedingungen unterbreitetes und bei den Arbeitsämtern dieses Mitgliedstaats eingetragenes anderes Stellenangebot zu bewerben;
- nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung freien Zugang zu jeder von ihm gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis.
(2) Der Jahresurlaub und die Abwesenheit wegen Mutterschaft, Arbeitsunfall oder kurzer Krankheit werden den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt. Die Zeiten unverschuldeter Arbeitslosigkeit, die von den zuständigen Behörden ordnungsgemäß festgestellt worden sind, sowie die Abwesenheit wegen langer Krankheit werden zwar nicht den Zeiten ordnungsgemäßer Beschäftigung gleichgestellt, berühren jedoch nicht die aufgrund der vorherigen Beschäftigungszeit erworbenen Ansprüche.
(3) Die Einzelheiten der Durchführung der Absätze 1 und 2 werden durch einzelstaatliche Vorschriften festgelegt."
2. Der Beschwerdeführer gründet seinen Zweckänderungsantrag auf Erteilung des „Daueraufenthaltes – EU“ darauf, dass er durch seine Arbeitnehmereigenschaft ein Niederlassungsrecht gestützt auf Art. 6 erster Unterabsatz ARB 1/80 erlangt habe. Der Beschwerdeführer erfülle daher die Voraussetzung einer bestehenden Niederlassung, weshalb die Zeit, die er aufgrund einer Aufenthaltsbewilligung „Student“ in Österreich seit 2007 verbracht habe, zur Hälfte auf die in § 45 Abs. 1 NAG statuierte Fünfjahresfrist anzurechnen sei.
Der Beschwerdeführer kann derzeit eine seit 7.4.2017 andauernde, ununterbrochene Beschäftigung von zwei Jahren und zweieinhalb Monaten bei derselben Arbeitgeberin sowie die hierfür erforderliche Beschäftigungsbewilligung vorweisen. Damit erfüllt er – zum jetzigen Zeitpunkt – die Voraussetzungen des ersten Spiegelstriches des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80. Damit steht ihm implizit ein aus dem ARB 1/80 direkt ableitbares Aufenthaltsrecht zu (VwGH 23.6.2015, Ro 2014/22/0038). Seit 2007 ist der Beschwerdeführer aufgrund seines Aufenthaltstitels „Student“ in Österreich.
Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers ist dieser aus folgenden Gründen nicht im Sinne des § 45 Abs. 1 und Abs. 2 NAG als niedergelassen anzusehen:
Mit den Regelungen des § 45 NAG werden die diesbezüglichen Bestimmungen der Richtlinie 2003/109/EG des Rates vom 25. November 2003 betreffend die Rechtsstellung der langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (im Folgenden: RL 2003/109/EG) innerstaatlich umgesetzt. Aus diesem Grund ist für die Interpretation des § 45 NAG die maßgebliche Richtlinie 2003/109/EG heranzuziehen (VwGH 11.11.2013, 2011/22/0202).
§ 45 NAG unterscheidet zwischen Niederlassungsbewilligung und Aufenthaltsbewilligung, wobei Drittstaatsangehörige mit einer Aufenthaltsbewilligung keinen direkten Wechsel auf einen Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt - EU“ nach § 45 NAG vornehmen können.
Die bei Heranziehung der für die Interpretation des § 45 NAG maßgebliche Richtlinie 2003/109/EG kennt eine solche Unterscheidung nicht. Die Richtlinie differenziert nicht hinsichtlich des Erfordernisses des ununterbrochenen Aufenthalts von mindestens fünf Jahren zwischen Niederlassungs- und Aufenthaltsbewilligung.
Gemäß Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2003/109/EG findet diese auf Drittstaatsangehörige Anwendung, die sich rechtmäßig im Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates aufhalten.
Die Richtlinie 2003/109/EG findet jedoch keine Anwendung auf Drittstaatsangehörige, die sich zwecks Studiums oder Berufsausbildung in einem Mitgliedstaat aufhalten (Art. 3 Abs. 2 lit. a RL 2003/109/EG) sowie auf Drittstaatsangehörige, deren Aufenthaltsgenehmigung förmlich begrenzt wurde (Art. 3 Abs. 2 lit. e RL 2003/109/EG).
Bei der dem Beschwerdeführer aus Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 erfließenden Aufenthaltsberechtigung handelt es sich auf Grund der – im Weiteren näher dargestellten – Kombination einer zeitlichen und inhaltlichen Befristung um eine förmlich begrenzte Aufenthaltsgenehmigung im Sinne des Art. 3 Abs. 2 lit. e RL 2003/109/EG.
So ergibt sich aus dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80, dass der erste und der zweite Spiegelstrich dieser Bestimmung lediglich die Voraussetzungen regeln, unter denen ein türkischer Arbeitnehmer, der rechtmäßig in das Hoheitsgebiet eines Mietgliedstaats eingereist ist und dort die Erlaubnis erhalten hat, eine Beschäftigung auszuüben, seine Tätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat ausüben kann. Nach einem Jahr ordnungsgemäßer Beschäftigung darf er weiterhin bei demselben Arbeitgeber arbeiten (erster Spiegelstrich) und nach drei Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung kann er sich – vorbehaltlich des den Arbeitnehmer aus den Mitgliedstaaten einzuräumenden Vorrangs – für den gleichen Beruf auf ein Stellenangebot eines anderen Arbeitgebers bewerben (zweiter Spiegelstrich). Der dritte Spiegelstrich (nach vier Jahren ordnungsgemäßer Beschäftigung) verleiht dem türkischen Arbeitnehmer nicht nur das Recht, sich auf ein vorliegendes Stellenangebot zu bewerben, sondern auch uneingeschränkten Zugang zu jeder von ihm frei gewählten Beschäftigung im Lohn- oder Gehaltsverhältnis. Somit kann generell ein Recht nach Art. 6 Abs. 1 dritter Spiegelstrich ARB 1/80 nicht allein aufgrund der Tatsache geltend gemacht werden, dass ein türkischer Staatsangehöriger im Aufnahmemitgliedstaat mehr als vier Jahre lang rechtmäßig eine Tätigkeit im Lohn- oder Gehaltsverhältnis ausgeübt hat, wenn er nicht mehr als ein Jahr bei demselben Arbeitgeber und zwei weitere Jahre für diesen gearbeitet hat (VwGH 21.3.2017, Ra 2016/22/0098).
Mit anderen Worten vermittelt Art. 6 Abs. 1 ARB 1/80 über die (schrittweise erweiterte) Zugehörigkeit zum inländischen Arbeitsmarkt ein abgeleitetes Aufenthaltsrecht. Dieses abgeleitete Aufenthaltsrecht verlangt die Zugehörigkeit zum Arbeitsmarkt (es handelt sich also um kein "zeitlich unbeschränktes und unbedingtes Aufenthaltsrecht" - Akyürek, Das Assoziationsabkommen EWZ - Türkei (2005), Seite 140) und besteht dann nicht mehr (fort), wenn von einer Rückkehr auf den inländischen Arbeitsmarkt in angemessener Zeit nicht mehr auszugehen ist (VwGH 20.11.2003, 2001/09/0239; sowie VwGH 15.3.2000, 98/09/0054).
Aufgrund des Zusammenspiels der inhaltlichen und zeitlichen Befristung des dem Beschwerdeführer aus Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 abgeleiteten Aufenthaltsrechts ist der Sachverhalt nicht mit jenem betreffend das Urteil des EuGH vom 18.10.2012, Rs C-502/10, Mangat Singh, vergleichbar, in welchem es ausschließlich um zeitliche Befristungen ging.
Daraus ergibt sich, dass § 45 NAG auf Fälle wie den gegenständlichen nicht anwendbar ist, weil gegenständlich eine förmlich begrenzte Aufenthaltsgenehmigung vorliegt.
Dieses Ergebnis wird auch durch die Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes gestützt, welcher betreffend einen Revisionswerber, der als Inhaber des Aufenthaltstitels „Studierender“ auch die Voraussetzungen des Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 erfüllte und im Rahmen eines Verlängerungsverfahren den Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot Karte plus“ beantragte, Folgendes ausführte (VwGH 9.8.2018, Ro 2017/22/0015; 6.9.2018 Ro 2018/22/0008):
„Davon unabhängig ist die erfolgte Abweisung des Antrags auf Titelerteilung auch deshalb nicht zu beanstanden, weil – wie sich aus § 17 AuslBG ergibt – die Rechte aus dem begehrten Aufenthaltstitel „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ über die Berechtigung nach Art. 6 Abs. 1 erster Spiegelstrich ARB 1/80 hinausgehen. Ein auf ARB 1/80 gestützter Anspruch auf Erteilung eines nationalen Aufenthaltstitels, der eine darüber hinausgehende Berechtigung einräumt, ist zu verneinen, weil dem Betroffenen nur ein entsprechendes Aufenthaltsrecht zukommt (vgl. EuGH 18.12.2008, Altun, C-337/07, Rn. 21).“
Gemäß § 17 AuslBG sind neben Inhabern einer „Rot-Weiß-Rot – Karte plus“ unter anderem auch Inhaber eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt – EU“ zur Ausübung einer Beschäftigung im gesamten Bundesgebiet berechtigt. Schon aus diesem Grund ist – im Hinblick auf die zitierte Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes – der begehrte Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt – EU“ dem Beschwerdeführer nicht zu erteilen.
Der Verwaltungsgerichtshof sah in der zitierten Entscheidung die im ARB 1/80 geregelte Stillhalteklausel implizit nicht widersprüchlich zum Ergebnis der Entscheidung an. Nichts anderes kann für den gegenständlich zu beurteilenden Fall gelten. Zudem bedeutet das auch, dass es sich bei dem ARB 1/80 nicht um günstigere Bestimmungen einer multilateralen Übereinkunft im Sinne des Art. 3 Abs. 3 lit. a RL 2003/109/EG handelt.
Die Beschwerde ist daher abzuweisen.
3. Über die Verlängerung eines bisher innegehabten Aufenthaltstitels ist gemäß § 24 Abs. 4 NAG gesondert mit Bescheid abzusprechen, wenn die Voraussetzungen für den begehrten anderen Aufenthaltstitel nicht erfüllt werden (VwGH 14.5.2009, 2008/22/0075). Die belangte Behörde hat mit dem angefochtenen Bescheid nur über die begehrte Zweckänderung (Aufenthaltstitel für den Zweck „Familienangehörige“) abgesprochen. Der Antrag auf Verlängerung des Aufenthaltstitels zum Zweck eines Studiums ist nicht Gegenstand des angefochtenen Bescheids.
Im quasi fortzusetzenden Verfahren ist nun von der Behörde erstmals über den Verlängerungsantrag betreffend den Aufenthaltszweck „Student“ zu entscheiden. Die von der Beschwerdeführerin begehrte meritorische Entscheidung über den Verlängerungsantrag steht dem Verwaltungsgericht selbst nämlich im Beschwerdefall nicht offen. Eine erstmalige inhaltliche Entscheidung über diesen Antrag würde den Gegenstand des Verfahrens überschreiten (VwGH 16.9.2015, Ra 2015/22/0082).
4. Die ordentliche Revision ist zulässig, weil eine Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B-VG zu beurteilen war, der grundsätzliche Bedeutung zukommt. Es fehlt an einer Rechtsprechung, ob türkische Staatsangehörige, die unter Art. 6 erster Spiegelstrich ARB 1/80 fallen, als niedergelassen im Sinne des § 45 Abs. 1 und Abs. 2 NAG gelten und daher die Zeiten einer der Niederlassung vorangehenden Aufenthaltsbewilligung „Student“ zur Hälfte gemäß § 45 Abs. 2 NAG auf die Fünfjahresfrist des § 45 Abs. 1 NAG anzurechnen sind.
Schlagworte
Verlängerungsantrag; Zweckänderungsantrag; abgeleitetes Aufenthaltsrecht; befristetes Aufenthaltsrecht; Richtlinie 2003/109/EGAnmerkung
VwGH v. 23.1.2020, Ro 2019/22/0009; AbweisungEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:LVWGWI:2019:VGW.151.094.5333.2019Zuletzt aktualisiert am
06.04.2020