Entscheidungsdatum
15.02.2019Norm
AsylG 2005 §10 Abs2Spruch
I406 2209995-1/3E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Gerhard KNITEL als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX (alias XXXX alias XXXX alias XXXX) XXXX (alias XXXX), geboren am XXXX (alias XXXX), Staatsangehörigkeit Nigeria, vertreten durch den MigrantInnenverein St. Marx, Pulverturmgasse 4/2/R01, 1090 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.10.2018, Zl. XXXX, zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang
1. Der Beschwerdeführer reiste erstmals am 13.06.2002 illegal in das österreichische Bundesgebiet ein und stellte am selben Tag einen Antrag auf internationalen Schutz. Das Asylverfahren des Beschwerdeführers wurde am 07.10.2002 eingestellt. Mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 17.12.2002 wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz abgewiesen und seine Abschiebung nach Nigeria für zulässig erklärt. Diese Entscheidung erwuchs am 13.02.2003 in I. Instanz in Rechtskraft.
2. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX XXXX vom 29.09.2003, Zl. XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen § 28 Abs. 2 SMG; § 28 Abs. 2 1. Fall SMG, § 15 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von zwei Jahren rechtskräftig verurteilt.
3. Aufgrund dieser Verurteilung erließ die Bundespolizeidirektion
XXXX - XXXX mit Bescheid vom 01.06.2004 ein unbefristetes Aufenthaltsverbot gegen den Beschwerdeführer. Der dagegen eingebrachten Berufung wurde mit Bescheid der Sicherheitsdirektion vom 13.09.2004 keine Folge gegeben und der angefochtene Bescheid bestätigt, womit das gegen den Beschwerdeführer erlassene Aufenthaltsverbot mit 22.09.2004 in Rechtskraft erwuchs.
4. Am 11.11.2004 stellte der Beschwerdeführer aus dem Stande der Strafhaft einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, welcher mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 13.12.2004 wegen entschiedener Sache gemäß § 68 AVG zurückgewiesen wurde. Diese Entscheidung erwuchs am 28.06.2006 in Rechtskraft.
5. Mit Urteil des Bezirksgerichtes XXXX vom 28.11.2006, Zl. XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen § 27 Abs. 1 SMG zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zwei Monaten, unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren, rechtskräftig verurteilt.
6. Ein neuerlicher Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz vom 10.08.2007 wurde mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 03.09.2007, rechtskräftig mit 18.09.2007, gemäß § 68 AVG zurückgewiesen und gegen den Beschwerdeführer eine Ausweisung aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Nigeria erlassen.
7. Der Beschwerdeführer tauchte unter und brachte in weiterer Folge am 17.02.2012 beim Amt der XXXX Landesregierung - XXXX - einen Erstantrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" ein.
8. Aufgrund des illegalen Aufenthaltes des Beschwerdeführers wurde neuerlich ein Verfahren zur Aufenthaltsbeendigung eingeleitet. Dabei stellte sich heraus, dass der Beschwerdeführer im Besitz eines italienischen Aufenthaltstitels war und sich an die gesetzlichen Bestimmungen in Bezug auf die sichtvermerksfreie Aufenthaltsdauer hielt. Daraufhin wurde das Verfahren zur Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme eingestellt.
9. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 27.02.2013, Zl. XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen § 15 StGB, § 269 Abs. 1 dritter Fall StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von drei Monaten, unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren, rechtskräftig verurteilt.
10. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 22.04.2014, Zl. XXXX wurde der Beschwerdeführer wegen § 15 StGB, § 269 Abs. 1 erster Fall StGB, § 125 StGB und § 83 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von zehn Monaten, davon sieben Monate bedingt, unter Setzung einer Probezeit von drei Jahren rechtskräftig verurteilt.
11. Am 07.07.2014 beantragte der Beschwerdeführer die Aufhebung des gegen ihn seit 22.09.2004 bestehenden unbefristeten Aufenthaltsverbotes. Dabei machte er geltend, eine Aufenthaltsbewilligung für Italien sowie eine österreichische Ehefrau und gemeinsam mit dieser drei Kinder im Bundesgebiet zu haben. Er besuche dreimal pro Woche eine Therapie, deshalb sei ihm eine Ausreise aus Österreich nicht möglich. Zudem spreche er gut Deutsch, seine Situation habe sich zum Positiven verändert und es liege eine lange Zeitspanne des Wohlverhaltens vor.
12. Der Beschwerdeführer wurde am 20.10.2015 einer fremdenpolizeilichen Kontrolle unterzogen, im Zuge derer seine Dokumente (Kopie des Reisepasses und italienisches Identitätsdokument) sichergestellt und der belangten Behörde übermittelt wurden.
13. Am 14.12.2015 fand eine niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers vor der belangten Behörde statt. Dabei wurde ihm mitgeteilt, dass er sich trotz italienischer Dokumente illegal im Bundesgebiet aufhalte, es zwar beabsichtigt sei, seinem Antrag auf Aufhebung des Aufenthaltsverbotes stattzugeben, jedoch aufgrund seiner beiden rechtskräftigen Verurteilungen österreichischer Strafgerichte die Erlassung einer Rückkehrentscheidung iVm einem Einreiseverbot beabsichtigt sei. Der Beschwerdeführer erklärte, zuletzt 2014 oder 2015 in das österreichische Bundesgebiet eingereist zu sein. Er sei mittlerweile geschieden und die Jugendwohlfahrt habe die Obsorge über seine drei Kinder, welche er alle zwei Wochen sehe. Auch zu seiner Ex-Gattin habe er manchmal Kontakt. Er bereue seine Straftaten, sei sehr lange nicht mehr straffällig geworden und wolle in Hinblick auf seine Kinder in Österreich bleiben. Dem Beschwerdeführer wurden seine Dokumente ausgefolgt und er erhielt einen Ausreiseauftrag.
14. Dem rechtsfreundlichen Vertreter des Beschwerdeführers wurde eine 14-tägige Frist zur Erstattung einer Stellungnahme eingeräumt. Eine solche langte am 28.12.2015 ein, wobei zusammengefasst angeführt wurde, dass die Verurteilungen des Beschwerdeführers nicht einschlägig seien, er unter relevanten gesundheitlichen Problemen leide und auch das Wohl seiner in Österreich lebenden Kinder, welche ein Recht auf den Kontakt und die Unterstützung durch den Beschwerdeführer als Vater hätten, nicht außer Acht gelassen werden dürfe.
15. Mit Bescheid des Amtes der XXXX Landesregierung, XXXX, vom 28.01.2016 wurde der Antrag des Beschwerdeführers vom 17.02.2012 auf Erteilung eines Aufenthaltstitels "Familienangehöriger" zurückgewiesen.
16. Am 25.02.2016 langte die Mitteilung ein, dass der Beschwerdeführer das österreichische Bundesgebiet nachweislich verlassen habe.
17. Am 17.06.2016 wurde der Beschwerdeführer neuerlich betreten und einer fremdenrechtlichen Kontrolle unterzogen. Dabei wurde sein nigerianischer Reisepass neuerlich sichergestellt.
18. Im Zuge einer niederschriftlichen Einvernahme am 27.06.2016 durch die belangte Behörde erklärte der Beschwerdeführer, es habe sich an seinen persönlichen Verhältnissen nichts Relevantes geändert. Er benötige weitere Therapien und sei aufgrund eines Gerichtstermins neuerlich nach Österreich gekommen. Dem Beschwerdeführer wurde neuerlich sein Reisepass ausgehändigt und er wurde zur Ausreise aufgefordert.
19. Mit Urteil des Landesgerichtes XXXX vom 20.09.2017, Zl. XXXX, wurde der Beschwerdeführer wegen § 27 Abs. 2a SMG zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von vier Monaten rechtskräftig verurteilt.
20. Am 15.12.2017 wurde er neuerlich von Beamten der Landespolizeidirektion XXXX bei seinem unrechtmäßigen Aufenthalt betreten. Seine Dokumente wurden wiederum sichergestellt und der belangten Behörde übermittelt.
21. Im Zuge einer niederschriftlichen Einvernahme durch die belangte Behörde am 05.01.2018 wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass es sich bei seiner jüngsten strafgerichtlichen Verurteilung nach dem SMG um eine einschlägige Verurteilung handle, sein Aufenthalt im Bundesgebiet weiterhin zu einer Gefährdung der öffentlichen Ordnung und Sicherheit führe und daher die Erlassung einer Rückkehrentscheidung iVm einem Einreiseverbot weiter beabsichtigt sei. Dem Beschwerdeführer wurden seine italienischen Dokumente, sein Reisepass und ein Ausreiseauftrag übergeben. Er wurde darauf hingewiesen, dass er im Falle eines neuerlichen Antreffens im österreichischen Bundesgebiet mit einer Abschiebung nach Nigeria zu rechnen habe.
22. Am 23.01.2018 langte eine ergänzende Stellungnahme des rechtsfreundlichen Vertreters des Beschwerdeführers ein, wobei im Wesentlichen angegeben wurde, dass der Beschwerdeführer engen Kontakt zu seinen Kindern pflege und dies auch für das Kindeswohl wichtig sei. Um seine Schwächen in den Griff zu bekommen, nehme er an einer arbeitstherapeutischen Maßnahme der Caritas teil.
23. Am 20.03.2018 wurde der Beschwerdeführer neuerlich bei seinem illegalen Aufenthalt betreten und seine Dokumente sichergestellt.
24. Mit Bescheid der belangten Behörde vom 26.06.2018 wurde der Antrag des Beschwerdeführers vom 07.07.2014 auf Aufhebung des gegen ihn bestehenden Aufenthaltsverbotes zurückgewiesen, da besagte aufenthaltsbeendende Entscheidung aufgrund der geänderten Rechtslage nur bis 18.09.2017 aufrecht war.
25. Am 24.07.2018 fand eine weitere niederschriftliche Einvernahme des Beschwerdeführers durch die belangte Behörde betreffend die Erlassung einer Rückkehrentscheidung iVm Einreiseverbot statt, wobei die belangte Behörde zur Sicherung des Verfahrens den Reisepass und den italienischen Aufenthaltstitel des Beschwerdeführers vorübergehend einbehielt.
26. In einer Stellungnahme vom 07.08.2018 wies die rechtsfreundliche Vertretung des Beschwerdeführers wiederum auf die familiären Verhältnisse des Beschwerdeführers und die Notwendigkeit, den unmittelbaren Kontakt mit seinen Kindern aufrecht zu erhalten, hin. Dabei sei nicht nur Artikel 8 EMRK zu berücksichtigen, sondern auch das Recht der Kinder. Zudem bestehe aufgrund des Aufenthaltsrechtes des Beschwerdeführers in Italien nicht die Notwendigkeit einer Außerlandeserbringung nach Nigeria.
27. Mit Bescheid vom 22.10.2018, Zl. XXXX, wurde dem Beschwerdeführer ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 AsylG nicht erteilt (Spruchpunkt I.). Gemäß § 10 Absatz 2 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz wurde gegen den Beschwerdeführer eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Absatz 1 Ziffer 1 Fremdenpolizeigesetz erlassen (Spruchpunkt II.). Es wurde festgestellt, dass die Abschiebung des Beschwerdeführers gemäß § 46 FPG nach Nigeria zulässig ist (Spruchpunkt III.) Weiters wurde einer Beschwerde gegen diese Entscheidung gemäß § 18 Absatz 2 BFA-VG die aufschiebende Wirkung aberkannt (Spruchpunkt IV.) und wurde gemäß § 53 Absatz 1 iVm Absatz 3 Ziffer 1 FPG gegen den Beschwerdeführer ein auf die Dauer von sieben Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen (Spruchpunkt V.).
Begründend führte die belangte Behörde aus, dass sich der Beschwerdeführer seit zumindest März 2013 durchgehend illegal in Österreich aufgehalten habe. Der Beschwerdeführer sei in Österreich weder beruflich noch sozial eng verankert, noch verfüge er über derart enge familiäre oder private Bindungen in Österreich, die geeignet wären, von der Erlassung einer Rückkehrentscheidung abzusehen, zumal sich die Kinder des Beschwerdeführers nicht in dessen Obhut befinden und er auch nicht das Sorgerecht innehabe. Es sei von einer besonderen kriminellen Neigung des Beschwerdeführers auszugehen und auch eine Verhaltensprognose falle gegen ihn aus. Durch sein Verhalten (illegale Einreise, illegaler Aufenthalt, Ausreiseunwilligkeit, unerlaubte und unangemeldete Arbeitsaufnahme, strafbares Verhalten) sei die öffentliche Ordnung und Sicherheit nachhaltig gefährdet. Im Interesse der öffentlichen Ordnung und Sicherheit sei die sofortige Ausreise des Beschwerdeführers erforderlich. Die Dauer des erlassenen Einreiseverbotes entspreche jenem Zeitraum, innerhalb dessen ein allfälliger positiver Gesinnungswandel des Beschwerdeführers zu den österreichischen Rechtsvorschriften zu erwarten sei.
28. Weiters traf die belangte Behörde folgende Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat des Beschwerdeführers:
1. Politische Lage
Nigeria ist in 36 Bundesstaaten und einen Bundeshauptstadtbezirk sowie 774 Local Government Areas (LGA/Bezirke) untergliedert. Die Bundesstaaten werden von direkt gewählten Gouverneuren regiert (AA 21.11.2016; vgl. AA 4.2017a; vgl. GIZ 7.2017a). Die Bundesstaaten verfügen auch über direkt gewählte Parlamente (AA 4.2017a).
Nigeria verfügt über ein Mehrparteiensystem. Die Verfassung vom 29.5.1999 enthält alle Attribute eines demokratischen Rechtsstaates (inkl. Grundrechtskatalog), und orientiert sich insgesamt am System der USA. Einem starken Präsidenten, der zugleich Oberbefehlshaber der Streitkräfte ist, und einem Vizepräsidenten stehen ein aus Senat und Repräsentantenhaus bestehendes Parlament und eine unabhängige Justiz gegenüber (AA 21.11.2016; vgl. AA 4.2017a). In der Verfassungswirklichkeit dominiert die Exekutive in Gestalt des direkt gewählten Präsidenten und die direkt gewählten Gouverneure. Der Kampf um politische Ämter wird mit großer Intensität und häufig auch mit undemokratischen, gewaltsamen Mitteln geführt. Polizei und Justiz werden ebenfalls vom Bund kontrolliert (AA 21.11.2016).
Die Parteienzugehörigkeit orientiert sich bei den meisten der ca. 50 kleineren Parteien an Führungspersonen. Loyalitäten gegenüber der eigenen ethnischen Gruppe bzw. gegenüber Personen gehen anderen Loyalitäten vor; entsprechend repräsentiert keine der Parteien eine eindeutige politische Richtung (AA 21.11.2016).
Die Wahlen von Präsident und Nationalversammlung 2015 und die seitdem stattgefundenen
Wahlen der Gouverneur- und Landesparlamente in 31 von 36 Bundesstaaten haben die politische Landschaft in Nigeria grundlegend verändert. Die seit 2013 im All Progressives' Congress (APC) vereinigte Opposition gewann neben der Präsidentschaftswahl eine klare Mehrheit in beiden Häusern des Parlaments und regiert nun auch in 23 der 36 Bundesstaaten. Die seit 1999 dominierende People-s Democratic Party (PDP) musste zum ersten Mal in die Opposition und ist durch Streitigkeiten um die Parteiführung stark geschwächt. Lediglich in den südöstlichen Bundesstaaten des ölreichen Niger-Deltas konnte sie sich als Regierungspartei behaupten (AA 21.11.2016).
Bei den Präsidentschaftswahlen am 28.3.2015 besiegte der frühere Militärmachthaber und Kandidat der Opposition, Muhammadu Buhari, den bisherigen Amtsinhaber Goodluck Jonathan mit 54,9 Prozent der abgegebenen Stimmen. Bei diesen Wahlen, die von der internationalen Öffentlichkeit als beispielhaft für die Demokratie Afrikas gelobt wurden, kam es zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit Nigerias zu einem demokratischen Machtwechsel (GIZ 7.2017a). Der APC gewann die Gouverneurswahlen in 20 von 29 Bundesstaaten. Er stellt in den 36 Bundesstaaten derzeit 24 Gouverneure, die PDP 11 und All Progress Grand Alliance (APGA) einen Gouverneur. Unter den 36 Gouverneuren ist weiterhin keine Frau. Die Wahlen vom März/April 2015 wurden sowohl in Nigeria als auch von internationalen Wahlbeobachtern trotz organisatorischer Mängel als im Großen und Ganzen frei und fair bezeichnet. Die Spitzenkandidaten Jonathan und Buhari hatten sich in einer Vereinbarung (Abuja Accord) zur Gewaltlosigkeit verpflichtet. Dies und die Tatsache, dass Präsident Jonathan seine Wahlniederlage sofort anerkannte, dürfte größere gewalttätige Auseinandersetzungen verhindert haben. Die Minister der Regierung Buhari wurden nach einem längeren Sondierungsprozess am 11.11.2015 vereidigt (AA 4.2017a).
Neben der modernen Staatsgewalt haben auch die traditionellen Führer immer noch einen nicht zu unterschätzenden, wenn auch weitgehend informellen Einfluss. Sie gelten als Kommunikationszentrum und moralische Instanz und können wichtige Vermittler in kommunalen und in religiös gefärbten Konflikten sein (AA 4.2017a).
Fast im ganzen Norden Nigerias ist das System der LGA kollabiert. Große Teile kamen unter Kontrolle von Milizen und lokalen "Strongmen", die den politischen und sozio-ökonomischen Raum ausfüllen. Dies führte zur Vertiefung lokaler und regionaler Missstände (BS 2016).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (21.11.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria
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AA - Auswärtiges Amt (4.2017a): Nigeria - Innenpolitik, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Nigeria/Innenpolitik_node.html, Zugriff 6.7.2017
-
BS - Bertelsmann Stiftung (2016): BTI 2016 - Nigeria Country Report,
https://www.bti-project.org/fileadmin/files/BTI/Downloads/Reports/2016/pdf/BTI_2016_Nigeria.pdf, Zugriff 6.7.2017
-
GIZ - Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (7.2017a): Nigeria - Geschichte und Staat, http://liportal.giz.de/nigeria/geschichte-staat.html, Zugriff 2.8.2017
2. Sicherheitslage
Es gibt in Nigeria keine klassischen Bürgerkriegsgebiete und keine Bürgerkriegsparteien (AA 21.11.2016). In drei Gebieten herrschen Unsicherheit und Spannungen: im Nordosten (islamistische Gruppe Boko Haram); im Middle Belt (v.a. im Bundesstaat Plateau); und im Nigerdelta (SBM 17.1.2017). Laut SBM Intel war Boko Haram im Jahr 2016 für 71 Vorfälle mit 1.240 Toten verantwortlich. Den Fulani-Hirten werden für das Jahr 2016 47 Vorfälle mit 1425 Toten zugeschrieben. Viehdiebstahl, welcher für viele Jahre an Bedeutung verloren hat, ist inzwischen für Hirten, die hauptsächlich von Fulani abstammen, ein Grund für Konflikte und Angriffe geworden. Bei zwölf Vorfällen von Viehdiebstahl sind 470 Menschen getötet worden. Die Ölkonflikte, die sich im Jahr 2016 im Nigerdelta zugetragen haben, haben sich auf die ölproduzierenden Bundesstaaten im Südwesten und Südosten verbreitet. Bei 32 Vorfällen wurden 97 Menschen getötet (SBM 17.1.2017).
Es besteht aufgrund wiederholter Angriffe und Sprengstoffanschläge militanter Gruppen (Boko Haram, Ansaru) derzeit ein sehr hohes Anschlagsrisiko insbesondere für Nord- und Nordostnigeria, einschließlich für die Hauptstadt Abuja. In mehreren Städten Nord- und Nordostnigerias finden immer wieder Gefechte zwischen Sicherheitskräften und militanten Gruppen statt. Angehörige der Sicherheitskräfte, Regierungsstellen, christliche Einrichtungen - aber auch Einrichtungen gemäßigter Moslems - sowie Märkte, Wohnviertel und internationale Organisationen sind Anschlagsziele der militanten Gruppen. Drohungen bestehen gegen moslemische Einrichtungen im Süden (BMEIA 24.7.2017).
Das deutsche Auswärtige Amt warnt vor Reisen in die nördlichen Bundesstaaten Borno, Yobe, Adamawa, Bauchi und Gombe. Darüber hinaus wird auch von nicht notwendigen Reisen in die übrigen Landesteile Nordnigerias abgeraten. Wegen des besonders hohen Entführungsrisikos wird außerdem von Reisen in die Bundesstaaten Delta, Bayelsa, Rivers, Imo (insb. Hauptstadt Owerri), Abia, Anambra, Ebonyi, Edo, Enugu, Delta, Kogi, den südlichen Teil von Cross Rivers, Ogun und Akwa Ibom abgeraten (AA 24.7.2017). Auch das österreichische Außenministerium warnt vor Reisen in die Bundesstaaten Borno, Yobe, Adamawa, Plateau sowie den südlichen Landesteil von Bauchi und Kano. Mit Gewaltausbrüchen in allen zwölf nördlichen Bundestaaten ist jederzeit zu rechnen (BMEIA 24.7.2017). Das britische Außenministerium warnt zusätzlich noch vor Reisen in die Flussgegenden der Bundesstaaten Delta, Bayelsa, Rivers, Akwa Ibom und Cross River States sowie an die Grenze zu Niger im Bundesstaat Zamfara (UKFCO 24.7.2017).
Das österreichische Außenministerium hat für folgende Bundesstaaten eine partielle Reisewarnung ausgesprochen: Abia, Akwa Ibom, Anambra, Bayelsa, Delta, Ebonyi, Edo, Ekiti, Enugu, Imo, Kaduna, Kano, Oyo, Ondo, Rivers, einschließlich Port Harcourt und die vorgelagerten Küstengewässer (BMEIA 24.7.2017). Das britische Außenministerium warnt vor unnötigen Reisen nach: Bauchi, Zamfara, Kano, Kaduna, Jigawa, Katsina, Kogi, Abia sowie an die Grenze zu Niger in Sokoto und Kebbi und die Trockengebiete von Delta, Bayelesa und Rivers (UKFCO 24.7.2017). In Nigeria können in allen Regionen meist kaum vorhersehbar lokale Konflikte aufbrechen. Ursachen und Anlässe dafür sind meist politischer, wirtschaftlicher, religiöser oder ethnischer Art. Meist sind diese Auseinandersetzungen von kurzer Dauer (wenige Tage) und örtlich begrenzt (meist nur einzelne Orte, in größeren Städten nur einzelne Stadtteile) (AA 24.7.2017).
In Lagos kommt es zu gewalttätigen Zusammenstößen zwischen verschiedenen Ethnien, politischen Gruppierungen aber auch zwischen Militär und Polizeikräften (BMEIA 24.7.2017) bzw. zu Problemen (u.a. Mobs, Plünderungen) durch die sogenannten "Area Boys". Der Einsatz von Schlägertruppen und privaten Milizen zur Erreichung politischer oder wirtschaftlicher Ziele ist weit verbreitet (AA 21.11.2016).
Gemäß den Zahlen des Council on Foreign Relations für die Zeitspanne Jänner 2016 bis Juni 2017 stechen folgende nigerianische Bundesstaaten mit einer hohen Anzahl an Toten durch Gewaltakte besonders hervor: Borno (3.097), Benue (754), Rivers (360), Zamfara (308) und Adamawa (201). Folgende Bundesstaaten stechen mit einer relativ niedrigen Zahl hervor: Jigawa (2), Gombe (3), Kebbi (7) und Sokoto (8) (CFR 2017). Laut OSAC besteht eine erhebliche terroristische Bedrohung vor allem in Nordnigeria. Boko Haram hat für die meisten terroristischen Aktivitäten die Verantwortung übernommen. In der gesamten Nigerdelta-Region greifen mehrere aufständische Gruppen gezielt die Infrastruktur und Mitarbeiter von internationalen Ölgesellschaften an. Viele Gebiete im südlichen Nigeria erleben aufgrund großer Armut, mangelnder Bildung, Jugendarbeitslosigkeit und bedeutender Inflation Unruhen verursacht durch Zivilisten (OSAC 4.7.2017).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (21.11.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria
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AA - Auswärtiges Amt (24.7.2017): Nigeria - Reise- und Sicherheitshinweise (Teilreisewarnung), http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Laenderinformationen/00-SiHi/NigeriaSicherheit.html, Zugriff 24.7.2017
-
BMEIA - Außenministerium (24.7.2017): Reiseinformationen - Nigeria,
http://www.bmeia.gv.at/aussenministerium/buergerservice/reiseinformation/a-z-laender/nigeria-de.html, Zugriff 24.7.2017
-
CFR - Council on Foreign Relations (2017): Nigeria Security Tracker, http://www.cfr.org/nigeria/nigeria-security-tracker/p29483, Zugriff 25.7.2017
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OSAC - Overseas Security Advisory Council (4.7.2017): Nigeria 2017 Crime and Safety Report - Abuja, https://www.osac.gov/pages/ContentReportDetails.aspx?cid=21604, Zugriff 25.7.2017
-
SBM - SBM Intel (7.1.2017): A Look at Nigeria's Security Situation,
http://sbmintel.com/wp-content/uploads/2016/03/201701_Security-report.pdf, Zugriff 24.7.2017
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UKFCO - United Kingdom Foreign and Commonwealth Office (24.7.2017): Foreign Travel Advice - Nigeria, https://www.gov.uk/foreign-travel-advice/nigeria, Zugriff 24.7.2017
2.1. Nigerdelta
Das Nigerdelta, welches die Bundesstaaten Ondo, Edo, Delta, Bayelsa, Rivers, Imo, Abia, Akwa Ibom und Cross River umfasst, sorgt mit seinen Öl- und Gasreserven für 95 Prozent der Exporterlöse Nigerias (DACH 2.2013; vgl. OP 22.6.2017).
Die Lage im Nigerdelta hat sich seit November 2016 wieder beruhigt, ist aber noch nicht vollständig stabil und bleibt volatil; die Bedrohung der dort angesiedelten Öl- und Gasförderung durch militante Gruppen und Piraten bleibt ein Risiko, ebenso wie die Verschlechterung der ökologischen Grundlagen der Region (AA 4.2017c). Es gab eine Reihe von Angriffen auf die Ölinfrastrukturen, so zum Beispiel übernahm im Mai 2016 die aufständische Gruppe Niger Delta Avengers die Verantwortung für mehrere Angriffe auf die Ölgiganten Chevron, Shell und Nigerian National Petroleum Company (N24 29.5.2016). Ende August 2016 gaben die Niger Delta Avengers bekannt, dass die Gruppe die Feindseligkeiten einstellt und zum Dialog mit der Regierung bereit sei (NW 30.8.2016). Die Delta Avengers haben mit ihren Angriffen aufgehört, um den Friedensgesprächen eine Chance zu geben. Allerdings hat sich eine neue Gruppe, die sich die "New Delta Avengers" nennen, gebildet (Reuters 14.6.2017; vgl. NW 29.6.2017). Der Vizepräsident, Yemi Osinbajo, hat dem Nigerdelta bereits mehrere Besuche abgestattet und sich dabei mit traditionellen Führern und lokalen Politikern getroffen, um die Lage zu besprechen (FT 9.4.2017).
Entführungen sind besonders häufig im Nigerdelta und in den südöstlichen Bundesstaaten Abia, Imo und Anambra. Politiker, Reiche und Ausländer waren die häufigsten Opfer (FH 1.2017).
Von 2000 bis 2010 agierten im Nigerdelta militante Gruppen, die den Anspruch erhoben, die Rechte der Deltabewohner zu verteidigen und die Forderungen auf Teilhabe an den Öleinnahmen auch mittels Gewalt gegenüber der Regierung durchzusetzen (AA 21.11.2016).
2009 gelang dem damaligen Präsidenten Yar'Adua mit dem Amnestieangebot für die Militanten im Niger-Delta eine Beruhigung des Konflikts. Unter Buhari lief das Programm am 15.12.2015 aus. Damit begannen wieder die Angriffe auf die Ölinfrastruktur und die Produktion brach ein. Die Regierung scheint vornehmlich auf eine militärische Lösung zu setzen (AA 21.11.2016). Mit dem Amnestieprogramm gingen Kriminalität und Gewalt im Süden zunächst merklich zurück. Allerdings steigen Kriminalität und Gewalt in letzter Zeit wieder an. Deshalb hat die Regierung Buhari im Februar 2016 beschlossen, das Ende 2015 ausgelaufene Amnestieprogramm um weitere zwei Jahre bis 2017 zu verlängern (AA 4.2017a).
Bei den bewaffneten Auseinandersetzungen im Nigerdelta handelt es sich sowohl um einen Konflikt zwischen regionalen militanten Gruppen und der Staatsgewalt, als auch um Rivalitäten zwischen den unterschiedlichen lokalen Gemeinschaften. Im ersten Fall stehen in der Regel finanzielle Interessen der bewaffneten Gruppen im Vordergrund, im zweiten Fall geht es um einen Verteilungskampf rivalisierender Gruppen. Abgelegene Gebiete im Nigerdelta sind bis heute teils unter Kontrolle von separatistischen und kriminellen Gruppen. Teile des unzugänglichen Gebiets stellen weiterhin einen weitgehend rechtsfreien Raum dar, in dem die Einflussmöglichkeiten staatlicher Ordnungskräfte begrenzt sind (AA 21.11.2016). Das UK Home Office berichtet, dass laut DefenceWeb eine Joint Task Force (JTF) 2013 eingerichtet wurde, um den Terrorismus und andere Bedrohungen im Nigerdelta zu bekämpfen (UKHO 8.2016a). Die JTF, auch Operation Pulo Shield genannt, wurde im Juni 2016 umstrukturiert und mit der neuen Operation Delta Safe ersetzt, damit die derzeitigen Sicherheitsprobleme im Nigerdelta angegangen werden können (PT 22.6.2016; vgl. auch NT 9.7.2016).
Quellen:
-
AA - Auswärtiges Amt (21.11.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria
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AA - Auswärtiges Amt (4.2017c): Nigeria - Wirtschaft, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Nigeria/Wirtschaft_node.html, Zugriff 26.7.2017
-
AA - Auswärtiges Amt (4.2017a): Nigeria - Innenpolitik, http://www.auswaertiges-amt.de/DE/Aussenpolitik/Laender/Laenderinfos/Nigeria/Innenpolitik_node.html, Zugriff 24.8.2016
-
DACH - Asylkooperation Deutschland-Österreich-Schweiz (27.2.2013):
D-A-CH Fact-sheet zu Nigeria,
http://www.ecoi.net/file_upload/1729_1361973048_dach-nigeria-factsheet-gr-2013-02.doc, Zugriff 27.7.2017
-
FH - Freedom House (1.2017): Freedom in the World 2017 - Nigeria, https://www.ecoi.net/local_link/341818/485138_de.html, Zugriff 26.7.2017
-
FT - Financial Times (9.4.2017): Talks help crude and peace flow in the Niger Delta,
https://www.ft.com/content/8fc6b24c-152a-11e7-80f4-13e067d5072c, Zugriff 26.7.2017
-
N24 - News 24 (29.5.2016): Buhari to keep Delta amnesty programme, http://www.news24.com/Africa/News/buhari-to-keep-delta-amnesty-programme-20160529-2, Zugriff 26.7.2017
-
NT - Nigerian Tribune (9.7.2016): Operation Delta Safe gets new Coordinator,
http://tribuneonlineng.com/operation-delta-safe-gets-new-coordinator/, Zugriff 26.7.2017
-
NW - Newsweek (29.6.2017): Nigeria Oil: Militants Will 'Give Peace a Chance' and Stop Attacks in Niger Delta, http://www.newsweek.com/nigeria-oil-yemi-osinbajo-niger-delta-629964, Zugriff 26.7.2017
-
NW - Newsweek (30.8.2016): Niger Delta Avengers say 'Hostilities ceased' against Nigerian Government, http://europe.newsweek.com/niger-delta-avengers-say-hostilities-ceased-against-nigerian-government-494387?rm=eu, Zugriff 2.8.2017
-
OP - Oilprice.com (22.6.2017): Once Again, Tensions Are Rising In Nigeria's Oil Sector,
http://oilprice.com/Energy/Crude-Oil/Once-Again-Tensions-Are-Rising-In-Nigerias-Oil-Sector.html, Zugriff 25.7.2017
-
PT - Premium Times (22.6.2016): Nigerian military scraps Niger Delta 'Operation Pulo Shield',
http://www.premiumtimesng.com/news/top-news/205761-nigerian-military-scraps-niger-delta-operation-pulo-shield.html, Zugriff 26.7.2017
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Reuters (14.6.2017): Nigeria Oil: Militants Will 'Give Peace a Chance' and Stop Attacks in Niger Delta, http://www.reuters.com/article/nigeria-security-avengers-idUSL8N1J94QB, Zugriff 26.7.2017
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UKHO - UK Home Office (8.2016a): Country Information and Guidance Nigeria: Background information, including actors of protection, and internal relocation,
http://www.ecoi.net/file_upload/1226_1471849541_cig-nigeria-background-v2-0-august-2016.pdf, Zugriff 26.7.2017
3. Rechtsschutz/Justizwesen
Die Verfassung sieht Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz vor (AA 21.11.2016; vgl. FH 2.6.2017). Sie unterscheidet zwischen Bundesgerichten, Gerichten des Hauptstadtbezirks sowie Gerichten der 36 Bundesstaaten. Letztere haben die Befugnis, per Gesetz erstinstanzliche Gerichte einzusetzen. Mit Einführung der erweiterten Scharia-Gesetzgebung in neun nördlichen Bundesstaaten sowie den überwiegend muslimischen Teilen dreier weiterer Bundesstaaten 2000/2001 haben die staatlichen Schariagerichte strafrechtliche Befugnisse erhalten, während sie zuvor auf das islamische Personenstandsrecht beschränkt waren. Bundesgerichte, die nur staatlich kodifiziertes Recht anwenden, sind der Federal High Court (Gesetzgebungsmaterie des Bundes, Steuer-, Körperschafts- und auch Verwaltungssachen), der Court of Appeal (Berufungssachen u.a. der State Court of Appeal und der State Sharia and Customary Court of Appeal) sowie der Supreme Court (Revisionssachen, Organklagen). Der Rechtsweg von der ersten Instanz (Magistrate Court) bis zum Supreme Court ist grundsätzlich eröffnet (AA 21.11.2016). Für Militärangehörige gibt es eigene Militärgerichte (USDOS 3.3.2017).
Laut Bundesverfassung wird die Verfassung und Zuständigkeit der Gerichte seit 1999 im Hinblick auf die Entscheidung über das anzuwendende Rechtssystem "Common Law" oder des "Customary Court Law"-Systems durch Gesetze der Gliedstaaten festgestellt. Einzelne Bundesstaaten haben "Sharia Courts" neben "Common Law" und "Customary Courts" geschaffen. Mehrere Bundesstaaten, einschließlich die gemischt konfessionellen Bundesstaaten Benue und Plateau, haben Scharia-Berufungsgerichte eingerichtet. Bedingt durch die drei einander mitunter widersprechenden Rechtssysteme und aufgrund der schlechten Bezahlung, Überlastung und fehlenden Infrastruktur ist Korruption im Justizbereich verbreitet (ÖBA 7.2014).
Die Justiz hat ein gewisses Maß an Unabhängigkeit und Professionalität erreicht, doch bleibt sie politischem Einfluss, Korruption und einem Mangel an Ressourcen ausgesetzt (FH 2.6.2017). In der Realität ist die Justiz der Einflussnahme von Exekutive und Legislative sowie einzelner politischer Führungspersonen und der Wirtschaft ausgesetzt. Unterbesetzung, Unterfinanzierung und Ineffizienz verhindern, dass die Justiz ausreichend funktionieren kann. Außerdem fehlt es den Gerichten oftmals an Ausrüstung und Ausbildung, um den eigenen Aufgaben nachzukommen. Vor allem auf Bundesstaats- und Bezirksebene (LGA) versuchen Politiker die Justiz zu beeinflussen. Zusätzlich ist die Justiz von endemischer Korruption geprägt. Wohl gibt es auf Bundesebene strikte Voraussetzungen und Ansprüche für Richter. Allerdings fehlt es auf Bundesstaats- und Bezirksebene an Aufsichtsmöglichkeiten, und dies führt zu Korruption und Misswirtschaft in der Justiz (USDOS 3.3.2017).
Eine willkürliche Strafverfolgung bzw. Strafzumessungspraxis durch Polizei und Justiz, die nach Rasse, Nationalität o.ä. diskriminiert, ist nicht erkennbar. Das bestehende System benachteiligt jedoch tendenziell Ungebildete und Arme, die sich weder von Beschuldigungen freikaufen noch eine Freilassung auf Kaution erwirken können. Zudem ist vielen eine angemessene Wahrung ihrer Rechte auf Grund von fehlenden Kenntnissen selbst elementarster Grund- und Verfahrensrechte nicht möglich. Auch der Zugang zu staatlicher Prozesskostenhilfe ist in Nigeria beschränkt: Das Institut der Pflichtverteidigung wurde erst vor kurzem in einigen Bundesstaaten eingeführt. Lediglich in den Landeshauptstädten existieren NGOs, die sich zum Teil mit staatlicher Förderung der rechtlichen Beratung von Beschuldigten bzw. Angeklagten annehmen (AA 21.11.2016). Rechtsberatungen und Rechtsbeistand bieten u.a. die folgenden Organisationen: Legal Aid Council; die Nationale Menschenrechtskommission (NHRC); Legal Defence and Assistance Project (LEDAP) (IOM 8.2013). Gerade in den ländlichen Gebieten gibt es jedoch zahlreiche Verfahren, bei denen Beschuldigte und Angeklagte ohne rechtlichen Beistand mangels Kenntnis ihrer Rechte schutzlos bleiben (AA 21.11.2016).
Das Recht auf ein zügiges Verfahren wird zwar von der Verfassung garantiert, ist jedoch kaum gewährleistet. Auch der gesetzlich garantierte Zugang zu einem Rechtsbeistand oder zu Familienangehörigen wird nicht immer ermöglicht (AA 21.11.2016). Dauerinhaftierungen ohne Anklage oder Urteil, die sich teils über mehrere Jahre hinziehen, sind weit verbreitet. 66-72 Prozent der in nigerianischen Gefängnissen inhaftierten Personen sind Untersuchungshäftlinge, die auf ihren Prozess warten (AA 21.11.2016; vgl. USDOS 3.3.2017). Die Untersuchungshaft ist oftmals länger als die maximal zu erwartende gesetzliche Höchststrafe des jeweils in Frage stehenden Delikts (AA 21.11.2016). Darüber hinaus bleiben zahlreiche Häftlinge auch nach Verbüßung ihrer Freiheitsstrafen in Haft, weil ihre Vollzugsakten unauffindbar sind (AA 21.11.2016; vgl. USDOS 3.3.2017). Mehrmals kündigte die Regierung an, Aktionen zur Überprüfung der Inhaftierten durchzuführen und Gefängnisinsassen ohne ersichtlichen Inhaftierungsgrund freizulassen, allerdings ohne messbaren Erfolg (AA 21.11.2016).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (21.11.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria
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FH - Freedom House (2.6.2017): Freedom in the World 2017 - Nigeria, http://www.refworld.org/docid/5936a4663.html, Zugriff 8.6.2017
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IOM - International Organization for Migration (8.2013): Nigeria - Country Fact Sheet,
https://milo.bamf.de/milop/livelink.exe/fetch/2000/702450/698578/704870/698704/8628861/16296710/16800759/Nigeria_-_Country_Fact_Sheet_2013%2C_deutsch.pdf?nodeid=16801531&vernum=-2, Zugriff 8.6.2017
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ÖBA - Österreichische Botschaft Abuja (7.2014): Asylländerbericht Nigeria
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USDOS - U.S. Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Nigeria, http://www.ecoi.net/local_link/337224/479988_de.html, Zugriff 8.6.2017
4. Sicherheitsbehörden
Die allgemeinen Polizei- und Ordnungsaufgaben obliegen der rund 360.000 Mann starken (Bundes-) Polizei, die dem Generalinspekteur der Polizei in Abuja untersteht (AA 21.11.2016). Der Generalinspekteur ist für die Durchsetzung der Gesetze verantwortlich. Zusätzlich zu der üblichen polizeilichen Verantwortung der Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung in den Bundesstaaten und Federal Capital Territory (FCT), überwacht der Generalinspekteur die Strafverfolgungsbehörden im ganzen Land, die mit Grenzschutz, Marineangelegenheiten (Navigation) und Terrorismusbekämpfung involviert sind. Der Generalinspekteur nominiert einen Polizeikommissar, der die National Police Force (NPF) in jedem Bundesstaat und FCT befehligt (USDOS 3.3.2017). Etwa 100.000 Polizisten sollen als Sicherheitskräfte bei Personen des öffentlichen Lebens und einflussreichen Privatpersonen tätig sein (AA 21.11.2016).
Neben der Polizei werden im Inneren auch Militär, Staatsschutz sowie paramilitärische Einheiten (sogenannte Rapid Response Squads) eingesetzt (AA 21.11.2016). Die Innere Sicherheit liegt also auch im Zuständigkeitsbereich des Department of State Service (DSS), das dem Präsidenten via nationalen Sicherheitsberater unterstellt ist. Die Polizei, das DSS und das Militär sind zivilen Autoritäten unterstellt, sie operieren jedoch regelmäßig außerhalb ziviler Kontrolle (USDOS 3.3.2017). Die National Drug Law Enforcement Agency (NDLEA) ist für alle Straftaten in Zusammenhang mit Drogen zuständig. Der NDLEA, in deren Zuständigkeit Dekret 33 fällt, wird Professionalität konstatiert (ÖBA 9.2016).
Die NPF und die Mobile Police (MOPOL) zeichnen sich hingegen durch geringe Professionalität, mangelnde Disziplin, Willkür und geringen Diensteifer aus (ÖBA 9.2016). Die Polizei ist durch niedrige Besoldung sowie schlechte Ausrüstung, Ausbildung und Unterbringung gekennzeichnet. Die staatlichen Ordnungskräfte sind personell, technisch und finanziell nicht in der Lage, die Gewaltkriminalität zu kontrollieren bzw. einzudämmen. Zudem sind nach allgemeiner Auffassung die Sicherheitskräfte teilweise selbst für die Kriminalität verantwortlich (AA 21.11.2016). Da die Polizei oft nicht in der Lage ist, durch gesellschaftliche Konflikte verursachte Gewalt zu unterbinden, verlässt sich die Regierung in vielen Fällen auf die Unterstützung durch die Armee (USDOS 3.3.2017). Jedoch sind im Allgemeinen die nigerianischen Behörden gewillt und fähig, Schutz vor nichtstaatlichen Akteuren zu bieten (UKHO 8.2016b).
Quellen:
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AA - Auswärtiges Amt (21.11.2016): Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Bundesrepublik Nigeria
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ÖBA - Österreichische Botschaft Abuja (9.2016): Asylländerbericht Nigeria
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UKHO - United Kingdom Home Office (8.2016b): Country Information and Guidance Nigeria: Women fearing gender-based harm or violence, https://www.gov.uk/government/uploads/system/uploads/attachment_data/file/595734/CIG_-_Nigeria_-_Women.pdf, Zugriff 12.6.2017
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USDOS - U.S. Department of State (3.3.2017): Country Report on Human Rights Practices 2016 - Nigeria, http://www.ecoi.net/local_link/337224/479988_de.html, Zugriff 8.6.2017
5. NGOs und Menschenrechtsaktivisten
Neben der Nationalen Menschenrechtskommission (NHRC) gibt es eine Vielzahl von Menschenrechtsorganisationen, die sich grundsätzlich frei betätigen können (AA 21.11.2016; vgl. USDOS 3.3.2017). Rund 42.000 nationale und internationale NGOs sind in Nigeria registriert; sie sind keinen gesetzlichen Beschränkungen unterworfen (ÖBA 9.2016).
Sie beobachten die Menschenrechtslage, untersuchen Vorfälle und veröffentlichen ihre Erkenntnisse. Regierungsvertreter reagieren vereinzelt auf Vorwürfe (ÖBA 9.2017; vgl. USDOS 3.3.2017). Sie sind nach Art, Größe und Zielrichtung sehr unterschiedlich und reichen von landesweit verbreiteten Organisationen wie der CLO (Civil Liberties Organization), CD (Campaign for Democracy) und LEDAP (Legal Defense Aid Project), die sich in erster Linie in der Aufklärungsarbeit betätigen, über Organisationen, die sich vorrangig für die Rechte bestimmter ethnischer Gruppen einsetzen, und Frauenrechtsgruppen bis hin zu Gruppen, die vor allem konkrete Entwicklungsanliegen bestimmter Gemeinden vertreten. Auch kirchliche