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66 SozialversicherungNorm
B-VG Art7 Abs1 / VerwaltungsaktLeitsatz
Verletzung im Gleichheitsrecht durch willkürliche Nichtigerklärung einer mit rechtskräftigem Bescheid zuerkannten Entschädigungsleistung an ein Mitglied eines Verwaltungskörpers der SozialversicherungsträgerSpruch
Die beschwerdeführende Partei ist durch den angefochtenen Bescheid im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz verletzt worden.
Der Bescheid wird aufgehoben.
Der Bund (Bundesminister für Arbeit und Soziales) ist schuldig, der beschwerdeführenden Partei zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit S 18.000,-- bestimmten Prozeßkosten binnen 14 Tagen bei Exekution zu bezahlen.
Begründung
Entscheidungsgründe:
1. Der Beschwerdeführer übte neben einer hauptberuflichen Tätigkeit für viele Jahre die Funktion des Leiters des Überwachungsausschusses der Betriebskrankenkasse der Wiener Verkehrsbetriebe aus. Mit Wirkung vom 30. November 1984 legte er diese Funktion zurück.
2. Mit Schreiben der Betriebskrankenkasse der Wiener Verkehrsbetriebe vom 26. November 1984, Z N/Pe, wurde ihm eine Entschädigungsleistung zuerkannt. Diese Erledigung hatte folgenden Inhalt:
"Sehr geehrter Herr Vorsitzender!
Die Direktion der Wiener Stadtwerke-Verkehrsbetriebe hat uns von der mit Wirksamkeit vom 30.11.1984 bevorstehenden Ruhestandsversetzung und Ihrem schriftlichen Ersuchen um Enthebung von Ihren Funktionen in den Verwaltungskörpern der Betriebskrankenkasse der Wiener Verkehrsbetriebe in Kenntnis gesetzt.
Auf Grund der vom Bundesministerium für soziale Verwaltung erlassenen Grundsätze für die Gewährung von Entschädigungen an die Mitglieder von Verwaltungskörpern der Sozialversicherungsträger haben sie ab 1.12.1984 Anspruch auf Entschädigungsleistung für ausgeschiedene Funktionäre laut beiliegender Berechnung.
...
Mit vorzüglicher Hochachtung
K N F K
Direktor Obmann"
Die beiliegende Berechnung ist mit "Entschädigungsleistungen an ausgeschiedene Funktionäre gemäß den Grundsätzen des BMfsV. - Zl. 21.925/1-1b/75" überschrieben. Es wurde eine Entschädigungsleistung in Höhe von S 7.966,-- errechnet. Weiters wurde festgelegt, daß die Auszahlung der Entschädigung gemäß §17 Abs1 und 2 (gemeint wohl: der genannten Grundsätze) erfolge.
3.1. Mit Schreiben der Betriebskrankenkasse der Wiener Verkehrsbetriebe vom 24. Februar 1993, Z P/Hs, wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, daß aufgrund einer internen Überprüfung der Gebührlichkeit der Entschädigungen an Mitglieder von Verwaltungskörpern der Sozialversicherungsträger festgestellt wurde, daß ihm die bisher gewährte Entschädigung ab Februar 1993 mangels Gebührlichkeit nicht mehr angewiesen werden kann.
3.2. Die daraufhin vom Beschwerdeführer beim Arbeits- und Sozialgericht Wien erhobene Klage wurde mit Beschluß vom 23. November 1993 wegen Unzulässigkeit des Rechtsweges zurückgewiesen. Ein dagegen an das Oberlandesgericht Wien erhobener Rekurs blieb erfolglos.
4.1. Mit Schreiben vom 17. Februar 1995 stellte der Beschwerdeführer den Antrag, "ihm die Entschädigungsleistung für ausgeschiedene Funktionäre gemäß §420 Abs5 ASVG auch ab Februar 1993 weiterhin zuzuerkennen".
4.2. Daraufhin erließ die Betriebskrankenkasse der Wiener Verkehrsbetriebe am 26. April 1995 zu Z P/Hs einen Bescheid, dessen Spruch wie folgt lautete:
"Auf die Ihnen mit Wirksamkeit vom 1.12.1984 zuerkannte Entschädigungsleistung werden die von Ihnen bezogenen Einkünfte, d. i. der die zulässige Höchstpension aus der gesetzlichen Sozialversicherung übersteigende Teil des Ruhegenusses, bzw. der Ruhegenußzulage aus dem Dienstverhältnis zu den Wiener Stadtwerken-Verkehrsbetriebe ab 1.12.1984 angerechnet.
Ein Anspruch auf Auszahlung der Entschädigungsleistung ist daher seit 1.12.1984 und derzeit nicht gegeben."
4.3. Die gegen diesen Bescheid erhobene Berufung wurde mit Bescheid des Landeshauptmannes von Wien vom 31. Oktober 1995 als unbegründet abgewiesen. Die Behörde begründete ihre Entscheidung im wesentlichen wie folgt:
"Gemäß §420 Abs5 (ASVG) können u.a. dem Vorsitzenden der Überwachungsausschüsse Entschädigungen gewährt werden. Der Bundesminister für soziale Verwaltung hat hiefür nach Anhörung des Hauptverbandes Grundsätze aufzustellen und für verbindlich zu erklären.
Das Bundesministerium für soziale Verwaltung hat nun mit Erlaß vom 23. Jänner 1975 Grundsätze für die Gewährung von Entschädigungen an die Mitglieder von Verwaltungskörpern der Sozialversicherungsträger erlassen.
Gemäß §14 dieser Grundsätze sind auf alle Entschädigungsleistungen Einkünfte anzurechnen, wobei unter Einkünften der Gesamtbetrag dessen zu verstehen ist, was dem Empfänger einer Entschädigungsleistung in Geld oder Geldeswert zufließt, nach Ausgleich mit Verlusten und vermindert um die gesetzlichen Abzüge. Außer Betracht haben jedoch Pensionsleistungen aus der gesetzlichen Sozialversicherung sowie Ruhe- und Versorgungsbezüge von öffentlich-rechtlichen Gebietskörperschaften, soweit diese ihrem Ausmaß nach mit einer Pension aus der gesetzlichen Sozialversicherung vergleichbar sind, zu bleiben.
Inwieweit die Formulierung 'in ihrem Ausmaß nach mit einer Pension aus der gesetzlichen Sozialversicherung vergleichbar' zu interpretieren ist, wurde bereits im Erlaß des Bundesministeriums für soziale Verwaltung vom 4. März 1974, Zl. 21.925/3-6-2/74, erörtert. In diesem Erlaß wurde grundsätzlich ausgeführt, daß Normadressat dieser Grundsätze der einzelne Sozialversicherungsträger sei und daß diejenigen Mitglieder von Verwaltungskörpern der Sozialversicherungsträger, denen auf Grund der Grundsätze Entschädigungen gewährt werden können, für sich aus den Regelungen dieser Grundsätze keine Rechtsansprüche ableiten können. Voraussetzung für die Gewährung von Entschädigungsleistungen an ausgeschiedene Funktionäre solle u.a. der Anfall der Pension aus der gesetzlichen Sozialversicherung sein. Eine derartige Regelung verlange aber auch, daß für Personen, die in einem öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnis stehen, und auf Grund der Art ihrer Beschäftigung von der Pflichtversicherung in der allgemeinen Sozialversicherung ausgenommen seien, eine ähnliche Voraussetzung vorzusehen sei ...
Die Betriebskrankenkasse der Wiener Verkehrsbetriebe hat nun als vergleichbare Regelung die Höchstpensionsleistung, die sich aufgrund der Höchstbeitragsgrundlage gemäß dem ASVG ergibt, angesehen. Dieser Rechtsansicht konnte seitens der angerufenen Behörde nicht entgegengetreten werden.
Die Feststellung der Betriebskrankenkasse, daß ein Anspruch auf Auszahlung der Entschädigungsleistung bereits seit 1. Dezember 1984 nicht gegeben war, war unter Berücksichtigung des Erlasses des Bundesministeriums für soziale Verwaltung vom 4. März 1974 nicht rechtswidrig."
5.1. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 B-VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz sowie die Verletzung in Rechten wegen Anwendung rechtswidriger genereller Normen behauptet und die kostenpflichtige Aufhebung des bekämpften Bescheides begehrt wird.
Zur behaupteten Gleichheitswidrigkeit wird im wesentlichen vorgebracht:
"Mit dem angefochtenen Bescheid ist die belangte Behörde von einer langjährigen Praxis, nämlich der ungeschmälerten Auszahlung der Entschädigungsleistung ohne Anrechnung des Ruhebezuges, abgegangen. Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes verstößt zwar nicht das Abgehen von einer Behördenpraxis an sich gegen den Gleichheitssatz; ein Verstoß liegt jedoch dann vor, wenn das Abgehen nicht aus sachlichen Erwägungen erfolgte (VfSlg. 7988, 8259, 8375, 8725). Nach Auffassung des Beschwerdeführers ist dies der Fall. Die Anrechnung von Teilen des Ruhebezuges auf die Entschädigungsleistung, die in Wahrheit zu deren Entfall führte, wurde von der belangten Behörde nur damit begründet, daß der Ruhebezug des Beschwerdeführers (inkl. Zulage) die Höchstpension nach dem ASVG überstieg. Der Ruhebezug des Beschwerdeführers lag aber bereits in allen Jahren seit 1984 in gleichem Maße über der ASVG-Höchstpension, welcher Umstand der Betriebskrankenkasse der Wiener Verkehrsbetriebe auch stets bekannt war. Der ins Treffen geführte Vergleich zwischen dem Ruhebezug des Beschwerdeführers und einer ASVG-Pension stellt daher überhaupt keinen Grund für die geänderte Anschauung und die nunmehr verfügte Anrechnung dar. Für die ohne Änderung der maßgeblichen Umstände auf Grund einer bloßen Neuinterpretation der Entschädigungsgrundsätze ausgesprochene Anrechnung ist sohin überhaupt keine Begründung erkennbar, was einer unsachlichen Erwägung und - auch im Hinblick auf die jahrzehntelang einbehaltenen Rentenabzüge - einem Verstoß gegen Treu und Glauben gleichzuhalten ist ...
Ein Verstoß gegen den Gleichheitssatz wird auch in der Anordnung erblickt, daß die Anrechnung von Teilen des Ruhebezuges auf die zuerkannte Entschädigungsleistung rückwirkend ab 1.12.1984 verfügt wurde.
Wie ... ausgeführt, waren der Betriebskrankenkasse der Wiener Verkehrsbetriebe alle maßgeblichen Umstände, insbesondere die Höhe des Ruhebezuges von 1984 bis heute stets bekannt, weil ihre Verwaltung in die Personalgruppe der Wiener Verkehrsbetriebe eingegliedert ist. Die auf Grund einer bloßen Neuinterpretation der Gewährungsgrundsätze ausgesprochene rückwirkende Anrechnung gewährter Entschädigungsleistungen, die von der Betriebskrankenkasse der Wiener Verkehrsbetriebe in Kenntnis aller maßgeblichen Umstände ausbezahlt und vom Beschwerdeführer im guten Glauben längst verbraucht wurden, stellt einen Akt der Willkür dar."
In eventu wird die Verletzung in Rechten wegen Anwendung verfassungswidriger Gesetze geltend gemacht.
5.2. Der Wiener Landeshauptmann als belangte Behörde hat die Verwaltungsakten vorgelegt und eine Gegenschrift erstattet, in der der Antrag gestellt wird, der Verfassungsgerichtshof wolle die Beschwerde als unbegründet abweisen.
6. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:
6.1. Laut §420 Abs5 ASVG idF BGBl. Nr. 111/1986 versehen die Mitglieder der Verwaltungskörper ihr Amt als Ehrenamt; durch ihre Tätigkeit wird kein Dienstverhältnis zum Versicherungsträger begründet. Den aus ihrer Funktion ausgeschiedenen Mitgliedern der Verwaltungskörper können jedoch Entschädigungen gewährt werden, worüber der Vorstand des Sozialversicherungsträgers entscheidet. Nach dem vierten Satz leg.cit. hat der Bundesminister für Soziale Verwaltung "hiefür nach Anhörung des Hauptverbandes Grundsätze aufzustellen und für verbindlich zu erklären".
6.2. Die vom Beschwerdeführer behauptete Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz liegt insbesondere vor, wenn der Behörde Willkür vorzuwerfen ist.
Ein willkürliches Verhalten kann der Behörde unter anderem dann vorgeworfen werden, wenn der angefochtene Bescheid wegen gehäuften Verkennens der Rechtslage in einem besonderen Maße mit den Rechtsvorschriften in Widerspruch steht (zB VfSlg. 10337/1985, 11436/1987).
Ein solches Verhalten ist der Behörde im vorliegenden Fall anzulasten:
6.2.1. Vorauszuschicken ist, daß dem Beschwerdeführer mit Schreiben vom 26. November 1984 "auf Grund der vom Bundesministerium für soziale Verwaltung erlassenen Grundsätze für die Gewährung von Entschädigungen an die Mitglieder von Verwaltungskörpern der Sozialversicherungsträger ... ab 1.12.1984 Anspruch auf Entschädigungsleistung(en)" laut einer beigeschlossenen Berechnung zuerkannt wurde.
Nach ständiger Rechtsprechung ist diese Erledigung als Bescheid zu qualifizieren, weil sie in einer der Rechtskraft fähigen Weise über einen Antrag des Beschwerdeführers absprach und damit eine Verwaltungsangelegenheit normativ regelte; wenn eine formlose Erledigung für den Einzelfall bindend die Gestaltung oder Feststellung von Rechtsverhältnissen zum Gegenstand hat, ist sie auch dann als Bescheid zu werten, wenn sie nicht in Form eines Bescheides nach den §§56 ff AVG erging (vgl. zB VfSlg. 4986/1965, 7599/1975, 8744/1980, 9244/1981, 9444/1982, 11077/1986, 12321/1990, 12753/1991). Nach dem im Zeitpunkt der Erlassung dieser Erledigung maßgebenden §15 der Satzung 1982, kundgemacht in Soziale Sicherheit 1982, S 486 ff, müssen schriftliche Ausfertigungen der Kasse in allen Angelegenheiten, die der Beschlußfassung der Hauptversammlung, des Vorstandes oder des Verwaltungsausschusses bedürfen, um rechtsverbindlich zu sein, sowohl vom Obmann als auch vom leitenden Angestellten unterzeichnet sein. Dies trifft hier zu. Auch vor diesem Hintergrund ist die Erledigung vom 26. November 1984 somit als Bescheid iS des Art144 Abs1 B-VG einzustufen. Mit ihm wurde dem Beschwerdeführer eine Entschädigungsleistung rechtskräftig zuerkannt.
6.2.2. Der angefochtene Bescheid vom 31. Oktober 1995 spricht aus, daß auf die ab 1. Dezember 1984 zuerkannte Entschädigungsleistung Einkünfte (Pensionen) ab 1. Dezember 1984 anzurechnen und demnach Ansprüche auf Auszahlung von Entschädigungsleistungen seit 1. Dezember 1984 nicht gegeben seien.
Diesem Bescheid kommt die Wirkung zu, daß die mit rechtskräftigem Bescheid vom 26. November 1984 ab 1. Dezember 1984 zuerkannte Entschädigungsleistung (rückwirkend) ab 1. Dezember 1984 für nichtig erklärt wurde. Der Bescheid vom 26. November 1984, womit die Entschädigungsleistungen zugesprochen wurden, enthielt gegenüber dem Beschwerdeführer keinen Vorbehalt in Richtung des nun erlassenen - angefochtenen - Bescheides. Die Begründung des bekämpften Bescheides beruft sich nicht auf Umstände, die erst nach der bescheidmäßigen Gewährung der Entschädigungsleistung eintraten. Ein in Rechtskraft erwachsener Bescheid kann aber, wenn sich weder die Rechts- noch die Sachlage ändern, nicht nach Belieben für unwirksam erklärt bzw. aufgehoben werden. Dies kann vielmehr nur unter den Voraussetzungen des §417 ASVG bzw. §68 AVG geschehen, die hier nicht vorliegen. Die Rechtskraft des Bescheides vom 26. November 1984 stand somit einem neuerlichen bescheidmäßigen Abspruch entgegen.
Da die belangte Behörde dies verkannt und die Berufung des Beschwerdeführers gegen den - ohne rechtliche Grundlage - ergangenen Bescheid der Betriebskrankenkasse der Wiener Verkehrsbetriebe vom 26. April 1995 abgewiesen hat, ist ihr (objektive) Willkür anzulasten und vorzuwerfen, daß der bekämpfte Bescheid im besonderem Maße mit den Rechtsvorschriften in Widerspruch steht.
Der angefochtene Bescheid war daher wegen Verletzung des Gleichheitsgebotes aufzuheben.
Bei diesem Ergebnis war auf die Verfassungs- bzw. Gesetzmäßigkeit des §420 Abs5 ASVG und der "Grundsätze für die Gewährung von Entschädigungen an die Mitglieder von Verwaltungskörpern der Sozialversicherungsträger" mangels Präjudizialität nicht einzugehen.
6.3. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist USt in Höhe von S 3.000,-- enthalten.
6.4. Dies konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne weiteres Verfahren in nichtöffentlicher Sitzung beschlossen werden.
Schlagworte
Sozialversicherung, Bescheid Rechtskraft, Rechtskraft Bescheid, Verwaltungsverfahren, Abänderung und Behebung von amtswegen, BescheidbegriffEuropean Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:VFGH:1996:B3876.1995Dokumentnummer
JFT_10038789_95B03876_00