Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten Dr.
Veith als Vorsitzenden, den Hofrat Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé sowie die Hofräte Dr. Nowotny und Mag. Pertmayr als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei K***** H*****, vertreten durch Dr. Paul Fuchs, Rechtsanwalt in Thalheim bei Wels, gegen die beklagte Partei Verband der Versicherungsunternehmen Österreichs, Wien 3, Schwarzenbergplatz 7, vertreten durch Dr. Gernot Kerschhackel, Rechtsanwalt in Baden, wegen 127.116,31 EUR sA, über die außerordentliche Revision der klagenden Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht vom 28. September 2018, GZ 2 R 71/18f-100, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Leoben vom 22. Dezember 2017, GZ 7 Cg 101/12z-91, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Der außerordentlichen Revision wird Folge gegeben.
Die Urteile der Vorinstanzen werden aufgehoben und die Rechtssache wird zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung an das Erstgericht zurückverwiesen.
Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens bilden weitere Verfahrenskosten.
Text
Begründung:
Der Kläger wurde am ***** 2008 bei einem Verkehrsunfall verletzt. Das Alleinverschulden am Unfall traf den Lenker eines im Ausland zugelassenen LKW, der im Gleinalmtunnel der A9 im Kolonnenverkehr auf den vom Kläger gelenkten PKW auffuhr, welcher dadurch gegen das Heck des davor fahrenden PKW gestoßen wurde. Der Kläger erlitt eine „Gurtprellung“, eine Zerrung der Lendenwirbelsäule, multiple Prellungen und Schnittverletzungen an der Hand sowie am Fuß und Unterschenkel und eine Hüftprellung.
Mit Urteil des Landesgerichts Leoben vom 27. 9. 2011 (19 Cg 93/09g) wurde (auch) der hier beklagte Verband zur Zahlung von 11.860,16 EUR an den Kläger als Ersatz für den Verdienstentgang im Zeitraum März bis November 2008 verurteilt und seine Haftung für sämtliche Dauer- und Spätfolgen aus dem Unfall (begrenzt mit der Haftpflichtversicherungssumme) festgestellt. In jenem Verfahren ging das Gericht aufgrund zweier Sachverständigengutachten davon aus, dass sich beim Kläger als Folge des Unfalls eine psychische Erkrankung im Sinne einer posttraumatischen Belastungsstörung in Verbindung mit einer dissoziativen Störung entwickelt hatte, aufgrund derer er seiner Tätigkeit als LKW-Fahrer nicht mehr nachkommen konnte und psychische Beeinträchtigungen auch für die Zukunft nicht ausgeschlossen seien.
Nunmehr begehrt der Kläger den Ersatz seines Verdienstentgangs für den Zeitraum Dezember 2008 bis Dezember 2010 und März 2012 bis März 2015. Er brachte vor, er leide aufgrund des Verkehrsunfalls an einer posttraumatischen Belastungsstörung mit Übergang in eine posttraumatische Verbitterungsstörung. Aufgrund der erlittenen psychiatrisch bedingten Einschränkungen sei er weiterhin arbeitsunfähig.
Die beklagte Partei wendete ein, die ursprünglich beim Kläger vorgelegene posttraumatische Belastungsstörung liege seit Dezember 2008 nicht mehr vor, sodass beim Kläger seitdem keine unfallbedingten Einschränkungen in der Ausübung der Tätigkeit eines LKW-Fahrers bestünden.
Das Erstgericht wies das Klagebegehren mit der Begründung ab, im geltend gemachten Zeitraum bestünden keine auf den Unfall zurückzuführenden Einschränkungen des Klägers.
Es stellte – zum Teil disloziert im Zuge seiner Beweiswürdigung – fest, dass die durch den Unfall ausgelöste posttraumatische Belastungsstörung beim Kläger spätestens Anfang 2009 abgeklungen gewesen sei. Aufgrund der Persönlichkeitsstruktur des Klägers bzw dessen persönlichen Voraussetzungen sei es bei diesem in weiterer Folge zu einer posttraumatischen Verbitterungsstörung gekommen, in die der Kläger fast übergangslos verfallen, „die jedoch nicht auf den Unfall zurückzuführen“ sei. Deren Ursache liege darin, dass sich Erwartungen des Klägers, insbesondere, dass er davon ausgegangen sei, weiterhin aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung nicht arbeitsfähig zu sein, nicht erfüllt hätten. Die depressive Ausgestaltung der Verbitterungsstörung sei auf das verletzliche „psychische Kostüm“ des Klägers zurückzuführen.
Das Berufungsgericht bestätigte dieses Urteil und sprach aus, dass die ordentliche Revision nicht zulässig sei. Es verneinte die gerügten Verfahrensmängel, erachtete die Beweisrüge als unberechtigt und verneinte eine Bindungswirkung der Entscheidung im Vorprozess für den hier geltend gemachten Verdienstentgang. Es komme auch nicht darauf an, ob die Verbitterungsstörung auch ohne den Unfall eingetreten wäre, weil mit der posttraumatischen Verbitterungsstörung des Klägers eine neue Kausalkette begonnen habe, die nicht dem Unfall zugerechnet werden könne.
Dagegen richtet sich die außerordentliche Revision des Klägers mit dem Antrag, das angefochtene Urteil dahin abzuändern, dass dem Klagebegehren stattgegeben werde; hilfsweise stellt er einen Aufhebungsantrag.
Der Senat stellte der beklagten Partei die Beantwortung der Revision frei. Diese beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.
Rechtliche Beurteilung
Die außerordentliche Revision ist zulässig, weil das Berufungsgericht von den Grundsätzen der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs zur Zurechnung unfallbedingter psychischer Beeinträchtigungen abgewichen ist. Sie ist im Sinne des hilfsweise gestellten Aufhebungsantrags auch berechtigt.
Der Kläger macht geltend, das Berufungsgericht habe gegen die Bindungswirkung der Vorentscheidung 19 Cg 93/09g des Landesgerichts Leoben verstoßen. Das Berufungsverfahren sei mangelhaft. Die festgestellte posttraumatische Verbitterungsstörung habe ihre einzige Ursache im Verkehrsunfall gehabt, was sich schon aus der herrschenden Äquivalenztheorie ergebe.
Hiezu wurde erwogen:
1. Die gerügte Mangelhaftigkeit des Berufungsverfahrens wurde geprüft, sie liegt nicht vor (§ 510 Abs 3 ZPO). Bereits vom Gericht zweiter Instanz verneinte Verfahrensmängel können in der Revision nicht mehr geltend gemacht werden (RS0042963).
2. Zur Bindungswirkung des Vorprozesses:
2.1 Unter dem Begriff der Bindungswirkung wird eine Rechtskraftwirkung des Urteils verstanden. Nach ständiger Rechtsprechung besteht eine Bindungswirkung nur in Bezug auf die im Urteil des Vorprozesses ausgesprochene Rechtsfolge, nicht aber an die dort getroffenen Feststellungen (RS0041285; RS0118570).
2.2 Mit einem Feststellungsurteil wird die Ersatzpflicht des Haftenden festgelegt, nicht aber, welche künftigen Schäden von ihm zu ersetzen sind. Im folgenden Leistungsprozess muss vielmehr geprüft werden, ob der dort geltend gemachte Schaden von der Ersatzpflicht umfasst ist, insbesondere also, ob das haftungsbegründende Verhalten für den Schaden ursächlich war (5 Ob 227/11k; 2 Ob 167/10p; RS0111722). Gegenstand des Vorprozesses war, neben der Feststellung der Ersatzpflicht der (auch hier) beklagten Partei, das Begehren auf Ersatz des Verdienstentgangs für bestimmte Zeiträume. Der nunmehrige Streitgegenstand umfasst andere Zeiträume und ist mit jenem des Vorprozesses nicht ident. Auch aus diesem Grund besteht keine Bindungswirkung (2 Ob 164/17g; 5 Ob 227/11k; 2 Ob 167/10p; RS0041256 [T5]).
2.3 Der beklagten Partei stand somit der Einwand offen, dass der im vorliegenden Rechtsstreit geltend gemachte Verdienstentgang nicht (mehr) unfallkausal sei.
3. Kausalität:
3.1 Aus dem Zusammenhang aller – auch disloziert getroffenen – Feststellungen ergibt sich, dass der Kläger aufgrund dessen verletzlicher Persönlichkeitsstruktur fast übergangslos von einer posttraumatischen Belastungsstörung in eine depressiv ausgestaltete posttraumatische Verbitterungsstörung verfiel, weil er die von ihm gehegte Erwartungshaltung, weiterhin aufgrund der (unfallbedingten) posttraumatischen Belastungsstörung arbeitsunfähig zu sein, nicht erfüllt sah.
3.2 Ursächlich für ein bestimmtes Ereignis im Sinne einer „natürlichen“ Kausalität ist jeder Umstand, der nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass der Geschehensablauf ein anderer gewesen wäre (RS0022687). Daher ist der Unfall auch für die posttraumatische Verbitterungsstörung kausal im Rechtssinn, weil ohne ihn die nicht erfüllte Erwartung des Klägers, aufgrund einer posttraumatischen Belastungsstörung arbeitsunfähig zu sein, nicht eingetreten wäre. Dass ein Fall der überholenden Kausalität vorliege und die Verbitterungsstörung auch ohne den Unfall gleichermaßen eingetreten wäre, hat die beklagte Partei weder behauptet noch unter Beweis gestellt (zur diesbezüglichen Behauptungs- und Beweislast: 2 Ob 115/18b; RS0106535). Mit der Verneinung der Kausalität im Rahmen der erstinstanzlichen Feststellungen wurde daher im vorliegenden Fall keine Tatfrage gelöst, sondern eine Rechtsfrage (unrichtig) beurteilt, sodass insoweit keine Bindung des Obersten Gerichtshofs besteht.
3.3 Fragen des prima-facie-Beweises (vgl RS0040274; RS0040266) stellen sich nicht, weil sich die „natürliche“ Kausalität ohnehin aus dem festgestellten Sachverhalt ergibt.
4. Adäquanz:
4.1 Nach der Rechtsprechung ist ein Schaden schon dann adäquat verursacht, wenn die generelle Eignung der Ursache, den Schaden herbeizuführen, nicht außerhalb der allgemeinen menschlichen Erfahrung liegt (RS0112489). Krankheitserscheinungen, die durch den Unfall nur deshalb ausgelöst wurden, weil die Anlage zur Krankheit beim Verletzten bereits vorhanden war, sind im Sinne der Adäquanz in vollem Umfang Unfallsfolge, sofern die krankhafte Anlage nicht auch ohne die Verletzung in absehbarer Zeit den gleichen gesundheitlichen Schaden herbeigeführt hätte (2 Ob 143/02x; 1 Ob 81/00v; 2 Ob 231/71 SZ 45/28). Daher haftet nach einhelliger Rechtsprechung der Schädiger etwa auch für die Folgen einer anlagebedingten, aber durch den Unfall ausgelösten Neurose, wobei es unerheblich ist, ob diese erst durch den Unfall und seine Folgen entstanden oder durch eine schon vor dem Unfall bestehende psychische Beschaffenheit begünstigt worden ist (2 Ob 143/02x; 2 Ob 12/93; RS0022746). Dies gilt auch für Fälle der in früheren Entscheidungen so genannten „Begehrungsneurosen“, also der krankheitswertigen Wunschvorstellung, aufgrund des Unfalls weiterhin krank zu sein, selbst wenn diese ihre Ursache nicht mehr nur in der Verletzung durch den Unfall, sondern auch in der Persönlichkeitsstruktur des Verletzten hat (vgl 2 Ob 143/02x; 2 Ob 12/93; vgl 2 Ob 231/71; RS0030821; RS0030835; vgl auch 2 Ob 702/50 SZ 24/113).
4.2 Korrektiv für überhöhte Schadenersatzforderungen eines derartig betroffenen Geschädigten ist seine Pflicht, einsichtsgemäß den Schaden zu vermeiden oder gering zu halten, bei deren schuldhafter (vorwerfbarer) Verletzung er den Schaden ganz oder teilweise iSd § 1304 ABGB selbst zu tragen hat. Die Behauptungs- und Beweislast dafür trifft die beklagte Partei (2 Ob 349/98g; 2 Ob 231/71), die ein solches Vorbringen zur posttraumatischen Verbitterungsstörung nicht erstattet hat. Kann der Geschädigte allerdings seiner durch den Unfall und dessen Folgen ausgelösten oder begünstigten psychotischen Verhaltensweise nicht wirksam begegnen, kann ihm eine schuldhafte Verletzung der Schadensminderungspflicht nicht anspruchsmindernd entgegengehalten werden (2 Ob 349/98g; 2 Ob 12/93; 2 Ob 231/71; vgl auch 2 Ob 18/66; 2 Ob 702/50).
4.3 Ein eine andere Bewertung rechtfertigender Unterschied zwischen der in der Rechtsprechung bereits erörterten „Begehrungsneurose“ und dem hier festgestellten Zustand des Klägers in Form einer posttraumatischen Verbitterungsstörung, weil sich seine Erwartungen, weiterhin arbeitsunfähig zu sein, nicht erfüllt haben, ist nicht erkennbar, zumal sie in einer „depressiven Ausgestaltung“ vorhanden ist.
Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts ist die festgestellte posttraumatische Verbitterungsstörung, die durch den Unfall (mit-)ausgelöst wurde, daher als adäquate Unfallsfolge anzusehen.
4.4 Ein gegenteiliges Ergebnis ist auch aus der in der Revisionsbeantwortung ins Treffen geführten Entscheidung 6 Ob 213/11h nicht ableitbar. Dort führte die als Folge eines ärztlichen Kunstfehlers eingetretene Verbitterungsstörung deshalb nicht zu einem Anspruch auf Ersatz des Verdienstentgangs, weil sie bei fachgerechter Vorgangsweise des Arztes gleichermaßen eingetreten wäre. Dies trifft auf den vorliegenden Fall nicht zu.
5. Die Entscheidungsgründe der Vorinstanzen tragen die Abweisung des Klagebegehrens daher nicht. Da Feststellungen dazu, ob und in welchem Umfang der Kläger aufgrund der posttraumatischen Verbitterungsstörung in seiner Arbeitsfähigkeit eingeschränkt gewesen ist und welchen Verdienstentgang er dadurch allenfalls erlitten hat, bisher nicht getroffen wurden, ist eine Aufhebung und Zurückverweisung der Rechtssache an das Erstgericht unumgänglich.
6. Der Kostenvorbehalt gründet sich auf § 52 Abs 1 ZPO.
Textnummer
E125612European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2019:0020OB00221.18S.0624.000Im RIS seit
23.07.2019Zuletzt aktualisiert am
19.03.2021