TE Bvwg Erkenntnis 2019/5/17 W137 2140071-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 17.05.2019
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Entscheidungsdatum

17.05.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs1
AsylG 2005 §34 Abs2
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W137 2140071-1/31E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Peter Hammer als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Islamische Republik Afghanistan, vertreten durch Diakonie Flüchtlingsdienst / ARGE Rechtsberatung gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.10.2016, Zl. 1084923200/151220656/BMI-BFA_STM_AST_01, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 02.01.2018 zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 34 Abs. 1 und 2 iVm § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Der Beschwerdeführer stellte in Österreich nach illegaler Einreise am 29.08.2015 den gegenständlichen Antrag auf Gewährung von internationalem Schutz. Gemeinsam mit ihm waren auch seine Ehefrau

XXXX (VZ 2140064) und die drei gemeinsamen unmündig minderjährigen Kinder eingereist. Anträge auf internationalen Schutz wurden auch von der Ehefrau und für die Kinder XXXX (VZ 2140069), XXXX (VZ 2140066) und XXXX (VZ 2140067) gestellt.

2. Bei ihrer Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am nächsten Tag gab er an, afghanischer Staatsangehöriger muslimischen/sunnitischen Glaubens zu sein und der Volksgruppe der Tadschiken anzugehören. Er werde verfolgt, weil sein Schwager (der Bruder seiner Frau) mit einem paschtunischen Mädchen vorehelichen Geschlechtsverkehr gehabt habe. Er habe als Fliesenleger gearbeitet.

Die Ehefrau brachte ein gleichlautendes Fluchtvorbringen vor. Ein individuelles Vorbringen betreffend die Kinder wurde nicht erstattet.

3. Im Zuge seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vom 20.10.2016 wurde dieses Vorbringen ausführlicher geschildert. Dabei erklärte der Beschwerdeführer auch, es sei gedroht worden, ihn zu töten "und auch meine Frau oder meine Kinder zu vergewaltigen". Nach Rückübersetzung bestätigte der Beschwerdeführer mit seiner Unterschrift die Richtigkeit und Vollständigkeit des Einvernahmeprotokolls.

Die - zu diesem Zeitpunkt schwangere - Ehefrau (nach eigenen Angaben Analphabetin ohne Schulbildung) erklärte, einen Deutschkurs zu besuchen und sich um Integration zu bemühen. Im Übrigen verweise sie auf die Angaben ihres Mannes.

4. Mit dem nunmehr angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 29.10.2016, Zl. 1084923200/151220656/BMI-BFA_STM_AST_01, wurde der Antrag des Beschwerdeführers auf Gewährung von internationalem Schutz gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idF BGBl I Nr. 100/2005 abgewiesen und ihm der Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) sowie gemäß § 8 Abs. 1 leg.cit. der Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf seinen Herkunftsstaat Afghanistan nicht zuerkannt (Spruchpunkt II.). Zudem wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §§ 57 AsylG 2005 nicht erteilt und gegen den Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG) erlassen. Gemäß § 52 Abs. 9 FPG wurde festgestellt, dass seine Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise auf 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt.

Begründend wurde zu Spruchpunkt I. im Wesentlichen ausgeführt, dass das erstattete Vorbringen nicht glaubhaft gemacht worden sei. Auch eine sonstige existenzielle Gefährdung sei nicht feststellbar. Eine Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer greife nicht in unzulässiger Weise in dessen Recht auf Achtung des Privatlebens ein. Ein Eingriff in ihr Familienleben liege nicht vor, da in gleicher Weise auch die Anträge seiner Frau und der gemeinsamen Kinder entschieden worden seien.

5. Gegen diesen Bescheid wurde mittels eines vom, unter einem zur Vertretung bevollmächtigten, Rechtsberater verfassten Schreibens (einheitlich für die gesamte Familie) rechtzeitig Beschwerde erhoben. Begründend wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass der entscheidungsrelevante Sachverhalt nicht hinreichend ermittelt worden sei. Ausführlich wurde zu den im angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen zur Situation in Afghanistan Stellung genommen. Vorgelegt wurden auch Berichte betreffend die Sanktionierung von außerehelichem Geschlechtsverkehr (insbesondere bei Männern). Schließlich sei den Beschwerdeführern auch die Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht zuzumuten.

In diesem Schriftsatz fand sich - ohne besondere Hervorhebung - auch die Ausführung, die Nachbarfamilie habe gedroht, die Frau "und ihre Kinder zu vergewaltigen".

6. Am 18.11.2016 langte beim Bundesverwaltungsgericht der Verwaltungsakt ein. Eine Stellungnahme zum Beschwerdevorbringen wurde nicht eingebracht.

7. Mit Schreiben vom 08.03.2017 teilte das Bundesverwaltungsgericht den Beschwerdeführer_innen mit, dass aus verfahrensökonomischen Gründen eine Verhandlung erst nach der Entbindung (unter Einbeziehung des Verfahrens des dann Neugeborenen) erfolgen werde.

Mit Schreiben des bevollmächtigten Vertreters vom 04.04.2017 wurde dieses Vorgehen ausdrücklich begrüßt. Unter einem wurden die Geburtsurkunde des jüngsten Kindes, XXXX (VZ 2157802), und die Anerkennung der Vaterschaft übermittelt. Das Bundesamt hat den für die Neugeborene (durch die gesetzliche Vertreterin) gestellten Antrag auf internationalen Schutz mit Bescheid vom 01.05.2017 in gleicher Weise wie über jenen der übrigen Familienmitglieder entschieden und zur Begründung auf diese Entscheidungen verwiesen. Mit Schreiben vom 16.05.2017 wurde auch für sie eine Beschwerde eingebracht und im Wesentlichen auf die gemeinsame Beschwerde der übrigen Familienmitglieder verwiesen.

8. Am 07.06.2017 übermittelten die Beschwerdeführer_innen Unterlagen betreffend ihre Integrationsbemühungen sowie eine Stellungnahme eines Kinderschutzzentrums betreffend die älteste Tochter. Unter Zugrundelegung des Fluchtvorbringens (das mit der Minderjährigen und dem Vater exploriert worden sei) wurde darin der Schluss gezogen, dass "aus klinisch-psychologischer Sicht der Schutz des Kindeswohles bei einer Rückführung in das Herkunftsland nicht anzunehmen" sei.

Am 27.06.2017 langten beim Bundesverwaltungsgericht weitere Unterlagen zur Integration der Beschwerdeführer_innen ein. Überdies wurden Schulbesuchsbestätigungen und Zeugnisse der beiden schulpflichtigen Kinder, weitere Unterlagen zu den Integrationsbestrebungen der Eltern und mehrere Unterstützungsschreiben vorgelegt.

9. Am 13.11.2017 konnte die geplante Verhandlung aufgrund einer kurzfristigen Erkrankung der Dolmetscherin nicht durchgeführt werden. Aufgrund der Anwesenheit eines Vertreters und der Deutschkenntnisse des Beschwerdeführers konnte abgeklärt werden, dass die Ehefrau und seine älteste Tochter wegen Depressionen behandelt würden. Andere Gründe für den Asylantrag als die bereits vorgebrachten gebe es nicht. Allerdings seien hinsichtlich der Frau und der ältesten Tochter geschlechtsspezifische Elemente im erstinstanzlichen Verfahren zu kurz gekommen. Den Beschwerdeführer_innen wurden abschließend aktuelle Berichte zur Situation in Afghanistan übergeben und dazu eine Frist zur Stellungnahme von drei Wochen eingeräumt. Anschließend wurde auf unbestimmte Zeit vertagt.

10. Mit Schreiben vom 14.11.2017 erstatteten die Beschwerdeführer_innen durch den bevollmächtigten Vertreter eine Stellungnahme zu den Länderberichten, in der auf die Problematik der Blutrache und das Institut des "badal" (Austausch - etwa von Frauen - zwischen Familien zur Bereinigung einer Ehrverletzung). Zudem liege bei der Frau des Beschwerdeführers und ihrer ältesten Tochter ein gelebter "westlich" orientierter Lebensstil vor, der - auch in Verbindung mit der "hervorragenden Integration" der Beschwerdeführer_innen - zu einer Asylgewährung führen müsse. Schließlich handle es sich um eine Familie mit besonders vulnerablen Personen, darunter einem Säugling. Überdies handle es sich bei Kabul "momentan um den für Zivilisten gefährlichsten Landesteil ganz Afghanistans. Hinsichtlich der Integration der Beschwerdeführer_innen wurde abschließend ausgeführt, dass die beiden ältesten Kinder in Österreich die Schule besuchen würden und die älteste Tochter sich zu einem "selbstständigen, selbstbestimmten und gebildeten 10-jährigen Mädchen entwickelt" habe. Der Familienvater habe bereits die Deutschprüfung auf Niveau B1 absolviert und sei auf freiwilliger Basis beim Roten Kreuz engagiert.

Vorgelegt wurden zudem die Dokumentationen/Berichte:

Schweizerische Flüchtlingshilfe "Schnellrecherche zu Afghanistan:

Blutrache und Blutfehde" (07.06.2017)

Schweizerische Flüchtlingshilfe "Afghanistan-Update: Die aktuelle Sicherheitslage" (14.09.2017)

Amnesty International "Forced back to Danger" - Auszug (Oktober 2017)

11. Am 02.01.2018 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine mündliche Verhandlung mit den Beschwerdeführer_innen in Anwesenheit des bevollmächtigten Vertreters statt. Befragt wurden der Beschwerdeführer und seine Frau (jeweils getrennt voneinander), ihre älteste Tochter (in Anwesenheit des Vaters) und die anwesende Vertrauensperson der Familie. Auf eine Befragung der übrigen Kinder wurde im Einvernehmen mit den Eltern und dem bevollmächtigten Vertreter verzichtet.

Die Tochter gab an, in Kabul die Schule besucht und den Schulweg zu Fuß zurückgelegt zu haben. Zum Ausreisegrund gab sie an, ihr Vater habe ihr gesagt, dass ein Nachbar sie heiraten wolle. Die Befragung erfolgte in deutscher Sprache.

Der Beschwerdeführer machte zunächst umfassende Angaben zu seiner Arbeit, sowie zu seiner Wohn- und Familiensituation. Befragt wurde er auch zur Familie in der afghanischen Gesellschaft sowie zur Stellung der Frau in der afghanischen Gesellschaft im Allgemeinen und dem Leben seiner Frau (insbesondere in der Ehe) im Besonderen. Die ausführlichen Angaben zu den Fluchtgründen - Verfolgung durch die paschtunische Nachbarsfamilie, weil der Bruder seiner Frau ein sexuelles Verhältnis mit deren Tochter unterhalten habe - entsprachen inhaltlich dem bisherigen Vorbringen. Auf ausdrücklichen Vorhalt, dass sein Vorbringen inhaltlich den Angaben zur Struktur der Familie in der afghanischen Gesellschaft widerspreche, gab der Beschwerdeführer an, seine Familie - gemeint damit: er, die Frau und die Kinder - sei gefährdet, weil sie den Schwager in die Hausgemeinschaft aufgenommen hätten; daher habe umgekehrt auch sein in Kabul verbliebener Bruder keine Probleme. Erstmalig erweiterte er sein Vorbringen dann dahingehend, dass die Nachbarfamilie auch den Taliban angehöre. Darüber hinaus erklärte der Mann der Beschwerdeführerin, dass diese Familie sich weder an Gesetze noch an die Regeln des Paschtunwali halte. Sein Vertreter gab auf Nachfrage an, dass der Paschtunwali "auch keine klaren Grenzen" kenne. Befragt zum aktuellen Leben der Familie in Österreich erklärte der Beschwerdeführer, dass diese "die wesentlichen Entscheidungen" in finanziellen Sachen treffe. Rechnen habe seine Frau in Österreich gelernt.

Die Frau des Beschwerdeführers gab zunächst Auskunft über ihr aktuelles Leben in Österreich - wobei sie erklärte, das Geld der Familie zu verwalten - und die Unterschiede zu ihrem Leben in Afghanistan. Dort würden ihr im Falle einer Rückkehr alle Rechte genommen. Bei der Erläuterung ihrer Fluchtgründe blieb die Beschwerdeführerin bei ihrer bisherigen Darstellung einer Verfolgung durch die paschtunische Nachbarsfamilie, weil ihr Bruder ein sexuelles Verhältnis mit deren Tochter unterhalten habe. Diese fiel deutlich detailärmer aus als jener ihres Mannes; zudem musste wiederholt die Fortsetzung der Erzählung vom Gericht angeregt werden. Wiederholt führte die Frau des Beschwerdeführers in diesem Zusammenhang entschuldigend aus, Analphabetin zu sein. Auf Vorhalt des Widerspruchs der vorgebrachten Rachehandlungen mit den vorgelegten Berichten und dem Inhalt des Paschtunwali erklärte sie, die Nachbarn "wollten einfach Rache nehmen". Ihr Vertreter gab auf Nachfrage an, dass Rache zur Wiederherstellung der Ehre nach dem Paschtunwali ein zulässiges Mittel sei.

Danach machte die Vertrauensperson Angaben zur Integrationsentwicklung der Beschwerdeführer_innen während ihres bisher rund zweieinhalb Jahre dauernden Aufenthalts in Österreich. Nach der Einvernahme wurde das Verhandlungsprotokoll dem Beschwerdeführer und seiner Frau rückübersetzt. Die Richtigkeit und Vollständigkeit der Protokolle wurden durch Unterschriftsleistung bestätigt.

12. Mit Schreiben vom 23.08.2018 (schriftliches Parteiengehör) brachte das Bundesverwaltungsgericht aktualisierte Berichte zur Situation in Afghanistan in das Verfahren ein und setzte eine Frist zur Abgabe einer Stellungnahme. Der Beschwerdeführer übermittelte bis zum heutigen Tage keine Stellungnahme.

13. Am 19.09.2018 erklärte sich der Leiter der im gegenständlichen Verfahren zuständigen Gerichtsabteilung für die Verfahren der weiblichen Familienmitglieder unter Verweis auf § 20 AsylG unzuständig.

14. Mit Erkenntnis vom 23.04.2019, W119 2140064-1/30E, hat das Bundesverwaltungsgericht der Frau des Beschwerdeführers wegen deren "persönlicher Wertehaltung" den Status der Asylberechtigten zuerkannt. Mit Erkenntnissen vom selben Tag wurde auch - unter Anwendung von § 34 AsylG in Bezug auf die Entscheidung bezüglich ihrer Mutter - den Töchtern des Beschwerdeführers der Status der Asylberechtigten zuerkannt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

1.1. Der Paschtunwali, das System der Blutrache und der Umgang mit Ehrdelikten in Afghanistan sowie die "Zurechnung" einer Person zu einem Familienverband

Der Paschtunwali, der traditionelle paschtunische Ehrenkodex, regelt unter anderem die Sanktion von Ehrverletzungen, die grundsätzlich von der Opferseite unmittelbar geahndet werden. Mittel zum Zweck kann dabei auch die Blutrache sein, deren Legitimität allerdings durch den Paschtunwali (und lokale Traditionen) auch begrenzt wird. Blutrache wird in Afghanistan grundsätzlich unabhängig von der konfessionellen und/oder ethnischen Zugehörigkeit ausgeübt, wobei auch das System des Paschtunwali volksgruppenübergreifenden Einsatz erfährt.

Primär richtet sich Blutrache nach den Regeln des Paschtunwali grundsätzlich (zwingend) immer gegen den unmittelbaren Täter. Eine Gefährdung besteht unter gewissen Umständen allerdings auch für einen Bruder des Täters oder einen anderen Verwandten der väterlichen Linie. Dies kann allenfalls sogar männliche Teenager betreffen. Frauen und Kinder sind von Racheakten in diesem Zusammenhang grundsätzlich ausgenommen. Die Beilegung einer Blutrache erfolgt in der Regel im Rahmen eines traditionellen Streitbeilegungsprozesses.

Ziel des Paschtunwali ist - ähnlich dem albanischen Kanun, dem antiken Codex Hammurabi, oder den strafrechtlichen Bestimmungen der Scharia - eine Begrenzung der privaten Sanktionsmöglichkeiten zur Ahndung insbesondere von Ehr- oder Tötungsdelikten. Keinesfalls erlaubt ist im Rahmen einer einzelnen Ehrverletzung die Ermordung einer ganzen Sippe. Ehrverletzungen an Frauen werden können auch nicht durch Ehrverletzungen an Frauen (oder anderen Familienmitgliedern) - etwa Vergewaltigungen - der "Tätersippe" ausgeglichen oder geheilt werden.

Frauen treten mit der Eheschließung aus dem Familienverband ihrer Eltern aus und treten in den Familienverband ihres Ehemannes ein. Auch die gemeinsamen Kinder werden zur Familie des Vaters gezählt. Zwischen einer verheirateten Frau und ihrem Bruder besteht im traditionellen afghanischen Familiensystem keine familiäre Bindung. Insbesondere sind weder die Frau noch ihr Mann für dessen Verfehlungen "haftbar". Eine allfällige rachewürdige Tat eines Mannes gefährdet ausschließlich seine männlichen Verwandten (insbesondere Vater und Brüder), niemals aber die in einer anderen Familie eingeheiratete Schwester.

1.2. Zur Person des Beschwerdeführers

Der Beschwerdeführer ist afghanischer Staatsangehöriger mit tadschikischer Volksgruppenzugehörigkeit. Er verfügt über familiäre Anknüpfungspunkte in Kabul. Er war in Kabul als selbständiger Fliesenleger tätig und konnte dadurch seiner Familie ein gesichertes und für lokale Verhältnisse gutes Einkommen garantieren. Er hat mit seiner Familie in einem soliden bürgerlichen Viertel Kabuls mit ethnisch gemischter Wohnbevölkerung gelebt. Er war stets und insbesondere auch noch im Zeitpunkt der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht, die unbestritten dominierende Person innerhalb seiner Kernfamilie und deren alleiniger wirtschaftlicher Erhalter. Er hat den Schulbesuch seiner ältesten Tochter nicht unterbunden; schulische Bildung und Selbständigkeit seiner Frau waren ihm in Afghanistan kein Anliegen.

Die Angaben des Beschwerdeführers zur innerfamiliären Vermögensverwaltung und Aufgabenteilung in Österreich waren zur Gänze nicht glaubhaft. Nicht glaubhaft waren schließlich auch die Behauptungen zu besonderen Dominanz seines Bruders innerhalb der Familie.

Der Beschwerdeführer ist in hohem Maße persönlich unglaubwürdig.

1.3. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers

Das vom Beschwerdeführer erstattete Vorbringen bezüglich der Probleme in Afghanistan und der aus diesem Grunde befürchteten Verfolgung erweist sich als zur Gänze nicht glaubhaft. Es widerspricht in seinem Kern den vom Beschwerdeführer selbst im Rahmen des Beschwerdeverfahrens vorgelegten Beweismitteln. Darüber hinaus ist es gänzlich unschlüssig und in sich widersprüchlich.

Für eine drohende Verfolgung (oder die begründete Furcht vor einer solchen) aus ethnischen, politischen oder religiösen Gründen gibt es keinerlei Hinweis.

2. Beweiswürdigung:

2.1. Die Feststellungen zum Paschtunwali, zur Zurechnung von Personen zu Familienverbänden sowie zum Umgang mit Ehrverletzungen und dem System der Blutrache ergeben sich aus den in das Verfahren eingeführten Berichten, insbesondere jenen, die vom bevollmächtigten Vertreter des Beschwerdeführers mit Schreiben vom 14.11.2017 in das Verfahren eingeführt worden sind.

So führt die Schweizerische Flüchtlingshilfe in ihrer "Schnellrecherche" unter anderem aus (Hervorhebungen durch das Gericht): "...zielt eine Blutrache hauptsächlich auf diejenige Person ab, die einer tat wie beispielsweise eines Mordes bezichtigt wird (...) aber auch die Tötung des Bruders des Täters oder eines anderen Verwandten der väterlichen Linie eine Alternative darstellen." (Seite 2 und erneut Seite 4). "Revenge cannot be exacted against women and children." (Seite 5).

Die grundlegenden Feststellungen zum System der Blutrache in kulturübergreifender Form ergeben sich überdies aus notorischem rechtshistorischen Wissen. Die Feststellungen zur "Familienzurechnung" von Frauen ergeben sich ebenfalls aus den vorliegenden Berichten und wurden vom Beschwerdeführer und seiner Frau auch ausdrücklich bestätigt. Überdies stellt dies gerichtsnotorisches Wissen zur afghanischen Gesellschaft dar.

2.2. Die Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers, zu seiner afghanischen Staatsangehörigkeit, seiner familiären Situation in Afghanistan sowie zu seiner Erwerbsstätigkeit dort ergeben sich aus dessen diesbezüglich glaubhaften Angaben im Verlauf des Verfahrens.

Da der Beschwerdeführer nicht nur formelles Oberhaupt seiner Kernfamilie ist, sondern auch der wirtschaftliche Alleinerhalter und überdies die einzige dauerhaft im Haushalt lebende Person mit Schulbildung - seine Frau hat nie eine Schule besucht und ist (faktische) Analphabetin - ergibt sich daraus zwingend die dominante Rolle im innerfamiliären Gefüge. Eine besondere Affinität zur Bildung von Frauen lässt sich aus den Schilderungen zum Leben in Afghanistan nicht ableiten, da für seine älteste Tochter ohnehin gesetzliche Schulpflicht bestand und der Pflichtschulbesuch von Mädchen jedenfalls in städtischen Zentren Afghanistans üblich ist. Hingegen hat er in Afghanistan keinerlei Interesse offenbart, seiner Frau eigenständige Bildung zu ermöglichen, obwohl er sowohl selbst über entsprechende intellektuelle Fähigkeiten zur Vermittlung von Basisbildung verfügt als auch die wirtschaftlichen Mittel gehabt hätte, seiner Frau zumindest den Erwerb grundlegender Bildung durch eine dritte Person zu finanzieren. Dies ist jedoch nicht erfolgt. Festzuhalten ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass auch die beschäftigungslose Frau des Beschwerdeführers nachweislich nicht einmal auf die Idee gekommen ist, sie könnte gemeinsam mit ihrer damals gerade schulpflichtigen Tochter Grundkenntnisse im Lesen und Schreiben erwerben.

Vor diesem Hintergrund erweisen sich die Behauptungen des Beschwerdeführers, wonach in Österreich seine Frau die wesentlichen Entscheidungen in der Familie - insbesondere in finanzieller Hinsicht - treffen würde als gänzlich lebensfremd und daher nicht einmal in Ansätzen glaubhaft. Dass ein über Jahre hinweg wirtschaftlich erfolgreicher selbständiger Einzelunternehmer finanzielle Entscheidungen einer völlig ungebildeten, bisher nie selbständig agierenden, Person überlässt, die gerade einmal kurz zuvor die Grundrechnungsarten gelernt haben will ist schlichtweg unvorstellbar. Umso mehr, als der Beschwerdeführer in Afghanistan nie als besonderer Förderer der Selbständigkeit seiner Frau aufgetreten ist und nach ihren Angaben auch einer streng traditionell orientierten Familie stammt.

Nicht glaubhaft machen konnte der Beschwerdeführer auch die behauptete massive innerfamiliäre Dominanz seines Bruders. Entscheidend ist dabei, dass er diesen ausgerechnet bei einer angeblichen existenziellen Bedrohung seiner Familie nicht um Hilfe ersucht haben will. Gleichzeitig behauptet der Beschwerdeführer, sein Bruder hätte durch seine Kontakte in der Wohngegend (des Beschwerdeführers) jederzeit mitbekommen, wenn die Frau des Beschwerdeführers gegen innerfamiliäre Anordnungen (etwa durch einen eigenständigen Marktbesuch) verstoßen hätte. Ausgerechnet Morddrohungen gegen seinen Bruder und dessen Familie soll er aber nicht mitbekommen haben. Auch diese Behauptung ist lebensfremd, weshalb die behauptete besondere Dominanz des Bruders der gegenständlichen Entscheidung nicht zugrunde gelegt werden kann.

Die persönliche Unglaubwürdigkeit des Beschwerdeführers ergibt sich aus den soeben dargelegten hochgradig unglaubhaften Angaben im Verfahren und dem ebenfalls nicht glaubhaften Verfolgungsvorbringen. Dazu kommt der persönliche Eindruck im Verlauf der Verhandlung, wo der Beschwerdeführer auf Nachfragen zu seinem umfangreichen und detaillierten Vorbringen auffallend wortkarg wurde und regelmäßig versuchte, die Nachfragen möglichst abzublocken (siehe dazu auch die Auszüge aus dem Verhandlungsprotokoll unter Punkt 2.3.).

2.3. Der Beschwerdeführer behauptete, ihm würden die Verfehlungen seines Schwagers zur Last gelegt, weil er diesem Unterkunft gewährt habe. Aus diesem Grund sei auch sein eigener Bruder nicht gefährdet, weil die Hausgemeinschaft (also er und seine Kernfamilie) für das Verhalten eines Mitbewohners verantwortlich sei. Dementsprechend sei sein eigener Bruder auch in keiner Form gefährdet und habe in Kabul bleiben können. Diese Behauptungen stehen allerdings in nicht auflösbarem Widerspruch zur Struktur der afghanischen Gesellschaft und zu den einschlägigen Regeln des Paschtunwali - wie sie sich auch aus den vom Vertreter des Beschwerdeführers selbst in das Verfahren eingebrachten Berichten ergeben. Kernelement ist dabei die Familie - und nicht eine (zufällige/kurzfristige) Wohngemeinschaft. Für eine solche "Haftung" gibt es auch in den seitens des Beschwerdeführers eingebrachten Berichten nicht den geringsten Hinweis. Geradezu abwegig ist vor dem Hintergrund dieser Berichte und der unstrittigen Stellung der Frau in der afghanischen Gesellschaft der Gedanke, eine "Ehrenhaftung" könnte über die Schwester auf eine andere Familie (nämlich jene, in dies sie eingeheiratet hat) übergreifen. Die Behauptungen des Beschwerdeführers werden daher schon durch die von seiner Seite vorgelegten Berichte im Kern widerlegt.

Verschärft wird dies durch die natürliche Person, die im diesbezüglich relevanten Zeitpunkt für den bevollmächtigten Vertreter (eine juristische Person) unmittelbar agiert hat - und dabei die angesprochenen Berichte vorlegte. Dabei handelt es sich um einen Juristen mit einschlägiger Praxis und Publikationserfahrung im Asylbereich, der zuvor auch als Mitarbeiter am Verwaltungsgerichtshof tätig war. Schon diesem hätten die dargelegten Widersprüche auffallen müssen, zumal kein Zweifel daran bestehen kann, dass ihm aus seiner beruflichen Erfahrung die afghanischen Familienstrukturen (und dabei insbesondere die "Zurechnung" von Frauen zu einem spezifischen Familienverband) bekannt sind. Dies hat er allerdings durch betont oberflächliche Ausführungen im Schriftsatz vom 14.11.2017 erkennbar versucht zu überspielen.

Unabhängig davon war auch das Vorbringen des Beschwerdeführers (im Verhandlungsprotokoll BF1) zu der behaupteten Verfolgung in hohem Maße inkonsistent, in sich widersprüchlich und im Falle von Nachfragen bemerkenswert oberflächlich und detailarm. Überdies steigerte er in der Verhandlung sein Vorbringen dahingehend, dass er seinen angeblichen Verfolgern neben Regierungs- auch Talibankontakte unterstellte - ohne zu diesen trotz mehrjähriger Nachbarschaft überhaupt substanzielle Angaben machen zu können. Die diesbezügliche Befragung verlief wie folgt:

"R: Hatten Sie in diesen Jahren mit dieser Nachbarfamilie einen losen Kontakt, überhaupt keinen Kontakt oder einen engeren Kontakt?

BF1: Wir hatten keine Kontakte, da sie für die Regierung gearbeitet haben, reich waren und ein eigenes Haus hatten, im Gegensatz zu uns. Ich war ein einfacher Fliesenleger. Deshalb hatten wir keinen Kontakt. Zusätzlich sind sie Paschtunen und wir sind Tadschiken.

R: Was verstehen Sie für unter die Regierung gearbeitet haben?

BF1: Die Nachbarn hatten erzählt, dass sie für die Regierung arbeiten würden. Sie hatten auch Regierungsautos, die sie hin- und hertransportiert haben.

R: Die Nachbarn haben Ihnen nicht gesagt, was sie konkret gemacht haben und Sie wissen das auch nicht?

BF1: Nein. Es war für mich nicht interessant zu hinterfragen.

R: Die übrigen Familien in der Nachbarschaft, waren das Handwerker wie Sie oder hochgestellte Familien, mit Autos zur Verfügung?

BF1: Von unseren unmittelbaren Nachbarn war dieser Nachbar der Einzige auf diesem Niveau. Aber weiter weg gab es auch andere Nachbarn, die für die Regierung gearbeitet haben mit staatlichen Autos.

R: Die Wohngegend, die Sie bewohnt haben, war eine für afghanische Verhältnisse gutbürgerliche Gegend?

BF1: Ja. Es hat auch einfachere Menschen dort gegeben. Es gab auch dort Leute, die Geschäfte hatten und einfach Verkäufer waren.

R: Sie haben gesagt, die Nachbarn waren zweimal noch zwischen Freitag und Donnerstag bei Ihnen im Haus, um Gespräche zu führen. Mit wem haben Sie da Gespräche geführt?

BF1: Mit meiner Frau.

R: Warum haben Sie Ihren Bruder nicht gleich am Freitag informiert?

BF1: Ich liebe meine Frau und ich wollte nicht, dass sie aus diesem Grund Schwierigkeiten mit meinem Bruder, meiner Schwägerin und mit meinen Eltern bekommt. Ich wusste, dass ihr der Bruder die Schuld sicher geben wird. Ich dachte mir, wir werden es schaffen, dass mein Schwager dieses Mädchen heiratet und dann würde ich meine Familie, meinen Bruder und meine Eltern, darüber informieren. Dann würde auch alles ganz normal aussehen und würde dadurch meine Frau keinen Schaden erleiden.

R: Was ist eigentlich mit Ihrem Schwager weiter passiert?

BF1: Mein Schwager ist zu meinem Bruder mitgegangen, dort wurden seine Verletzungen versorgt. Er begleitete uns dann die ganze Zeit. Wir sind in Österreich ausgestiegen. Er ist dann weiter gefahren mit dem Zug.

R: Haben Sie noch Kontakt zum Schwager?

BF1: Ich habe wenig Kontakt zu ihm, da ich ihm das noch übel nehme, was er uns gebracht hat. Seine Schwester, meine Frau, hat mit ihm Kontakt.

R: Wissen Sie, wo er sich aufhält im Moment?

BF1: In Finnland.

R: Sie haben vorher erzählt, Ihre Frau hat sich nicht einmal auf Grund Ihres Bruders einkaufen getraut, obwohl der Markt nahe war. Ihre Frau hat in einer derart dramatischen Situation selbständig mit der Nachbarfamilie zweimal verhandelt. Wie soll ich das glauben?

BF1: Ich habe Ihnen bereits geschildert, dass die Verkäufer in diesen Geschäften alle die Freunde meines Bruders waren. Wenn meine Frau sich draußen aufgehalten hätte oder dort einkaufen gewesen wäre, hätten diese Freunde meinem Bruder davon sicher berichtet. Aus diesem Grund hatte sie viel zu große Angst, dort einkaufen zu gehen. Was die Gespräche anbelangt, kamen nur die Schwester und die Mutter der betroffenen Ehefrau und diese haben mit meiner Frau gesprochen. Hinzu kommt, dass man in Afghanistan solche Ehrengeschichten in der Familie erledigt und von der Gesellschaft und von draußen fernhält. Da es um die Ehre der Familie geht, wird das Ganze intern erledigt.

R: Der Bruder Ihrer Frau gehört aber nicht zu Ihrer Familie?

BF1: Mein Schwager hielt sich bei uns zu Hause auf, als dieser Vorfall passiert ist. Der Nachbar hat mich beschuldigt, dass ich meinen Schwager bei mir leben lassen habe. Aus diesem Grund muss ich jetzt die Verantwortung übernehmen und meine Tochter als Bad geben. Ich wäre die Ursache des Problems, was mein Schwager verursacht hat. In Afghanistan sagt man nicht oder unterscheidet man nicht, wenn einer eine Tat begangen hat, dass auch dieser bestraft wird, sondern es wird gleich die ganze Familie hineingezogen, weil es um die Ehre zwischen Tadschiken und Paschtunen gegangen ist, wollte diese Familie ihre Ehre wieder hergestellt bekommen.

R: Wer wurde jetzt für das Handeln Ihres Schwagers verantwortlich gemacht? Sie persönlich oder Ihre Gattin?

BF1: Meine gesamte Familie.

R: Wieso lebt dann Ihr Bruder noch ohne Probleme in Afghanistan und er sogar das Familienoberhaupt ist?

BF1: Weil mein Schwager dieses Problem verursacht hat und ich und meine Familie meinen Schwager bei uns aufgenommen haben, betrifft mich und meine Frau das Problem und nicht meinen Bruder, denn er hat mit der Geschichte nichts zu tun.

R: Wenn ein männliches Mitglied einer afghanischen Familie, das unter der Oberhoheit seines ältesten Bruders steht und sich nichts zu sagen traut, nicht einmal in Bezug auf die Lebensführung der eigenen Ehefrau, etwas getan hat, das die Ehre einer hochangesehenen Familie verletzt, dann braucht das Familienoberhaupt keinerlei Verfolgungs- oder Vergeltungsmaßnahmen zu fürchten?

BF1: Ich habe bereits gesagt, dass ich dieses Problem vor meinem Bruder verborgen hielt, da ich nicht wollte, dass mein Bruder und meine Eltern ihr die Schuld für die Tat ihres Bruders geben.

R: Wiederholung der Frage mit dem Zusatz, dass der älteste Bruder des BF1 nach seinen Angaben wöchentlich auf Besuch war, enge Kontakte zu Geschäftsleuten in der nächsten Umgebung hatte und angesichts einer seit mehr als 10 Jahren bestehenden Nachbarschaft problemlos für jeden Nachbarn als Familienoberhaupt erkennbar oder jedenfalls nach dem Vorfall ermittelbar gewesen sein muss.

BF1: Die Ehrengeschichten bleiben immer in der Familie. Diese paschtunische Familie hat von diesem Vorfall mit der Tochter und der Verletzung meines Schwagers auf Grund seiner Tat niemanden etwas berichtet und hat dies auch nicht offiziell gemacht. Hätte der Nachbar das getan, hätte er noch mehr seine Ehre verletzt. Wir sind zu meinem Bruder geflüchtet und das hat niemand mitbekommen. Zusätzlich, wie ich schon bereits erwähnt habe, hat die Tat meines Schwagers mit meinem Bruder nichts zu tun und mein Bruder hat keine Kinder, keine Tochter, das man als Bad nehmen konnte.

R: Aber man könnte Ihren Bruder und seine Ehefrau und die Eltern problemlos umbringen, was man angeblich auch Ihnen und Ihrer Frau angedroht hat.

BF1: Die Tat hat mein Schwager begangen, der der Bruder meiner Gattin ist. Das alles betrifft meine Frau und mich. Wir waren Nachbarn und nicht mein Bruder. Deswegen gab es keinen Grund, an meinen Eltern, meinem Bruder oder meiner Schwägerin auch Rache auszuüben.

R: Gibt es in Afghanistan so etwas wie Blutrache?

BF1: Ja.

R: Wissen Sie, in welchen Fällen Blutrache zum Tragen kommt, also welche Tat Blutrache auslösen kann?

BF1: In Afghanistan ist die Ehre das Wichtigste, hat die höchsten Prioritäten. Aus diesem Grund kleiden sich Frauen mit der Burka. Sie dürfen nicht die Schule besuchen und auch nicht arbeiten, damit sie nicht von fremden Männern gesehen werden. Wenn ein Mann eine Frau verbal in ihrer Ehre verletzt, ist das schon ein Grund dafür, diesen Mann umzubringen, geschweige denn, wenn es zum sexuellen Kontakt kommt. Meine Frau hat mir berichtet, dass sie als Kind auch aus diesem Grund keine Schule besuchen durfte.

R: Gesetzt dem Fall, Ihr ältester Bruder würde eine Person aus einer anderen Familie töten oder eine Frau in ihrer Ehre verletzen, welche Personen wären dann gefährdet?

BF1: Wenn mein Bruder so eine Tat begeht, sind die Personen, zum Beispiel ein anderer Bruder, der bei ihm lebt, direkt davon betroffen. Wenn sie diesen Bruder, der diese Tat begangen hat, nicht erwischen, üben sie Rache am anderen Bruder, damit sie ihm zeigen können, dass das die Antwort auf seine Tat gewesen ist. Wenn in dieser Gegend ein Bruder lebt, ist er auch betroffen und dieser hat auch die Verantwortung zu übernehmen.

R: Was ist dieser Bereich in der Nähe? Können Sie das geographisch abgrenzen?

D: Er benutzt ein Wort "Mahduda". Das ist ein Areal. Er meint damit, alle Familienmitglieder, die sich im Haus befinden. Diese sind dann gefährdet auf Grund der Tat meines Bruders, wenn er diese Tat begangen hat.

R: Von Blutrache sind demnach nur Personen betroffen, die der Familie angehören und in derselben Hausgemeinschaft leben?

BF1: Ja.

R: Was sagt Ihnen der Begriff Paschtunwali?

BF1: Ich weiß was Paschtun ist, aber Paschtunwali weiß ich nicht.

R: Ich frage Sie deswegen, weil der Vertreter Ihre Verfolgung wegen Paschtunwali geltend machte. Es handelt sich dabei um den traditionellen paschtunischen Ehrenkodex. Fällt Ihnen jetzt dazu etwas ein?

BF1: Ich weiß, dass die Paschtunen mehr zueinander halten, als Tadschiken. Diese Familie stammte aus der Provinz Wardak und gehört dem Stamm der Bahadurkhel an. Bahadurkhel gehören sowohl den Taliban, als auch dem Staat an.

R: Sie wollen nicht sagen, dass die Familie eine Taliban-Familie ist?

BF1: Ja. Die Nachbarn haben gesagt, dass sie sowohl mit den Taliban, als auch mit der Regierung zusammenarbeiten.

R: Welche Nachbarn waren das?

BF1: Die Nachbarn unserer Umgebung rechts und links.

R: Ethnische Zugehörigkeiten und Berufe?

BF1: Rechts von uns hat ein Nachbar aus Panjshir gewohnt. Links von uns haben die Kabulis (eine aus Kabul stammende Familie) gewohnt.

R: Was haben die beruflich gemacht?

BF1: Die Familie aus Panjshir arbeitete auch für die Regierung. Den Beruf des Nachbarn aus Kabul wusste ich nicht. Sie waren ebenfalls zur Miete dort wohnhaft.

R: Ethnisch waren das Paschtunen oder Tadschiken?

BF1: Die Leute aus Kabul sind meistens Tadschiken.

R: Sie haben neben ihnen gewohnt.

BF1: Sie sprachen Farsi. Sie waren auch neu dort. Ich kannte sie nicht.

R: Die Familie aus Panjshir waren Tadschiken oder Paschtunen?

BF1: Tadschiken.

R: Wie lange haben diese neben Ihnen gewohnt?

BF1: Denen gehörte das Haus, wo wir gewohnt haben.

R: Die Familie aus Kabul hat wie lange neben Ihnen gelebt, von denen Sie nicht wissen, welcher ethnischen Gruppe Sie angehörten?

BF1: Ich kann das nicht genau sagen, ca. ein Jahr.

R: Dafür wussten Ihre Nachbarn, dass die paschtunische Sippe, mit denen Sie Probleme hatten, für die Taliban arbeiten?

BF1: Woher sie das gewusst haben, weiß ich nicht. Das Meiste hat das der Nachbar aus Panjshir berichtet in dem Geschäft, wo wir einkaufen gegangen sind.

R: Was für ein Geschäft war das?

BF1: In diesen drei Geschäften (Lebensmittelhandel, Haushaltswaren).

R: Das haben Sie erst nach dem Vorfall erfahren?

BF1: Ja. Das wussten wir schon vorher.

R: Wie lange ungefähr vorher?

BF1: Ich kann jetzt keinen Zeitpunkt nennen, ich kann es Ihnen nicht genau sagen, als die Karzai-Regierung zustande gekommen ist, als sie mit staatlichen Autos unterwegs waren.

R: Zur Regierungszeit von Karzai haben Sie es dann erfahren?

BF1: Ja.

R: Das Haus der paschtunischen Familie, war das gegenüber oder neben Ihrem Haus?

BF1: Hinter unserem Haus.

R: Beschreiben Sie das Haus ein wenig. Wie hat das Haus ausgesehen?

BF1: Unser Haus war ein dreistöckiges Haus.

R: Nicht Ihres. Das Haus der Nachbarn.

BF1: Zweistöckig war es und die Dächer waren miteinander verbunden. Wir hatten noch ein Stockwerk mehr.

R: Das bedeutet, die Häuser sind mit der von der Straße abgewandten Seite nebeneinandergestanden?

BF1: Ja.

R: Hatte dieses Nachbarhaus Sicherheitsvorkehrungen? Gab es dort Wächter oder Bewaffnete?

BF1: Nein.

R: Wissen Sie, wer dort alles gewohnt hat in dem Haus?

BF1: Er selbst, unser Nachbar, mit seinem Schwiegersohn und einem ledigen Sohn. Einer der Söhne war verheiratet. Er lebte ebenfalls bei uns.

R: Dazu noch die Frau des Nachbarn und seine Töchter?

BF1: Ja.

R: Können Sie sich vorstellen, wie Ihr Schwager in das Haus gelangt ist oder haben Sie das jemals gefragt?

BF1: Sie hatten zuerst telefonischen Kontakt. Als ich meinen Schwager genauer gefragt habe, berichtete er mir, dass er über das Dach zu ihr gegangen sei, wenn keine anderen Familienmitglieder zu Hause waren.

R: Wissen Sie, wie alt diese Frau war ungefähr?

BF1: Zwischen 20 und 22 Jahren.

R: Aber jedenfalls volljährig?

BF1: Ja.

R: Und der Bruder Ihrer Frau (Ihr Schwager) ist ungefähr wie alt?

BF1: Jetzt muss er ca. 30 Jahre alt sein.

R: Paschtunwali regelt u.a. das System des Bad und der Blutrache. Sie kennen diese beiden Systeme offensichtlich, obwohl Sie Paschtunwali nicht kennen, woher?

BF1: So eine Tat führt nicht nur bei den Paschtunen zu Bad oder Blutrache. Das kommt auch in Afghanistan bei anderen Volksgruppen vor. Wenn diese Tat zwischen den Paschtunen und Tadschiken stattfindet, dann ist das viel schwerwiegender.

R: Paschtunwali sieht im Fall von Ehrdelikten allerdings jedenfalls nie einen Massenmord an einer Familie oder sogar Massenvergewaltigungen von unmündigen Kindern vor. Sie behaupten, dass Ihnen so etwas angedroht wurde. Wollen Sie dazu etwas sagen?

BF1: An welche Gesetze halten sich die Menschen in Afghanistan, wenn sie sich an Paschtunwali halten.

R: Was wollen Sie mir damit sagen?

BF1: Ich meine, dass sich die Menschen nicht an die Gesetze halten, es passiert bei den Wahlen viel Korruption. Dann kommt ein ausländischer Minister der USA und er regelt das. Er sucht aus, wer Präsident und Vizepräsident wird.

BFV weist auf seine Stellungnahme hin, wonach es kein Mindestalter für Blutrache gibt.

R: Ihrer Meinung halten sich die Familien in Afghanistan weder an die staatlichen Gesetze in Afghanistan, noch an tradierte Gesetze bzw. Kodizes wie den Paschtunwali?

BF1: Genau. Für viele Volksgruppen ist die Macht ausschlaggebend und besonders bei den Paschtunen.

R: Das bedeutet zusammenfassend, dass die Nachbarfamilie Sie verfolgt auf Grund einer Ehrverletzung nach den tradierten Wertvorstellungen bzw. dem Paschtunwali, gleichzeitig sich aber durch die darin enthaltenen Reglementierungen betreffend Blutrache und Bad in keiner Weise gebunden erachtet, sondern völlig gesetz- und regellos agiert?

BF1: Ja. Das ist vergleichbar mit einem wilden Tier, das schwer verwundet und rachsüchtig ist. Alles andere, der Inhalt der Gesetze, gelten nicht. Für denjenigen gilt nur, dass seine Ehre verloren gegangen ist und er das unbedingt wiederhergestellt haben möchte."

Völlig inkonsistent ist damit das behauptete Handeln der Nachbarfamilie. Diese soll einerseits eine Ehrverletzung nach dem Paschtunwali rächen wollen - und dafür Kompensation nach dem Paschtunwali (bad) verlangen. Gleichzeitig soll sie aber bei dessen Verweigerung nicht die im Paschtunwali vorgesehenen "alternativen" (eigentlich vorrangigen) Regeln für die Sühnung der Ehrverletzung - die Tötung des Ehrverletzers oder eines seiner männlichen Verwandten verlangen. Sie soll vielmehr davon gänzlich abweichende Verbrechen - die Vergewaltigung kleiner Kinder - androhen. Der Beschwerdeführer schilderte in freier Erzählung dazu folgenden Vorfall betreffend den Schwager:

"Sein Gewand war mit Blut verschmiert, sein Gesicht war auch voll Blut. Ich brachte ihn ins Zimmer. Die Kinder fingen an zu weinen und zu schreien, ich fragte ihn, was vorgefallen sei. Er sagte, dass unsere Feinde, unser paschtunischer Nachbar, die zwei Brüder, der Vater des Mädchens und der Schwager des Mädchens ihn von der Straße mitgenommen hätten, in eine andere Gasse namens Chokorag gebracht hätten und ihn dort getreten und mit den Fäusten geschlagen hätten und auch mit einem Messer verletzt hätten. Sie hätten ihm dabei auch mitgeteilt, dass sie ihn diesmal nicht umbringen, aber wenn wir ihren Vorschlag nicht akzeptieren, würden sie ihn oder ein anderes Familienmitglied unserer Familie umbringen und die Kinder vergewaltigen."

Vor dem Hintergrund der von Seiten des Beschwerdeführers vorgelegten Berichte und seinen sonstigen Schilderungen erweist sich die Darstellung dieses Vorfalles - auch unabhängig von der Tatsache, dass die Kinder des Beschwerdeführers (wie er selbst) gar nicht zur Familie des Schwagers gehören - als schlicht lebensfremd. Es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, warum eine Familie eine Ehrverletzung durch die Vergewaltigung einer verheirateten Frau und von Kindern rächen sollte, wenn sie den Ehrverletzer bereits in ihrer Gewalt hatte und ihn problemlos hätte umbringen können. Anders als bei einer Gruppenvergewaltigung oder Ermordung von Kindern (die vom Paschtunwali nicht gedeckt wäre) wäre in diesem Fall nämlich tatsächlich eine weitreichende Akzeptanz in traditionell orientierten gesellschaftlichen Kreisen nachvollziehbar.

Insgesamt kann damit dem Vorbringen des Beschwerdeführers zur drohenden Verfolgung in Afghanistan keinerlei Glaubhaftigkeit zugebilligt werden.

Eine (drohende) Verfolgung aus ethnischen, politischen oder religiösen Gründen wurde vom Beschwerdeführer im gesamten verfahren nie behauptet. Sie wäre auch mit der problemlosen Wohnsituation in einem ethnisch und religiös gemischten Viertel Kabuls nicht stimmig in Einklang zu bringen. Überdies hat der Beschwerdeführer jegliche politische Aktivität verneint.

3. Rechtliche Beurteilung:

3.1. Zur Trennung des Familienverfahrens unter Anwendung des § 20 AsylG:

§ 20 AsylG enthält eine Schutzbestimmung für Asylwerber_innen, die einen (drohenden) Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung geltend machen. Im gegenständlichen Fall wurden im Verfahren sowohl die drohende Vergewaltigung einer verheirateten Frau, (zumindest) zweier weiblicher Minderjähriger aber auch eines männlichen Minderjährigen behauptet. Der Beschwerdeführer sprach in diesem Zusammenhang stets von "meine Kinder".

Damit steht - zumindest für diese Fallkonstellation - die Bestimmung des § 20 AsylG in einem Spannungsverhältnis zur einheitlichen Verfahrensführung der Familie gemäß § 34 AsylG. Angesichts der einschlägigen Judikatur des Verfassungsgerichtshofes kann allerdings kein Zweifel bestehen, dass in dieser Spannungssituation § 20 AsylG vorgeht, weshalb (ausschließlich) die Verfahren der weiblichen Familienmitglieder an eine von einer Frau geleitete Gerichtsabteilung abgetreten werden mussten.

3.2. Mit 01.01.2006 ist das Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl in Kraft getreten (AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005, zuletzt geändert mit BGBl. I Nr. 38/2011) und ist auf die ab diesem Zeitpunkt gestellten Anträge auf internationalen Schutz, sohin auch auf den vorliegenden, anzuwenden.

Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichtes ist durch das Verwaltungsgerichtsverfahrensgesetz (VwGVG), BGBl. I Nr 33/2013 idgF, geregelt. Gemäß § 58 Abs. 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.

Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung (BAO), BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes (AgrVG), BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 (DVG), BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.

§ 1 BFA-VG, BGBl I 2012/87 idF BGBL I 2013/144 bestimmt, dass dieses Bundesgesetz allgemeine Verfahrensbestimmungen beinhaltet, die für alle Fremden in einem Verfahren vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, vor Vertretungsbehörden oder in einem entsprechenden Beschwerdeverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gelten. Weitere Verfahrensbestimmungen im AsylG und FPG bleiben unberührt.

Gemäß §§ 16 Abs. 6 und 18 Abs. 7 BFA VG sind die §§ 13 Abs. 2 bis 5 und 22 VwGVG nicht anwendbar.

Zu A)

3.2. Zur Entscheidung über die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (§ 3 Abs. 1 AsylG 2005, BGBl. I Nr. 100/2005 idgF):

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz im Sinne des § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 AsylG zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Konvention über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 55/1955, idF des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, BGBl. Nr. 78/1974 (Genfer Flüchtlingskonvention - GFK), droht.

Als Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK ist anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich infolge obiger Umstände außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.

Zentrales Element des Flüchtlingsbegriffes ist nach ständiger Rechtsprechung des VwGH die "wohlbegründete Furcht vor Verfolgung" (vgl. VwGH 22.12.1999, Zl. 99/01/0334; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131; 25.01.2001, Zl. 2001/20/0011). Eine solche liegt dann vor, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 21.09.2000, Zl. 2000/20/0286).

Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende Sphäre des Einzelnen zu verstehen, welcher geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen (VwGH 24.11.1999, Zl. 99/01/0280). Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht, die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 19.12.1995, Zl. 94/20/0858; 23.09.1998, Zl. 98/01/0224; 09.03.1999, Zl. 98/01/0318;

09.03.1999, Zl. 98/01/0370; 06.10.1999, Zl. 99/01/0279 mwN;

19.10.2000, Zl. 98/20/0233; 21.12.2000, Zl. 2000/01/0131;

25.01.2001, Zl. 2001/20/0011).

Die Verfolgungsgefahr muss aktuell sein, was bedeutet, dass sie zum Zeitpunkt der Entscheidung vorliegen muss (VwGH 09.03.1999, Zl. 98/01/0318; 19.10.2000, Zl. 98/20/0233). Bereits gesetzte vergangene Verfolgungshandlungen können im Beweisverfahren ein wesentliches Indiz für eine bestehende Verfolgungsgefahr darstellen, wobei hierfür dem Wesen nach eine Prognose zu erstellen ist (VwGH 05.11.1992, Zl. 92/01/0792; 09.03.1999, Zl. 98/01/0318). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in den in der GFK genannten Gründen haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 nennt, und muss ihrerseits Ursache dafür sein, dass sich die betreffende Person außerhalb ihres Heimatstaates bzw. des Staates ihres vorigen Aufenthaltes befindet. Die Verfolgungsgefahr muss dem Heimatstaat bzw. dem Staat des letzten gewöhnlichen Aufenthaltes zurechenbar sein, wobei Zurechenbarkeit nicht nur ein Verursachen bedeutet, sondern eine Verantwortlichkeit in Bezug auf die bestehende Verfolgungsgefahr bezeichnet (VwGH 16.06.1994, Zl. 94/19/0183).

Von einer mangelnden Schutzfähigkeit des Staates kann nicht bereits dann gesprochen werden, wenn der Staat nicht in der Lage ist, seine Bürger gegen jedwede Übergriffe seitens Dritter präventiv zu schützen. Es ist erforderlich, dass der Schutz generell infolge Fehlens einer nicht funktionierenden Staatsgewalt ni

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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