TE Bvwg Erkenntnis 2019/3/8 W184 2198517-1

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Veröffentlicht am 08.03.2019
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Entscheidungsdatum

08.03.2019

Norm

AsylG 2005 §3
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W184 2198517-1/6E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Dr. Werner PIPAL als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX oder XXXX , StA. Afghanistan, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 16.05.2018, Zl. 1164151006/170951015, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 06.03.2019 zu Recht erkannt:

A)

Die Beschwerde wird gemäß § 3 AsylG 2005 als unbegründet abgewiesen.

B)

Die ordentliche Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

Die beschwerdeführende Partei, ein minderjähriger, männlicher Staatsangehöriger Afghanistans, brachte nach der illegalen Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 16.08.2017 den vorliegenden Antrag auf internationalen Schutz ein.

Mit dem angefochtenen Bescheid wurde folgende Entscheidung über diesen Antrag getroffen:

"I. Der Antrag auf internationalen Schutz wird hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 in Verbindung mit § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen.

II. Gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 wird Ihnen der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt.

III. Die befristete Aufenthaltsberechtigung wird Ihnen gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 bis zum 16.05.2019 erteilt."

Die Ergebnisse des Ermittlungsverfahrens und die Sachverhaltsfeststellungen wurden im angefochtenen Bescheid folgendermaßen zusammengefasst (gekürzt und teilweise anonymisiert durch das Bundesverwaltungsgericht):

"A) Verfahrensgang

...

Bei der Erstbefragung am 16.08.2017 ... gaben Sie betreffend

Fluchtgründe im Wesentlichen Folgendes an: Ich habe die letzten fünf bis sechs Jahre mit meinem Onkel väterlicherseits in Logar zusammengelebt. Ich hatte Schwierigkeiten mit den Taliban. Sie schickten mir Drohbriefe. Sie behaupteten, dass mein Vater für die Regierung arbeite und Spionage betreibe. Sie wollten, dass ich mich ihnen anschließe. Ich weigerte mich. Dann griffen sie unser Haus mit Bomben an. Bei dem Angriff wurden die Ehefrau und die Tochter meines Onkels getötet. Mein Leben war in Gefahr und ich konnte keinen Schutz bekommen, daher flüchtete ich aus Afghanistan.

...

Am 26.04.2018 wurden Sie beim Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ... niederschriftlich einvernommen. Die wesentlichen Passagen dieser Einvernahme gestalteten sich dabei wie folgt (F = Frage, A = Antwort):

...

F: Haben Sie im Verfahren bis dato der Wahrheit entsprechende Angaben gemacht?

A: Ja.

F: Wurde alles protokolliert und rückübersetzt?

A: Ja.

F: Möchten Sie zu Ihren bisher getätigten Aussagen in Ihren bisherigen Befragungen und Einvernahmen noch etwas hinzufügen oder korrigieren?

A: Ich habe nicht alles detailliert erzählt. Sie haben kurze Fragen gestellt und ich habe kurz geantwortet.

...

F: Sind Sie gesund?

A: Ja.

F: Leiden Sie an chronischen oder akuten Krankheiten, anderen Leiden oder Gebrechen?

A: Nein.

F: Nehmen Sie zurzeit Medikamente oder andere Substanzen?

A: Ich nehme eine Salbe, weil ich einen juckenden Ausschlag hatte. Ich weiß nicht, wie die Salbe heißt. Nachgefragt, der Ausschlag ist weg. Mir geht es gut.

...

F: Wurden Sie in Ihrem Heimatstaat von den staatlichen Behörden registriert?

A: Ich hatte eine afghanische Tazkira, aber keinen Pass. Ich war nie bei den afghanischen Behörden, wo ich es vorweisen musste. Im Moment habe ich die Tazkira nicht bei mir.

...

F: Aus welcher Provinz Ihres Heimatstaates kommen Sie?

A: Logar.

F: Aus welchem Distrikt Ihres Heimatstaates kommen Sie?

A: XXXX .

F: Aus welchem Dorf Ihres Heimatstaates kommen Sie?

A: XXXX .

F: Wie lautet die letzte Wohnadresse in Ihrem Heimatstaat?

A: Afghanistan, XXXX , XXXX , in einem Haus.

F: Welcher Volksgruppe gehören Sie an?

A: Ich gehöre der Volksgruppe der Paschtunen an.

F: Welcher Religion gehören Sie an?

A: Ich habe den sunnitisch-muslimischen Glauben.

...

F: Geben Sie chronologisch und lückenlos die Aufenthaltsorte der letzten drei Jahre bis zu Ihrer Ausreise aus Ihrem Heimatstaat an?

A: Afghanistan, XXXX , XXXX . Die gesamte Zeit lebte ich, ungefähr sechs Jahre, bei meinem Onkel in XXXX .

F: Wann genau haben Sie sich entschlossen, dass Sie Ihr Heimatland verlassen?

A: Einen Tag, bevor ich mein Land verlassen habe.

F: Wann haben Sie Ihr Heimatland tatsächlich verlassen?

A: Es war Sommer. Nachgefragt, weiß ich das Jahr nicht mehr.

F: Wie lange hat die Reise von Afghanistan bis nach Österreich gedauert?

A: Zwei Jahre, bis ich in Österreich angekommen bin.

...

F: Wo haben Sie die letzte Nacht vor der Ausreise verbracht?

A: Bei einem Nachbarn in der Ortschaft.

F: Wie hieß der Nachbar?

A: Jetzt kann ich mich nicht mehr erinnern.

...

F: Können Sie die Provinzen nennen, welche Sie bei der Ausreise aus Afghanistan durchreist sind?

A: Ja, ich kann mich erinnern. Von Logar bin ich nach Kabul gefahren, von dort nach Kandahar, von dort nach Pakistan.

F: Sind Sie allein oder mit Hilfe eines Schleppers aus Ihrem Heimatstaat ausgereist?

A: Mein Onkel hat mich bis in den Iran begleitet.

F: Und danach?

A: Ab dem Iran hatte ich dann einen Schlepper. Ich war nicht allein. Wir waren in einer Gruppe. Meinen Onkel habe ich im Iran verloren. In der Nacht, als wir dort angekommen sind, habe ich ihn verloren.

F: Nennen Sie die Länder, welche Sie auf Ihrer Reise nach Österreich durchreisten?

A: Pakistan, Iran, Türkei, Bulgarien, Serbien, Ungarn und Österreich.

F: Wie viel haben Sie für die Reise bezahlt?

A: Zwischen 6.000 bis 7.000 pakistanische Rupien, umgerechnet ca. 400.000 Afghani.

F: Wer hat die Reise organisiert?

A: Mein Onkel. Er hat Schlepper gekannt und hat auch mit ihnen vereinbart, wann und wo.

...

F: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Schulausbildung absolviert?

A: Bis zur 3. Klasse habe ich die Schule besucht. Nachgefragt, in Pakistan.

F: Wie lange sind Sie jetzt in die Schule gegangen?

A: Ich bin mit fünf Jahren zur Schule gegangen, habe dort zwei Jahre gemacht und von der 3. Klasse ein Monat gemacht und dann bin ich nach Afghanistan gereist.

F: Warum haben Sie in der Erstbefragung angegeben, dass Sie sieben Jahre Grundschule in Pakistan gemacht haben?

A: Das wurde falsch übersetzt, da ich gesagt habe, von fünf bis sieben Jahre bin ich zur Schule gegangen.

F: Erzählen Sie mir chronologisch Ihren Lebenslauf.

A: (Ich bin) in Pakistan in XXXX geboren. Ungefähr zwei Jahre habe ich dort die Schule besucht. Nachher ging ich nach Afghanistan und habe meinem Onkel geholfen. Er war Hirte und ich habe ihm geholfen. Das ist alles. Er hatte Ziegen, Lämmer. Er hat sehr viele Tiere gehabt.

F: Haben Sie in Ihrem Herkunftsstaat eine Berufsausbildung absolviert?

A: Nein.

...

F: Womit haben Sie sich in Ihrem Herkunftsstaat Ihren Lebensunterhalt verdient bzw. wer ist für Ihren Lebensunterhalt aufgekommen?

A: Mein Onkel hat mich versorgt.

F: Wie lange sind Sie insgesamt einer Arbeitstätigkeit beim Onkel nachgekommen?

A: Circa vier bis fünf Jahre lang. Nachgefragt, bin ich dort nicht zur Schule gegangen, dort gab es keine Schule, weil die Schulen, die existiert haben, durch die Taliban verbrannt wurden.

F: Konnten Sie bis zu Ihrer Ausreise aus Ihrem Heimatstaat der Arbeit bei Ihrem Onkel nachgehen?

A: Ja.

F: Wie sah Ihr Sozialleben in Afghanistan aus in Bezug auf Freunde, Bekannte, Aktivitäten, usw.?

A: Nein, habe ich nicht gehabt. Dort waren überall die Taliban, darum habe ich keine Freunde gehabt.

...

F: Lebten Sie an der letzten Wohnadresse bis zur Ausreise?

A: Ja. Nachgefragt, im Haus des Onkels.

F: Wer wohnt jetzt dort? Was ist mit dem Haus (der Wohnung) passiert?

A: Niemand. Das Haus gibt es nicht mehr. Das Haus wurde durch einen Bombenanschlag zerstört.

F: Welche Personen haben zum Zeitpunkt der Ausreise dort noch gelebt?

A: Mein Onkel, sein Sohn, seine Tochter und seine Ehefrau.

F: Wie heißt Ihr Vater, wie alt ist er und wo lebt er?

A: ... ca. 39 Jahre, er ist spurlos verschwunden. Ich weiß nicht, wo

er ist.

F: Wie heißt Ihre Mutter, wie alt ist sie und wo lebt sie?

A: ... ca. 40 Jahre. Ich weiß nicht, wo sie lebt. Meine Eltern und

meine Geschwister sind spurlos verschwunden. Ich weiß nicht, wo sie sind.

F: Haben Sie Geschwister, wie heißen sie, wann sind sie geboren und wo leben sie?

A: Bruder ... ca. 17 Jahre, Schwester ... ca. 9 Jahre. Bei der

ersten Einvernahme wurden manche Daten falsch eingetragen.

F: Welche Angehörigen leben noch in Ihrem Herkunftsstaat? Geben Sie Provinz, Distrikt, Stadt oder Dorf an.

A: Vielleicht gibt es Onkel mütterlicherseits, aber ich weiß es nicht genau. Nachgefragt, sonst lebt keiner. Ich habe mit denen aber keinen Kontakt.

F: Das ergibt aber keinen Sinn, wenn ich nicht weiß, ob es jemanden gibt, kann ich ja mit dem keinen Kontakt haben.

A: Weil ich einmal in Pakistan meinen Onkel mütterlicherseits getroffen habe, vor langer Zeit.

F: Welche Verwandten leben noch in Pakistan? Geben Sie Provinz, Distrikt, Stadt oder Dorf an.

A: Früher lebte mein Onkel mütterlicherseits dort, jetzt weiß ich aber nicht, wo er wohnt.

F: Wo befindet sich der Onkel, mit welchem Sie in den Iran gegangen sind?

...

A: Wir wurden getrennt. Es waren dort so viele Flüchtlinge. Ich habe die Übersicht verloren. Nachgefragt, ich habe ihn nicht mehr gefunden. Zwei Tage habe ich in der Türkei auf ihn gewartet, dass er kommt, er ist aber nicht mehr aufgetaucht.

F: Was haben Sie dann gemacht?

A: Als er nicht mehr aufgetaucht ist, hat mich der Schlepper weitergeschickt. Ich habe meinen Onkel seit diesem Zeitpunkt nicht gesehen.

F: Wie haben Sie dann den Schlepper kontaktiert, welcher Sie weitergeschickt hat?

A: Der Schlepper hat ein eigenes Quartier. Ich habe bei ihm gelebt.

F: Wohin hat er Sie weitergeschickt?

A: Ich bin dann nach Istanbul und dann nach Bulgarien weitergegangen.

F: Wie lange war das, als Sie Ihren Onkel im Iran verloren haben und nach Bulgarien gekommen sind?

A: Es sind etwa zehn Monate vergangen, weil ich 8-mal versucht habe, die bulgarische Grenze zu überqueren. Ich wurde immer festgenommen und in die Türkei abgeschoben. Danach ging ich dann nach Serbien.

F: Wo haben Sie in den zehn Monaten gewohnt?

A: Es war eine Wohnung des Schleppers. Er hatte mehrere Wohnungen.

F: Waren Sie je in Kabul?

A: Ich bin ein paar Mal dort gewesen.

F: Haben Sie in Kabul Bekannte oder Verwandte?

A: Ich bin nur mit meinem Onkel dort hingefahren und wir waren einkaufen.

...

Beantworten Sie die nachstehenden Fragen mit "Ja" oder "Nein". Sie haben später noch die Gelegenheit, sich ausführlich zu diesen Fragen zu äußern:

...

F: Waren Sie in Ihrem Heimatstaat inhaftiert?

A: Nein.

F: Haben Sie in Ihrem Heimatstaat Probleme mit Behörden gehabt?

A: Nein, mit niemandem.

F: Bestehen gegen Sie aktuelle staatliche Fahndungsmaßnahmen, wie Haftbefehl, Strafanzeige, Steckbrief, etc.?

A: Nein.

F: Sind oder waren Sie politisch tätig?

A: Nein.

F: Sind oder waren Sie Mitglied einer politischen Partei?

A: Nein.

F: Sind oder waren Familienangehörige Mitglied einer politischen Partei?

A: Nein.

F: Hatten Sie in Ihrem Herkunftsstaat Probleme aufgrund Ihres Religionsbekenntnisses?

A: Nein.

F: Hatten Sie in Ihrem Herkunftsstaat Probleme aufgrund Ihrer Volksgruppenzugehörigkeit?

A: Nein.

F: Hatten Sie größere Probleme mit Privatpersonen (Blutfehden, Racheakte, etc.)?

A: Nein.

F: Nahmen Sie in Ihrem Heimatland an bewaffneten oder gewalttätigen Auseinandersetzungen aktiv teil?

A: Nein.

F: Schildern Sie die Gründe, warum Sie Ihr Heimatland verlassen und einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt haben, von sich aus vollständig, detailliert und wahrheitsgemäß ...

A: Als ich von Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt bin, war ich sieben Jahre alt. Zwei Monate später gingen meine Eltern einkaufen zum Bazar. Ich weiß nicht, ob sie nach Kabul oder woanders hingefahren sind. Ich bin am Vormittag weggegangen und kam am Nachmittag um 15 Uhr nach Hause. Meine Eltern waren nicht zu Hause. Es kam ein Nachbar zu mir und sagte, dass ich zu ihm nach Hause mitkommen soll. Danach brachte mich mein Nachbar zu meinem Onkel. Ich wusste nicht, worum es geht, aber er war sehr traurig. Er erzählte mir, dass meine Eltern zu meinem Onkel mütterlicherseits zu Besuch gegangen sind. Bei uns in der Provinz und der Umgebung waren überall die Taliban aktiv. Mein Onkel erzählte, dass es für mich und uns sehr gefährlich ist, hier zu leben. Er hat mehrere Drohbriefe bekommen. Wir bekamen fast jeden Tag Drohbriefe, bis ich einen selber gesehen habe und meinen Onkel gefragt habe, was das ist. Ich habe einmal zugehört, wie mein Onkel mit seiner Frau geredet hat und gesagt hat, dass die Taliban uns allen vorwerfen, dass wir Spione wären und für die Taliban arbeiten sollen. Das hat er mit seiner Frau gesprochen. Und dann wusste ich, worum es geht. Eines Tages gingen wir arbeiten. Wir waren den ganzen Tag unterwegs. Als wir am Abend nach Hause kamen, sahen wir, dass mehrere Bomben in das Haus meines Onkels geworfen wurden, und dabei wurden die Ehefrau und die beiden Kinder des Onkels getötet. Die haben uns vorgeworfen, dass wir Spione wären. Dort waren überall Taliban. Am nächsten Tag sind wir dann geflüchtet. Wir sind heimlich geflüchtet, dass es keiner mitbekommt.

...

F: Welche konkrete Bedrohung gegen Ihre Person würden Sie jetzt befürchten, wenn Sie nach Afghanistan zurückkehren müssten?

A: Erstens nirgendwo ist es sicher für mich. Überall herrscht Krieg

und keine Sicherheit ... Ich bin dort gefährdet, ich bin dort nicht

sicher. Man nimmt nicht die gefährlichen Wege auf sich, wenn man nicht gefährdet ist in Afghanistan. In Afghanistan sind nicht nur Taliban, sondern Daesh aktiv. Überall finden Selbstmordanschläge statt und man ist nirgends sicher.

...

F: Wann sind Sie mit Ihrem Onkel am nächsten Tag abgereist von dem Heimatdorf?

A: Am Morgen, in der Früh. Nachgefragt, wir haben bei einem Nachbarn geschlafen.

F: Mit wem fuhren Ihre Eltern, als sie verschwunden sind, auf den Bazar?

A: Ich habe es selbst nicht gesehen, mit wem sie weggefahren sind, aber sie haben mir gesagt, dass sie auf den Bazar fahren.

F: Nur Ihre Eltern sind gefahren?

A: Meine Schwester und mein Bruder sind auch mitgefahren. Mein Bruder war stumm.

F: Warum sind Sie nicht mitgefahren?

A: Ich wollte nicht. Ich habe gesagt, ich bleibe da und spiele.

F: Wo sind Sie hingegangen, um zu spielen?

A: Draußen spielte ich.

F: Warum ging Ihre Familie von Pakistan nach Afghanistan zurück?

A: Wir haben keinen Flüchtlingsstatus gehabt, dass wir dort leben durften. Die pakistanischen Behörden wollten die Afghanen nach Hause schicken. Wir lebten dort in einem Flüchtlingscamp.

F: Wo wurden Ihre Tante und deren Kinder beerdigt?

A: Die Dorfleute haben gesagt, dass sie sich darum kümmern und dass wir flüchten sollen. Wir waren die letzte Nacht bei unserem Nachbarn versteckt.

F: Sie gaben einen Bombenangriff auf das Haus Ihres Onkels an. War das ein gezielter Anschlag auf das Haus Ihres Onkels oder gab es in der Ortschaft oder der Umgebung ein Gefecht?

A: Nicht am selben Tag, sondern ein paar Monate zuvor waren auch Bombenanschläge in unserer Umgebung.

F: Wo befanden Sie sich in der Zeit des Bombenangriffes?

A: Ich habe doch gesagt, dass mein Onkel Hirte war, und wir sind unterwegs gewesen in den Bergen.

F: Wissen Sie, ob es ein gezielter Anschlag auf das Haus war oder ein Gefecht. Was sagten die Nachbarn?

A: Nein, es war gezielt, weil dort waren überall die Taliban präsent.

F. Woher wissen Sie, dass es gezielt war?

A: Sie haben uns vorgeworfen, dass wir spioniert haben. Nachgefragt, die Briefe, die die Taliban geschrieben haben, darin haben sie geschrieben, dass sie so etwas tun. Ich habe die Briefe nicht gelesen, mein Onkel hat es seiner Frau erzählt und ich habe es gehört. Die Taliban wollten die Jungen, welche in meinem Alter sind, rekrutieren. Dort in unserer Gegend sind sehr radikale Gruppierungen aktiv. Es gibt eine Gruppierung Namens XXXX , so heißt auch deren Anführer. Die waren in unserer Gegend. Sie versuchen, die Leute zu Taten zu bringen, welche sie nicht freiwillig machen wollen.

F: Wie viele Drohbriefe hat Ihr Onkel bekommen?

A: Vier oder fünf Stück hat er erhalten. Ich glaube, bevor ich zu meinem Onkel gekommen bin, hat er auch schon welche bekommen, ich weiß es aber nicht sicher. Die ersten zwei Monate habe ich bei meinen Eltern gelebt.

F: Was stand in den Drohbriefen? Was haben Sie aus den Gesprächen Ihres Onkels mitbekommen?

A: Was ich gehört habe, wie mein Onkel es seiner Frau erzählte: Dass wir Spione sind. Entweder wir sollen für die Taliban arbeiten oder wir werden getötet.

F: Wer ist gemeint mit "wir"? Bezieht sich das auf Ihren Onkel und Tante oder auf Sie?

A: Ich und mein Onkel. Ich habe jeden Tag Taliban dort gesehen. Es gab auch junge rekrutierte Taliban dabei, welche sich im Dorf aufgehalten haben. Am Anfang glaubte mein Onkel an diese Drohbriefe nicht.

F: Wie kam er zu den Drohbriefen?

A: Die haben diese einfach durch die Türspalte hineingeworfen.

F: Bekamen andere Dorfbewohner auch Drohbriefe?

A: Die Leute, die mit den Taliban nicht mitgemacht haben, die bekamen solche Drohbriefe.

F: Warum wurden Sie nicht persönlich von den Taliban darauf angesprochen?

A: Das, was sie sagen wollten, haben sie in dem Brief geschrieben ... Die Taliban schicken jedem, den sie ins Visier nehmen, Drohbriefe.

F: Wann fing das mit den Drohbriefen an?

A: Leider kann ich mich nicht erinnern.

F: Sie haben lange bei Ihrem Onkel gewohnt. Waren die Drohbriefe auch schon am Anfang oder nur am Ende?

A: Ich glaube, ein bis eineinhalb Jahre, als ich zu meinem Onkel gekommen bin, fingen diese Drohbriefe an. Die Taliban-Gruppierungen haben oft gewechselt. Es kamen auch immer neue. Die haben sich abgewechselt.

F: Hat Ihr Vater auch schon Drohbriefe bekommen?

A: Nein, mein Vater bekam keine Drohbriefe.

F: Warum gaben Sie bei der Erstbefragung an, dass Ihr Vater von den Taliban bezichtigt wurde, dass er für die Regierung arbeiten würde?

A: Das habe ich nicht gesagt. Ich habe auch meiner Betreuerin gesagt, dass dieser Punkt nicht stimmt.

Anmerkung: Die gesetzliche Vertretung gibt an, dass sie von dem Asylwerber auf diesen Punkt der Unstimmigkeit in der Erstbefragung aufmerksam gemacht worden ist.

F: Was hätten Sie oder Ihr Onkel für die Taliban machen sollen?

A: Dass wir mit denen am Jihad teilnehmen und kämpfen. Das wollten wir auf keinen Fall, weder ich noch mein Onkel.

F: Hatten Sie je persönlichen Kontakt mit den Taliban?

A: Nein.

F: Haben Sie oder Ihr Onkel oder Ihre Angehörigen sich deswegen um Hilfe an die Behörden, insbesondere die Polizei, gewandt?

A: In unserer Provinz gibt es keine behördlichen Posten, wo man sich melden kann. Außerdem hat mein Onkel nicht geglaubt, dass es so gefährlich sein kann für uns.

F: Haben Sie oder Ihr Onkel sich um Hilfe an die Dorfältesten gewandt? Wenn nein, warum nicht?

A: Wie gesagt, wir haben nicht geglaubt, dass es gefährlich ist. Außerdem macht der Dorfälteste mit, was die Taliban wollen. Weil eben alle mit den Taliban mitmachen, kann die Regierung dort nicht existieren oder sie aufhalten.

F: Wurden Sie je persönlich verfolgt oder bedroht?

A: Nicht direkt, aber in diesen Briefen haben sie mich auch erwähnt. Sie haben gesagt, deinen Neffen. Sie haben uns beide bedroht. Es ist deren Weise. Sie nehmen minderjährige Kinder mit und bilden sie aus, weil die Minderjährigen bessere Arbeit leisten. Der Anführer der Gruppierung XXXX , welche sich um die Rekrutierungen kümmert, heißt

XXXX .

...

B) Beweismittel

...

C) Feststellungen

Der Entscheidung liegen folgende Feststellungen zugrunde:

Zu Ihrer Person:

...

Zu Ihrer Situation im Fall Ihrer Rückkehr:

...

Sie verfügen laut Ihren Angaben über keine Angehörigen in Ihrem Heimatstaat. Ihre Eltern und Ihre Geschwister sind verschollen. Der Aufenthalt von weiteren Angehörigen ist Ihnen nicht bekannt. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass Sie im Falle Ihrer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund Ihrer Minderjährigkeit, dem Nichtvorhandensein von familiären Anknüpfungspunkten in Ihrem Heimatsaat und des Umstandes, dass Sie aufgrund Ihres jungen Alters zum Zeitpunkt der Entscheidung durch das Bundesamt noch nicht selbsterhaltungsfähig sind, in eine die Existenz bedrohende Notlage geraten würden.

Zur Lage in Ihrem Herkunftsstaat:

Kurzinformation vom 30.01.2018: Angriffe in Kabul ...

Landesweit haben in den letzten Monaten Aufständische, inklusive der Taliban und des IS, ihre Angriffe auf afghanische Truppen und Polizisten intensiviert (The Guardian; vgl. BBC 29.1.2018). Die Gewalt Aufständischer gegen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen hat in den letzten Jahren zugenommen (The Guardian 24.1.2018). Die Taliban erhöhen ihre Operationen, um ausländische Kräfte zu vertreiben; der IS hingegen versucht, seinen relativ kleinen Einflussbereich zu erweitern. Kabul ist in diesem Falle für beide Gruppierungen interessant (Asia Pacific 30.1.2018).

Im Stadtzentrum und im Diplomatenviertel wurden Dutzende Hindernisse, Kontrollpunkte und Sicherheitskameras errichtet. Lastwagen, die nach Kabul fahren, werden von Sicherheitskräften, Spürhunden und weiteren Scannern kontrolliert, um sicherzustellen, dass keine Sprengstoffe, Raketen oder Sprengstoffwesten transportiert werden. Die zeitaufwändigen Kontrollen führen zu langen Wartezeiten; sollten die korrekten Papiere nicht mitgeführt werden, so werden sie zum Umkehren gezwungen. Ebenso werden die Passagiere in Autos von der Polizei kontrolliert (Asia Pacific 30.1.2018).

Angriff auf die Marshal Fahim Militärakademie 29.1.2018

Am Montag, den 29.1.2018, attackierten fünf bewaffnete Angreifer einen militärischen Außenposten in der Nähe der Marshal Fahim Militärakademie (auch bekannt als Verteidigungsakademie), die in einem westlichen Außendistrikt der Hauptstadt liegt. Bei dem Vorfall wurden mindestens elf Soldaten getötet und 15 weitere verletzt, bevor die vier Angreifer getötet und ein weiterer gefasst werden konnte. Der Islamische Staat bekannte sich zu dem Vorfall (Reuters 29.1.2018; vgl. NYT 28.1.2018).

Quellen zufolge operiert der IS in den Bergen der östlichen Provinz Nangarhar (The Guardian 29.1.2018); die Provinzhauptstadt Jalalabad wird als eine Festung des IS erachtet, dessen Kämpfer seit 2015 dort aktiv sind (BBC 24.1.2018). Nachdem der IS in Ostafghanistan unter anhaltenden militärischen Druck gekommen war, hatte dieser immer mehr Angriffe in den Städten für sich beansprucht. Nationale und internationale Experten sehen die Angriffe in den Städten als Überlappung zwischen dem IS und dem Haqqani-Netzwerk (einem extremen Arm der Taliban) (NYT 28.1.2018).

Angriff im Regierungs- und Diplomatenviertel in Kabul am 27.1.2018

Bei einem der schwersten Angriffe der letzten Monate tötete am Samstag, den 27.1.2018, ein Selbstmordattentäter der Taliban mehr als 100 Menschen und verletzte mindestens 235 weitere (Reuters 28.1.2018; vgl. The Guardian 28.1.2018). Eine Bombe - versteckt in einem Rettungswagen - detonierte in einem schwer gesicherten Bereich der afghanischen Hauptstadt (The Guardian 27.1.2018; vgl. The Guardian 28.1.2018). Der Vorfall ereignete sich im Regierungs- und Diplomatenviertel und wird als einer der schwersten seit dem Angriff vom Mai 2017 betrachtet, bei dem eine Bombe in der Nähe der deutschen Botschaft explodiert war und 150 Menschen getötet hatte (Reuters 28.1.2018).

Die Taliban verlautbarten in einer Aussendung, der jüngste Angriff sei eine Nachricht an den US-amerikanischen Präsidenten, der im letzten Jahr mehr Truppen nach Afghanistan entsendete und Luftangriffe sowie andere Hilfestellungen an die afghanischen Sicherheitskräfte verstärkte (Reuters 28.1.2018).

Angriff auf die NGO Save the Children am 24.1.2018

Am Morgen des 24.1.2018 brachte ein Selbstmordattentäter ein mit Sprengstoff beladenes Fahrzeug am Gelände der Nichtregierungsorganisation (NGO) Save The Children in der Provinzhauptstadt Jalalabad zur Explosion. Mindestens zwei Menschen wurden dabei getötet und zwölf weitere verletzt. Zum Zeitpunkt des Angriffs befanden sich 50 Mitarbeiter im Gebäude. Der IS bekannte sich zu diesem Vorfall (BBC 24.1.2018; vgl. Reuters 24.1.2018).

Der jüngste Angriff auf eine ausländische Hilfseinrichtung in Afghanistan unterstreicht die wachsende Gefahr, denen Mitarbeiter von Hilfsorganisationen in Afghanistan ausgesetzt sind (The Guardian 24.1.2018).

Das Gelände der NGO Save the Children befindet sich in jener Gegend von Jalalabad, in der sich auch andere Hilfsorganisationen sowie Regierungsgebäude befinden (BBC 24.1.2018). In einer Aussendung des IS werden die Autobombe und drei weitere Angriffe auf Institutionen der britischen, schwedischen und afghanischen Regierungen genannt (Reuters 24.1.2018).

Angriff auf das Hotel Intercontinental in Kabul am 20.1.2018

Der Angriff bewaffneter Männer auf das Luxushotel Intercontinental in Kabul wurde von afghanischen Truppen abgewehrt, nachdem die ganze Nacht um die Kontrolle über das Gebäude gekämpft worden war (BBC 21.1.2018). Fünf bewaffnete Männer mit Sprengstoffwesten hatten sich Zutritt zu dem Hotel verschafft (DW 21.1.2018). Die exakte Opferzahl ist unklar. Einem Regierungssprecher zufolge sollen 14 Ausländer und vier Afghanen getötet worden sein. Zehn weitere Personen wurden verletzt, einschließlich sechs Mitglieder der Sicherheitskräfte (NYT 21.1.2018). 160 Menschen konnten gerettet werden (BBC 21.1.2018). Alle fünf Angreifer wurden von den Sicherheitskräften getötet (Reuters 20.1.2018). Die Taliban bekannten sich zu dem Angriff (DW 21.1.2018).

Wie die Angreifer die Sicherheitsvorkehrungen durchbrechen konnten, ist Teil von Untersuchungen. Erst seit zwei Wochen ist eine private Firma für die Sicherheit des Hotels verantwortlich. Das Intercontinental in Kabul ist trotz des Namens nicht Teil der weltweiten Hotelkette, sondern im Besitz der afghanischen Regierung. In diesem Hotel werden oftmals Hochzeiten, Konferenzen und politische Zusammentreffen abgehalten (BBC 21.1.2018). Zum Zeitpunkt des Angriffes war eine IT-Konferenz im Gange, an der mehr als 100 IT-Manager und Ingenieure teilgenommen hatten (Reuters 20.1.2018; vgl. NYT 21.1.2018).

Insgesamt handelte es sich um den zweiten Angriff auf das Hotel in den letzten acht Jahren (NYT 21.1.2018). Zu dem Angriff im Jahr 2011 hatten sich ebenso die Taliban bekannt (Reuters 20.1.2018).

Unter den Opfern waren ausländische Mitarbeiter der afghanischen Fluggesellschaft Kam Air, u. a. aus Kirgisistan, Griechenland (DW 21.1.2018), der Ukraine und Venezuela. Die Fluglinie verbindet jene Gegenden Afghanistans, die auf dem Straßenweg schwer erreichbar sind (NYT 29.1.2018).

Quellen:

Asia Pacific (30.1.2018): Taliban and IS create perfect storm of bloodshed in Kabul ...;

BBC (29.1.2018): Kabul military base hit by explosions and gunfire

...;

BBC (24.1.2018): Save the Children offices attacked in Jalalabad, Afghanistan ...;

BBC (21.1.2018): Kabul: Afghan forces end Intercontinental Hotel siege ...;

DW - Deutsche Welle (21.1.2018): Taliban militants claim responsibility for attack on Kabul hotel ...;

NYT - The New York Times (28.1.2018): Attack Near Kabul Military Academy Kills 11 Afghan Soldiers ...;

NYT - The New York Times (21.1.2018): Siege at Kabul Hotel Caps a Violent 24 Hours in Afghanistan;

Reuters (28.1.2018): Shock gives way to despair in Kabul after ambulance bomb ...;

Reuters (24.1.2018): Islamic State claims attack on Jalalabad in Afghanistan ...;

Reuters (20.1.2018): Heavy casualties after overnight battle at Kabul hotel ...;

The Guardian (29.1.2018): Afghanistan: gunmen attack army post at Kabul military academy ...;

The Guardian (28.1.2018): 'We have no security': Kabul reels from deadly ambulance bombing ...;

The Guardian (27.1.2018): Kabul: bomb hidden in ambulance kills dozens ...;

The Guardian (24.1.2018): Isis claims attack on Save the Children office in Afghanistan ...

Kurzinformation vom 21.12.2017: Aktualisierung der Sicherheitslage in Afghanistan - Q4.2017 ...

Die Sicherheitslage in Afghanistan ist nach wie vor höchst volatil - der Konflikt zwischen regierungsfeindlichen Kräften und Regierungskräften hält landesweit an (UN GASC 20.12.2017). Zur Verschlechterung der Sicherheitslage haben die sich intensivierenden Zusammenstöße zwischen Taliban und afghanischen Sicherheitskräften beigetragen (SIGAR 30.10.2017; vgl. SCR 30.11.2017).

Die afghanischen und internationalen Sicherheitskräfte verstärkten deutlich ihre Luftoperationen (UN GASC 20.12.2017; vgl. SIGAR 30.10.2017), die in 22 Provinzen registriert wurden. So haben sich im Berichtszeitraum der Vereinten Nationen (UN) Luftangriffe um 73% gegenüber dem Vorjahreswert erhöht (UN GASC 20.12.2017). Der Großteil dieser Luftangriffe wurde in der südlichen Provinz Helmand und in der östlichen Provinz Nangarhar erfasst (UN GASC 20.12.2017; vgl. SIGAR 30.10.2017), die als Hochburgen des IS und der Taliban gelten (SIGAR 30.10.2017). Verstärkte Luftangriffe hatten wesentliche Auswirkungen und führten zu hohen Opferzahlen bei Zivilisten und regierungsfeindlichen Elementen (UN GASC 20.12.2017). Zusätzlich ist die Gewalt in Ostafghanistan auf die zunehmende Anzahl von Operationen der ANDSF und der Koalitionskräfte zurückzuführen (SIGAR 30.10.2017).

Landesweit kam es immer wieder zu Sicherheitsoperationen, bei denen sowohl aufständische Gruppierungen als auch afghanische Sicherheitskräfte Opfer zu verzeichnen hatten (Pajhwok 1.12.2017; TP 20.12.2017; Xinhua 21.12.2017; Tolonews 5.12.2017; NYT 11.12.2017).

Den Vereinten Nationen zufolge hat sich der Konflikt seit Anfang des Jahres verändert, sich von einer asymmetrischen Kriegsführung entfernt und in einen traditionellen Konflikt verwandelt, der von bewaffneten Zusammenstößen zwischen regierungsfeindlichen Elementen und der Regierung gekennzeichnet ist. Häufigere bewaffnete Zusammenstöße werden auch als verstärkte Offensive der ANDSF-Operationen gesehen, um die Initiative von den Taliban und dem ISKP zu nehmen - in diesem Quartal wurde im Vergleich zum Vorjahr eine höhere Anzahl an bewaffneten Zusammenstößen erfasst (SIGAR 30.10.2017).

Sicherheitsrelevante Vorfälle

Die Vereinten Nationen (UN) registrierten im Berichtszeitraum (15.9. - 15.11.2017) 3.995 sicherheitsrelevante Vorfälle, ein Rückgang von 4% gegenüber dem Vorjahreswert. Insgesamt wurden von 1.1.-15.11.2017 mehr als 21.105 sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, was eine Erhöhung von 1% gegenüber dem Vorjahreswert andeutet. Laut UN sind mit 62% bewaffnete Zusammenstöße die Hauptursache aller sicherheitsrelevanten Vorfälle, gefolgt von IEDs [Unkonventionelle Spreng- oder Brandvorrichtung/Sprengfallen], die in 17% der sicherheitsrelevanten Vorfälle Ursache waren. Die östlichen Regionen hatten die höchste Anzahl an sicherheitsrelevanten Vorfällen zu verzeichnen, gefolgt von den südlichen Regionen - zusammen wurden in diesen beiden Regionen 56% aller sicherheitsrelevanten Vorfälle registriert. Gezielte Tötungen und Entführungen haben sich im Vergleich zum Vorjahreswert um 16% erhöht (UN GASC 20.12.2017).

Laut der internationalen Sicherheitsorganisation für NGOs (INSO) wurden vom 1.1.-30.11.2017 24.917 sicherheitsrelevante Vorfälle in Afghanistan registriert (Stand: Dezember 2017) (INSO o.D.).

Zivilisten

Im Gegensatz zum Vergleichszeitraum des letzten Jahres registrierte die UNAMA zwischen 1.1. und 30.9.2017 8.019 zivile Opfer (2.640 Tote und 5.379 Verletzte). Dies deutet insgesamt einen Rückgang von fast 6% gegenüber dem Vorjahreswert an (UNAMA 10.2017); konkret hat sich die Anzahl getöteter Zivilisten um 1% erhöht, während sich die Zahl verletzter Zivilisten um 9% verringert hat (UN GASC 20.12.2017). Wenngleich Bodenoffensiven auch weiterhin Hauptursache für zivile Opfer waren - führte der Rückgang der Anzahl von Bodenoffensiven zu einer deutlichen Verringerung von 15% bei zivilen Opfern. Viele Zivilisten fielen Selbstmordattentaten sowie komplexen Angriffen und IEDs zum Opfer - speziell in den Provinzen Kabul, Helmand, Nangarhar, Kandahar und Faryab (UNAMA 10.2017).

Zivile Opfer, die regierungsfreundlichen Kräften zugeschrieben wurden, sind um 37% zurückgegangen: Von insgesamt 849 waren 228 Tote und 621 Verletzte zu verzeichnen. Im Gegensatz dazu erhöhte sich die Anzahl ziviler Opfer, die regierungsfeindlichen Elementen zugeschrieben werden, um 7%: von den 1.150 zivilen Opfer starben 225, während 895 verletzt wurden. Die restlichen Opfer konnten keiner Tätergruppe zugeschrieben werden (UNAMA 10.2017).

High-profile Angriffe

Am 31.10.2017 sprengte sich ein Selbstmordattentäter in der "Green Zone" der Hauptstadt Kabul in die Luft. Der angebliche Täter soll Quellen zufolge zwischen 12-13 Jahren alt gewesen sein. Mindestens vier Menschen starben bei dem Angriff und ein Dutzend weitere wurden verletzt. Dies war der erste Angriff in der "Green Zone" seit dem schweren Selbstmordattentat im Mai 2017 (BBC 31.10.2017; vgl. Telegraph 31.10.2017). Der IS bekannte sich zu diesem Vorfall Ende Oktober 2017 (BBC 31.10.2017; vgl. Telegraph 31.10.2017; UN GASC 20.12.2017).

Am 20.10.2017 sprengte sich ein Angreifer in der Shia Imam Zamam Moschee in Kabul in die Luft; dabei wurden mindestens 30 Menschen getötet und 45 weitere verletzt. Der IS bekannte sich zu diesem Angriff (Independent 20.10.2017; vgl. BBC 21.10.2017; UN GASC 20.12.2017). In dem Distrikt Solaina in der westlichen Provinz Ghor wurde ebenso eine Moschee angegriffen - in diesem Fall handelt es sich um eine sunnitische Moschee. Die tatsächliche Opferzahl ist umstritten: Je nach Quellen sind zwischen 9 und 39 Menschen bei dem Angriff gestorben (Independent 20.10.2017; vgl. NYT 20.10.2017; al Jazeera 20.10.2017).

Am 19.10.2017 wurden im Rahmen eines landesweit koordinierten Angriffes der Taliban 58 afghanische Sicherheitskräfte getötet: Ein militärisches Gelände, eine Polizeistation und ein militärischer Stützpunkt in Kandahar wären beinahe überrannt worden (Independent 20.10.2017; vgl. BBC 21.10.2017). Einige Tage vor diesem Angriff töteten ein Selbstmordattentäter und ein Schütze mindestens 41 Menschen, als sie ein Polizeiausbildungszentrum in der Provinzhauptstadt Gardez stürmten (Provinz Paktia) (BBC 21.10.2017). In der Woche davor wurden 14 Offiziere der Militärakademie auf dem Weg nach Hause getötet, als ein Selbstmordattentäter den Minibus in die Luft sprengte, in dem sie unterwegs waren (NYT 20.10.2017). Die afghanische Armee und Polizei haben dieses Jahr schwere Verlusten aufgrund der Taliban erlitten (BBC 21.10.2017).

Am 7.11.2017 griffen als Polizisten verkleidete Personen/regierungsfeindliche Kräfte eine Fernsehstation "Shamshad TV" an; dabei wurde mindestens eine Person getötet und zwei Dutzend weitere verletzt. Die afghanischen Spezialkräfte konnten nach drei Stunden Kampf die Angreifer überwältigen. Der IS bekannte sich zu diesem Angriff (Guardian 7.11.2017; vgl. NYT 7.11.2017; UN GASC 20.12.2017).

Bei einem Selbstmordangriff im November 2017 wurden mindestens neun Menschen getötet und einige weitere verletzt; die Versammelten hatten einem Treffen beigewohnt, um den Gouverneur der Provinz Balkh - Atta Noor - zu unterstützen; auch hier bekannte sich der IS zu diesem Selbstmordattentat (Reuters 16.11.2017; vgl. UN GASC 20.12.2017).

Interreligiöse Angriffe

Serienartige gewalttätige Angriffe gegen religiöse Ziele veranlassten die afghanische Regierung, neue Maßnahmen zu ergreifen, um Anbetungsorte zu beschützen: Landesweit wurden 2.500 Menschen rekrutiert und bewaffnet, um 600 Moscheen und Tempel vor Angriffen zu schützen (UN GASC 20.12.2017).

Seit 1.1.2016 wurden im Rahmen von Angriffen gegen Moscheen, Tempel und andere Anbetungsorte 737 zivile Opfer verzeichnet (242 Tote und 495 Verletzte); der Großteil von ihnen waren schiitische Muslime, die im Rahmen von Selbstmordattentaten getötet oder verletzt wurden. Die Angriffe wurden von regierungsfeindlichen Elementen durchgeführt - hauptsächlich dem IS (UNAMA 7.11.2017).

Im Jahr 2016 und 2017 registrierten die UN Tötungen, Entführungen, Bedrohungen und Einschüchterungen von religiösen Personen - hauptsächlich durch regierungsfeindliche Elemente. Seit 1.1.2016 wurden 27 gezielte Tötungen religiöser Personen registriert, wodurch 51 zivile Opfer zu beklagen waren (28 Tote und 23 Verletzte); der Großteil dieser Vorfälle wurde im Jahr 2017 verzeichnet und konnte großteils den Taliban zugeschrieben werden. Religiösen Führern ist es möglich, öffentliche Standpunkte durch ihre Predigten zu verändern, wodurch sie zum Ziel von regierungsfeindlichen Elementen werden (UNAMA 7.11.2017).

ANDSF - afghanische Sicherheits- und Verteidigungskräfte

Informationen zur Stärke der ANDSF und ihren Opferzahlen werden von den US-amerikanischen Kräften in Afghanistan (USFOR-A) geheim gehalten; im Bericht des US-Sonderbeauftragten für den Aufbau in Afghanistan (SIGAR) werden Schätzungen angegeben: Die Stärke der ANDSF ist in diesem Quartal zurückgegangen; laut USFOR-A betrug die Stärke der ANDSF mit Stand August 2017 etwa 320.000 Mann - dies deutet einen Rückgang von 9.000 Mann gegenüber dem vorhergehenden Quartal an. Dennoch erhöhte sich der Wert um 3.500 Mann gegenüber dem Vorjahr (SIGAR 30.10.2017). Die Schwundquote der afghanischen Nationalpolizei war nach wie vor ein großes Anliegen; die Polizei litt unter hohen Opferzahlen (UN GASC 20.12.2017).

Im Rahmen eines Memorandum of Understanding (MoU) zwischen dem afghanischen Verteidigungs- und Innenministerium wurden die afghanische Grenzpolizei (Afghan Border Police) und die afghanische Polizei für zivile Ordnung (Afghan National Civil Order Police) dem Verteidigungsministerium übertragen (UN GASC 20.12.2017). Um sogenanntem "Geisterpersonal" vorzubeugen, werden seit 1.1.2017 Gehälter nur noch an jenes Personal im Innen- und Verteidigungsministerium ausbezahlt, welches ordnungsgemäß registriert wurde (SIGAR 30.10.2017).

Regierungsfeindliche Gruppierungen

Taliban

Der UN zufolge versuchten die Taliban weiterhin, von ihnen kontrolliertes Gebiet zu halten bzw. neue Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen - was zu einem massiven Ressourcenverbrauch der afghanischen Regierung führte, um den Status-Quo zu halten. Seit Beginn ihrer Frühjahrsoffensive unternahmen die Taliban keine größeren Versuche, um eine der Provinzhauptstädte einzunehmen. Dennoch war es ihnen möglich, kurzzeitig mehrere Distriktzentren einzunehmen (SIGAR 30.10.2017):

Die Taliban haben mehrere groß angelegte Operationen durchgeführt, um administrative Zentren einzunehmen, und konnten dabei kurzzeitig den Distrikt Maruf in der Provinz Kandahar, den Distrikt Andar in Ghazni, den Distrikt Shib Koh in der Farah und den Distrikt Shahid-i Hasas in der Provinz Uruzgan überrennen. In allen Fällen gelang es den afghanischen Sicherheitskräften, die Taliban zurückzudrängen - in manchen Fällen mit Hilfe von internationalen Luftangriffen. Den afghanischen Sicherheitskräften gelang es, das Distriktzentrum von Ghorak in Kandahar unter ihre Kontrolle zu bringen - dieses war seit November 2016 unter Talibankontrolle (UN GASC 20.12.2017).

Im Rahmen von Sicherheitsoperationen wurden rund 30 Aufständische getötet; unter diesen befand sich - laut afghanischen Beamten - ebenso ein hochrangiger Führer des Haqqani-Netzwerkes (Tribune 24.11.2017; vgl. BS 24.11.2017). Das Haqqani-Netzwerk zählt zu den Alliierten der Taliban (Reuters 1.12.2017).

Aufständische des IS und der Taliban bekämpften sich in den Provinzen Nangarhar und Jawzjan (UN GASC 20.12.2017). Die tatsächliche Beziehung zwischen den beiden Gruppierungen ist wenig nachvollziehbar - in Einzelfällen schien es, als ob die Kämpfer der beiden Seiten miteinander kooperieren würden (Reuters 23.11.2017).

IS/ISIS/ISKP/ISIL-KP/Daesh

Der IS war nach wie vor widerstandsfähig und bekannte sich zu mehreren Angriffen auf die zivile Bevölkerung, aber auch auf militärische Ziele [Anm.: siehe High-Profile Angriffe] (UN GASC 20.12.2017). Unklar ist, ob jene Angriffe, zu denen sich der IS bekannt hatte, auch tatsächlich von der Gruppierung ausgeführt wurden bzw. ob diese in Verbindung zur Führung in Mittleren Osten stehen. Der afghanische Geheimdienst geht davon aus, dass in Wahrheit manche der Angriffe tatsächlich von den Taliban oder dem Haqqani-Netzwerk ausgeführt wurden und sich der IS opportunistischerweise dazu bekannt hatte. Wenngleich Luftangriffe die größten IS-Hochburgen in der östlichen Provinz Nangarhar zerstörten, hielt das die Gruppierungen nicht davon ab, ihre Angriffe zu verstärken (Reuters 1.12.2017).

Sicherheitsbeamte gehen davon aus, dass der Islamische Staat in neun Provinzen in Afghanistan eine Präsenz besitzt: im Osten von Nangarhar und Kunar bis in den Norden nach Jawzjan, Faryab, Badakhshan und Ghor im zentralen Westen (Reuters 23.11.2017). In einem weiteren Artikel wird festgehalten, dass der IS in zwei Distrikten der Provinz Jawzjan Fuß gefasst hat (Reuters 1.12.2017).

Politische Entwicklungen

Der Präsidentenpalast in Kabul hat den Rücktritt des langjährigen Gouverneurs der Provinz Balkh, Atta Mohammad Noor, Anfang dieser Woche bekanntgegeben. Der Präsident habe den Rücktritt akzeptiert. Es wurde auch bereits ein Nachfolger benannt (NZZ 18.12.2017). In einer öffentlichen Stellungnahme wurde Mohammad Daud bereits als Nachfolger genannt (RFE/RL 18.12.2017). Noor meldete sich zunächst nicht zu Wort (NZZ 18.12.2017).

Wenngleich der Präsidentenpalast den Abgang Noors als "Rücktritt" verlautbarte, sprach dieser selbst von einer "Entlassung" - er werde diesen Schritt bekämpfen (RFE/RL 20.12.2017). Atta Noors Partei, die Jamiat-e Islami, protestierte und sprach von einer "unverantwortlichen, hastigen Entscheidung, die sich gegen die Sicherheit und Stabilität in Afghanistan sowie gegen die Prinzipien der Einheitsregierung" richte (NZZ 18.12.2017).

Die Ablösung des mächtigen Gouverneurs der nordafghanischen Provinz Balch droht Afghanistan in eine politische Krise zu stürzen (Handelsblatt 20.12.2017). Sogar der Außenminister Salahuddin Rabbani wollte nach Angaben eines Sprechers vorzeitig von einer Griechenlandreise zurückkehren (NZZ 18.12.2017).

Atta Noor ist seit dem Jahr 2004 Gouverneur der Provinz Balkh und gilt als Gegner des Präsidenten Ashraf Ghani, der mit dem Jamiat-Politiker Abdullah Abdullah die Einheitsregierung führt (NZZ 18.12.2017). Atta Noor ist außerdem ein enger Partner der deutschen Entwicklungshilfe und des deutschen Militärs im Norden von Afghanistan (Handelsblatt 20.12.2017).

In der Provinz Balkh ist ein militärischer Stützpunkt der Bundeswehr (Handelsblatt 20.12.2017).

Quellen:

al Jazeera (20.10.2017): Deadly attacks hit mosques in Kabul and Ghor ...;

BBC (31.10.2017): Kabul Green Zone attacked by suicide bomber ...;

BBC (21.10.2017): Afghan suicide mosque attacks kill scores of worshippers ...;

BS - Business Standard (24.11.2017): Key Haqqani network leader among dozens killed in Afghanistan ...;

Guardian (7.11.2017): Kabul TV station defiantly resumes broadcasting moments after Isis attack ends ...;

Handelsblatt (20.12.2017): Afghanistan stürzt in politische Krise

...;

KUNA - Kuwait News Agency (15.12.2017): Security operations kill 12 rebels in Afghanistan ...;

Independent (20.10.2017): Kabul attack: Isis claims responsibility for Shia mosque suicide bombing killing at least 30 in Afghan capital ...;

INSO - International NGO Safety Organisation (o.D.): Afghanistan - Total incidents per month for the current year to date ...;

INSO - The International NGO Safety Organisation (2017): Afghanistan - Gross Incident Rate ...;

NYT - The New York Times (11.12.2017): Hunting Taliban and Islamic State Fighters, From 20,000 Feet ...;

NYT - The New York Times (7.11.2017): A Leading Afghan TV Station Is Attacked in Kabul ...;

NYT - The New York Times (20.10.2017): Twin Mosque Attacks Kill Scores in One of Afghanistan's Deadliest Weeks ...;

NZZ - Neue Züricher Zeitung (18.12.2017): Palastintrige in Kabul

...;

Pajhwok (1.12.2017): 31 militants eliminated in security operations, says MoD ...;

Reuters (1.12.2017): Islamic State seizes new Afghan foothold after luring Taliban defectors ...;

Reuters (23.11.2017): Islamic State beheads 15 of its own fighters:

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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