TE Bvwg Erkenntnis 2019/5/29 W115 2166056-1

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.05.2019
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Entscheidungsdatum

29.05.2019

Norm

AsylG 2005 §3 Abs1
AsylG 2005 §3 Abs4
AsylG 2005 §3 Abs4b
AsylG 2005 §3 Abs5
AsylG 2005 §34 Abs2
AsylG 2005 §34 Abs4
B-VG Art.133 Abs4

Spruch

W115 2166052-1/8E

W115 2166050-1/8E

W115 2166056-1/8E

W115 2166054-1/8E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

I. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian DÖLLINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX und XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian DÖLLINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch XXXX und XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am XXXX zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

III. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian DÖLLINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den XXXX und XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom

XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am

XXXX zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

IV. Das Bundesverwaltungsgericht hat durch den Richter Mag. Christian DÖLLINGER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch den XXXX und XXXX , gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom

XXXX , Zl. XXXX , nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am

XXXX zu Recht erkannt:

A)

Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 idgF der Status des Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 idgF wird festgestellt, dass XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B)

Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

I.

Text

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:

I. Verfahrensgang:

1. Die Erstbeschwerdeführerin reiste gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Zweitbeschwerdeführer, und ihrer gemeinsamen minderjährigen Tochter, der Drittbeschwerdeführerin, unter Umgehung der Grenzkontrollen in das österreichische Bundesgebiet ein und stellten sie am XXXX die gegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz.

1.1. Im Verlauf der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX gab die Erstbeschwerdeführerin für sich und die Drittbeschwerdeführerin im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari zusammengefasst an, dass sie afghanische Staatsangehörige sei und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams angehöre. Sie sei in der Stadt XXXX geboren und habe bis zur Ausreise dort gelebt. Befragt zu ihren Familienverhältnissen gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie mit dem Zweitbeschwerdeführer verheiratet sei und mit ihm und der Drittbeschwerdeführerin gemeinsam Afghanistan verlassen hätte. Sie seien schlepperunterstützt über den Iran, die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn bis nach Österreich gereist. In ihrem Herkunftsland würden noch ihr Vater sowie ihre fünf Schwestern leben. Ihre Mutter sei bereits verstorben. Zu ihren Fluchtgründen befragt gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass ihr Ehemann von den Taliban mit dem Tod bedroht worden sei. Weiters sei die Sicherheitslage schlecht und ihr sei es in Afghanistan nicht möglich als Frau zu überleben. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte sie, dass sie und ihre Familie von den Taliban getötet werden würden.

Der Zweitbeschwerdeführer gab im Verlauf der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am XXXX im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari zusammengefasst an, dass er afghanischer Staatsangehöriger sei und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams angehören würde. Er sei in der Stadt XXXX geboren und hätte bis zur Ausreise dort gelebt. Befragt zu seinen Familienverhältnissen gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass er mit der Erstbeschwerdeführerin verheiratet sei und mit ihr und der Drittbeschwerdeführerin gemeinsam Afghanistan verlassen hätte. Sie seien schlepperunterstützt über den Iran, die Türkei, Griechenland, Mazedonien, Serbien und Ungarn bis nach Österreich gereist. In seinem Herkunftsland würden noch seine Mutter sowie zwei von seinen Brüdern leben. Sein dritter Bruder lebe gemeinsam mit seiner Familie in Österreich. Auch eine seiner beiden Schwestern lebe gemeinsam mit ihrer Familie hier. Seine zweite Schwester halte sich in England auf. Sein Vater sei bereits verstorben. Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass er in Afghanistan von den Taliban mit dem Tod bedroht worden sei. Sie hätten von ihm verlangt, dass er mit ihnen zusammenarbeiten solle. Darüber hinaus sei in Afghanistan die Sicherheitslage sehr schlecht. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte er, dass er und seine Familie von den Taliban getötet werden würden.

1.2. Am XXXX wurde der Viertbeschwerdeführer, Sohn der Erstbeschwerdeführerin und des Zweitbeschwerdeführers, in Österreich geboren und stellte der Zweitbeschwerdeführer für ihn als gesetzlicher Vertreter am XXXX im Rahmen eines Familienverfahrens einen Antrag auf internationalen Schutz.

1.3. Nach Zulassung des Verfahrens durch Ausfolgung einer Aufenthaltsberechtigungskarte wurden die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer am XXXX vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (Kurzbezeichnung BFA; in der Folge belangte Behörde genannt) im Beisein eines Dolmetschers für die Sprache Dari/Farsi niederschriftlich einvernommen.

Die Erstbeschwerdeführerin gab für sich und die Drittbeschwerdeführerin sowie den Viertbeschwerdeführer im Wesentlichen zusammengefasst an, dass ihre bisherigen Angaben der Wahrheit entsprechen würden. Sie sei afghanische Staatsangehörige und gehöre der Volksgruppe der Tadschiken und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams an. Sie sei in der Stadt XXXX geboren und hätte bis zu ihrer Ausreise dort gelebt. Sie sei 12 Jahre in die Schule gegangen und sei dann Hausfrau gewesen. Befragt zu ihren Familienverhältnissen gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie und ihr Ehemann vor ca. drei Jahren geheiratet hätten. Mit diesen habe sie zwei Kinder, die Drittbeschwerdeführerin und den Viertbeschwerdeführer. In Afghanistan würden noch ihr Vater sowie ihre fünf Schwestern leben. Zu diesen habe sie jedoch keinen Kontakt mehr. Ihre Mutter sei bereits verstorben. Befragt zu ihren Fluchtgründen gab die Erstbeschwerdeführerin zusammengefasst an, dass sie und ihr Ehemann Afghanistan wegen familiärer Probleme verlassen hätten müssen. Zudem habe ihr Ehemann Schwierigkeiten mit den Taliban bekommen und sei von diesen mit dem Tod bedroht worden. Darüber hinaus würde es in Afghanistan für Frauen keine Sicherheit und keine Freiheiten geben. Aus diesen Gründen seien sie geflüchtet. Befragt, was sie bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte, gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass ihr Ehemann getötet werden würde und sie würde dann nicht wissen, was aus ihr und ihren beiden Kindern werden würde. Weiters gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass ihre Angaben auch für ihre Tochter und ihren Sohn gelten würden, diese hätten keine eigenen Fluchtgründe.

Der Zweitbeschwerdeführer gab im Wesentlichen zusammengefasst an, dass seine bisherigen Angaben der Wahrheit entsprechen würden. Er sei afghanischer Staatsangehöriger und würde der Volksgruppe der Tadschiken und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams angehören. Er sei in der Stadt XXXX geboren und habe dort gemeinsam mit seiner Ehefrau bis zu ihrer Ausreise gelebt. Befragt zu seinen Familienverhältnissen gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass er zusammen mit seiner Ehefrau und den gemeinsamen Kindern in Österreich leben würde. Er und seine Ehefrau hätten vor ca. drei Jahren geheiratet. In Afghanistan würden noch seine Mutter sowie zwei von seinen Brüdern leben. Zu ihnen habe er jedoch keinen Kontakt mehr. Sein dritter Bruder lebe gemeinsam mit seiner Familie in Österreich. Auch eine seiner beiden Schwestern lebe gemeinsam mit ihrer Familie hier. Weiters verfüge er in Österreich noch über zwei Cousins mütterlicherseits. Seine zweite Schwester halte sich in England auf. Sein Vater sei bereits verstorben. Befragt zu seiner Schul- und Berufsausbildung gab der Zweitbeschwerdeführer an, dass er in Afghanistan 12 Jahre in die Schule gegangen sei und anschließend drei Jahre studiert habe. Neben dem Studium habe er als Immobilienmakler gearbeitet. Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der Zweitbeschwerdeführer zusammengefasst an, dass er von den Taliban mit dem Tod bedroht worden sei, nachdem er sich geweigert habe, mit ihnen zusammenzuarbeiten. Darüber hinaus hätten er und seine Ehefrau aufgrund familiärer Probleme mit ihren Familien Afghanistan verlassen müssen. So sei er z.B. von den Brüdern seines Schwiegervaters zusammengeschlagen und mit dem Tod bedroht worden. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan befürchte er entweder von den Taliban oder von den Brüdern seines Schwiegervaters getötet zu werden.

Weiters wurden der Erstbeschwerdeführerin und dem Zweitbeschwerdeführer von der belangten Behörde Länderfeststellungen zu Afghanistan vorgehalten und ihnen die Möglichkeit eingeräumt, dazu binnen zwei Wochen Stellung zu nehmen.

Im Zuge der Einvernahme wurden von der Erstbeschwerdeführerin und dem Zweitbeschwerdeführer ihre Tazkiras, die Heiratsurkunde, Unterlagen betreffend die Schul- und Berufsausbildung des Zweitbeschwerdeführers sowie integrationsbescheinigende Unterlagen in Vorlage gebracht.

1.4. Mit Schriftsatz vom XXXX wurde vom bevollmächtigten Vertreter der Beschwerdeführer zu den im Rahmen der Einvernahme vom XXXX vorgehaltenen Länderfeststellungen im Wesentlichen zusammengefasst ausgeführt, dass der Erstbeschwerdeführerin bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund der dortigen aktuellen Situation für Frauen eine asylrelevante Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention drohen würde, da sie sich in ihrer Wertehaltung überwiegend an dem in Europa mehrheitlich gelebten "westlichen" Frauen- und Gesellschaftsbild orientieren würde. Darüber hinaus würden hinsichtlich der Beschwerdeführer die Voraussetzungen für die Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten vorliegen. Aufgrund der schlechten Versorgungs- und Sicherheitslage sei bei einer Rückkehr nach Afghanistan davon auszugehen, dass sie in eine ausweglose Lage geraten würden und somit eine Verletzung der durch Art. 2 bzw. 3 EMRK geschützten Rechte vorliegen würde.

1.5. Mit den im Spruch genannten Bescheiden wurden die Anträge der Beschwerdeführer auf internationalen Schutz bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.); die Anträge bezüglich der Zuerkennung des Status der subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt II.); ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 nicht erteilt, gegen die Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG 2005 iVm § 9 BFA-VG eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Afghanistan zulässig ist (Spruchpunkt III.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde festgestellt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise zwei Wochen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung beträgt (Spruchpunkt IV.).

1.6. Mit Verfahrensanordnung der belangten Behörde vom XXXX wurde den Beschwerdeführern gemäß § 52 Abs. 1 BFA-VG für das Beschwerdeverfahren amtswegig ein Rechtsberater zur Seite gestellt.

1.7. Gegen die im Spruch genannten Bescheide der belangten Behörde erhob der bevollmächtigte Vertreter der Beschwerdeführer fristgerecht eine gemeinsame Beschwerde, mit der die Bescheide vollinhaltlich angefochten wurden. In der Begründung wurde der Beweisführung sowie der rechtlichen Beurteilung der belangten Behörde substantiiert entgegengetreten. Zudem wurde die Durchführung einer mündlichen Beschwerdeverhandlung beantragt.

2. Die gegenständlichen Beschwerden samt Verwaltungsakte langten der Aktenlage nach am XXXX beim Bundesverwaltungsgericht ein. Im Rahmen der Beschwerdevorlage wurde von der belangten Behörde auf die Teilnahme an einer mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht verzichtet.

2.1. Das Bundesverwaltungsgericht beraumte in der Folge eine mündliche Verhandlung für den XXXX an.

2.2. Im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am XXXX brachten die Beschwerdeführer nach Erläuterung des bisherigen Verfahrensganges und des Akteninhaltes im Beisein des bevollmächtigten Vertreters sowie eines Dolmetschers für die Sprache Dari auf richterliche Befragung im Wesentlichen zusammengefasst vor, dass ihre bisherigen Angaben der Wahrheit entsprechen würden. Hinsichtlich des Geburtsdatums der Drittbeschwerdeführerin gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass dieses von der belangten Behörde nicht richtig protokolliert worden sei. Ihre Tochter sei nicht am XXXX , sondern am XXXX geboren worden. Auf richterliche Befragung gaben die Beschwerdeführer an, dass sie afghanische Staatsangehörige seien, der Volksgruppe der Tadschiken und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams angehören würden. Ihre Muttersprache sei Dari. In diesem Zusammenhang wurde von der Erstbeschwerdeführerin angegeben, dass sie weiters auch noch über Kenntnisse der deutschen Sprache verfügen würde. Vom Zweitbeschwerdeführer wurde ergänzend angegeben, dass er neben Dari auch noch Englisch und Deutsch beherrsche. In allen den von ihnen genannten Sprachen, würden sie lesen und schreiben können. Befragt zu ihrer Schul- und Berufsausbildung gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie elfeinhalb Jahre in XXXX die Schule besucht habe. Einen Beruf konnte sie jedoch aufgrund der Situation für Frauen in Afghanistan nicht erlernen bzw. ausüben. Vom Zweitbeschwerdeführer wurde in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass er in XXXX zwölf Jahre die Schule besucht habe und dann sechs Semester Zahnmedizin studiert habe. Weiters habe er noch Englisch- und Journalistenkurse besucht. Darüber hinaus habe er eine Immobilienkanzlei gehabt. Befragt zu ihrem Herkunftsort, gaben die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer übereinstimmend an, dass sie in der Stadt XXXX geboren worden seien und nach ihrer Heirat im Jahr 2014 dort auch gemeinsam bis zu ihrer Ausreise gelebt hätten. Zu ihren Familienmitgliedern befragt, gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie zu diesen keinen Kontakt mehr haben würde, seit sie in Österreich lebe. Als sie Afghanistan verlassen habe, hätten sich ihr Vater und ihre fünf Schwestern in XXXX aufgehalten. Ihre Mutter sei bereits verstorben. Der Zweitbeschwerdeführer gab in diesem Zusammenhang an, dass er ebenfalls keinen Kontakt mehr zu seinen Familienangehörigen in Afghanistan haben würde, seit er in Österreich lebe. Als er Afghanistan verlassen habe, hätten in XXXX seine Mutter und zwei von seinen Brüdern gelebt. Sein dritter Bruder und auch eine seiner Schwestern würden mit ihren jeweiligen Familien ebenfalls in Österreich leben. Seine zweite Schwester lebe in XXXX . Darüber hinaus würden sich in Österreich noch zwei Cousins mütterlicherseits von ihm aufhalten. Sein Vater sei bereits verstorben.

Zu ihrer Situation in Österreich befragt, gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie nach ihrer Ankunft begonnen habe einen Deutschkurs zu besuchen. Dann sei sie schwanger geworden und sie habe den Deutschkurs nicht mehr weiter besuchen können. Sie würde aber über das Internet und mit Unterstützung ihres Ehemannes weiter Deutsch lernen. In ihrer Freizeit treffe sie sich regelmäßig mit ihren österreichischen Freundinnen. Mit diesen unterhalte sie sich u.a. über die österreichische Kultur und über die hier gelebten Werte. So sei es für sie sehr wichtig, dass die Frauen hier alle Rechte und Freiheiten haben würden. Sie würden lernen, arbeiten und sich so kleiden dürfen, wie sie es wollen würden. Sie selbst nehme diese Rechte auch für sich in Anspruch und gehe z.B. alleine einkaufen oder zum Arzt. Auch gehe sie gerne spazieren oder Rad fahren. Letztes Jahr sei sie zudem gemeinsam mit ihrem Ehemann schwimmen gewesen und habe vor, dies auch in diesem Jahr wieder zu tun. Befragt gab die Erstbeschwerdeführerin dazu an, dass sie dabei einen Badeanzug, wie auch alle anderen Frauen in diesem Schwimmbad, getragen habe. Zudem könne sie in Österreich anziehen was sie wolle. So trage sie, wenn sie außer Haus gehe - je nach Jahreszeit - T-Shirts bzw. eine Jacke und großteils Jeans. Auch habe sie schon bald nach ihrer Ankunft in Österreich darauf verzichtet ein Kopftuch zu tragen. Als sie noch in Afghanistan gewesen sei, habe sie all diese Freiheiten nicht gehabt. Zu ihrer Zukunft in Österreich gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie den Hauptschulabschluss nachholen wolle und anschließend den Lehrberuf der Friseurin ergreifen wolle. Sie habe sich diesbezüglich auch schon informiert. Ihr Ziel sei es, in Österreich zu arbeiten. Darüber hinaus wolle sie den Führerschein machen. Befragt zur Erziehung ihrer Kinder gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass es ihr Wunsch sei, dass ihre Kinder hier in Österreich eine Schule besuchen, ein Studium absolvieren und danach einen Beruf ausüben. Ihre Tochter besuche gerade den Kindergarten. Wenn sie ihre Tochter in den Kindergarten bringe oder von dort abhole, würde sie sich regelmäßig bei der Kindergartenpädagogin erkundigen, wie es ihrer Tochter im Kindergarten gehe und welche Möglichkeiten es geben würde, sie zu unterstützen. So bringe sie ihrer Tochter zuhause das Schreiben bei und sie würden gemeinsam zeichnen und malen. Befragt zu ihrer Ehe gab die Erstbeschwerdeführerin an, dass sie sich gleichberechtigt neben ihrem Ehemann sehe. Sie werde von ihrem Ehemann bei der Erziehung der Kinder oder im Haushalt aktiv unterstützt. Auch könne sie, wie bereits angegeben, alleine außer Haus gehen und z.B. ihre Freundinnen besuchen oder einkaufen gehen. Ihr Ehemann würde sich nicht in ihre Angelegenheiten einmischen. Zudem verwalte sie auch das Familieneinkommen. Wichtige Entscheidungen bezüglich der Erziehung der Kinder oder in finanziellen Angelegenheiten treffe sie gemeinsam mit ihrem Ehemann.

Zu seiner Situation in Österreich befragt, gab der Zweitbeschwerdeführer zusammengefasst an, dass er in Österreich bereits mehrere Deutschkurse besucht und den Führerschein gemacht habe. Weiters habe er in Österreich bereits gemeinnützige Tätigkeiten für die Gemeinde verrichtet (Anmerkung: In diesem Zusammenhang wurden vom Zweitbeschwerdeführer integrationsbescheinigende Unterlagen in Vorlage gebracht.). Zudem unterstütze er seine Ehefrau im Haushalt und bei der Erziehung der Kinder. Weiters verfüge er bereits über einen großen österreichischen Freundeskreis.

In weiterer Folge wurden durch den verfahrensführenden Richter folgende Unterlagen in das Verfahren eingebracht:

? Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, in der Fassung vom 26.03.2019

? UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des Internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 30.08.2018

Nach Erörterung dieser Unterlagen, gaben die Beschwerdeführer und ihr bevollmächtigter Vertreter dazu an, dass auf eine Stellungnahme verzichtet werde.

2.3. Weiters wurde vom Bundesverwaltungsgericht eine Kopie der Niederschrift der mündlichen Verhandlung vom XXXX der belangten Behörde übermittelt. Eine Stellungnahme dazu wurde von dieser nicht erstattet.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen:

Das Bundesverwaltungsgericht geht aufgrund des durchgeführten Ermittlungsverfahrens von folgendem für die Entscheidung maßgeblichen Sachverhalt aus:

1.1. Zur Person der Beschwerdeführer:

Die Beschwerdeführer tragen die im Spruch genannten Namen und sind am XXXX (Erstbeschwerdeführerin), am XXXX (Zweitbeschwerdeführer), am XXXX (Drittbeschwerdeführerin) sowie am XXXX (Viertbeschwerdeführer) geboren. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer sind die Eltern der minderjährigen Drittbeschwerdeführerin und des minderjährigen Viertbeschwerdeführers. Die Erstbeschwerdeführerin und der Zweitbeschwerdeführer haben im Jahr XXXX in Afghanistan geheiratet.

Die Beschwerdeführer sind Staatsangehörige der Islamischen Republik Afghanistan, gehören der Volksgruppe der Tadschiken und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islams an. Die Erstbeschwerdeführerin, der Zweitbeschwerdeführer und die Drittbeschwerdeführerin sind in der Stadt XXXX geboren und haben bis zu ihrer Ausreise aus Afghanistan dort gelebt. Im Jahr XXXX haben sie gemeinsam Afghanistan verlassen und sind schlepperunterstützt nach Österreich gereist und stellten hier die verfahrensgegenständlichen Anträge auf internationalen Schutz. Zum Zeitpunkt der Ausreise aus Afghanistan haben sich in der Stadt XXXX noch der Vater und die fünf Schwestern der Erstbeschwerdeführerin sowie die Mutter und zwei Brüder des Zweitbeschwerdeführers aufgehalten. Der nunmehrige Aufenthalt dieser Familienangehörigen ist der Erstbeschwerdeführerin und dem Zweitbeschwerdeführer unbekannt, da zu ihnen kein Kontakt mehr besteht, seit sie in Österreich sind. In Österreich hält sich noch der dritte Bruder sowie eine Schwester des Zweitbeschwerdeführers auf. Die zweite Schwester des Zweitbeschwerdeführers lebt in XXXX . Darüber hinaus verfügt er über zwei Cousins mütterlicherseits in Österreich. Die Mutter der Erstbeschwerdeführerin und der Vater des Zweitbeschwerdeführers sind bereits verstorben. Der Viertbeschwerdeführer ist in Österreich geboren.

Die Muttersprache der Beschwerdeführer ist Dari. Die Erstbeschwerdeführerin hat in Afghanistan elfeinhalb Jahre die Schule besucht. Über eine Berufsausbildung verfügt sie nicht. Der Zweitbeschwerdeführer hat in Afghanistan zwölf Jahre die Schule besucht und anschließend sechs Semester Zahnmedizin studiert. Er hat darüber hinaus Englisch- und Journalistenkurse besucht und war als Immobilienmakler tätig.

Die Beschwerdeführer sind strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zur Situation der Erstbeschwerdeführerin im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan:

Bei der Erstbeschwerdeführerin handelt es sich um eine selbstständige Frau, die in ihrer Wertehaltung und ihrer Lebensweise an dem in Europa mehrheitlich gelebten Frauen- und Gesellschaftsbild orientiert ist. Sie lebt in Österreich nicht nach der konservativ-afghanischen Tradition und lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab. Sie kleidet sich nach westlicher Mode und schminkt sich. Auf das Tragen des Kopftuches wird verzichtet. Die Erstbeschwerdeführerin hat bis zu ihrer Schwangerschaft in Österreich einen Deutschkurs besucht und ist bestrebt ihre bereits vorhandenen Kenntnisse der deutschen Sprache weiter zu verbessern. Sie beabsichtigt ihren Pflichtschulabschluss nachzuholen und anschließend eine Ausbildung zur Friseurin zu absolvieren, um in Österreich berufliche und wirtschaftliche Selbstständigkeit zu erlangen. Sie bewältigt ihren Alltag in Österreich selbstständig und sieht sich als gleichberechtigt neben ihrem Ehemann an. So werden wichtige Entscheidungen in finanzieller Hinsicht bzw. im Zusammenhang mit der Erziehung der Kinder gemeinsam getroffen. Das Familieneinkommen wird von der Erstbeschwerdeführerin verwaltet. Die Erstbeschwerdeführerin will ihre Kinder frei von Zwängen erziehen und ist sehr darum bemüht, dass ihre Kinder in Österreich eine gute Schul- und Berufsausbildung erhalten, damit sie ein selbstbestimmtes Leben nach ihren eigenen Vorstellungen führen können. In dieser Hinsicht werden ihre Kinder aktiv von ihr unterstützt. So hat die Erstbeschwerdeführerin das Gespräch mit der Kindergartenpädagogin der Drittbeschwerdeführerin gesucht und sich erkundigt, wie sie diese auch zuhause unterstützen kann. Weiters geht die Erstbeschwerdeführerin alleine einkaufen bzw. absolviert falls erforderlich Arztbesuche selbstständig. In ihrer Freizeit trifft sie sich regelmäßig mit ihren österreichischen Freundinnen bzw. geht spazieren oder Rad fahren. Im vergangenen Jahr war sie gemeinsam mit ihrem Ehemann auch schwimmen und hat vor, dies im heurigen Jahr wieder zu tun. Die von ihr angenommene Lebensweise ist zu einem wesentlichen Bestandteil ihrer Identität geworden. Die Erstbeschwerdeführerin lehnt die Umstände und Lebensverhältnisse für Frauen in Afghanistan ab und kann sich nicht vorstellen, nach der konservativ-afghanischen Tradition zu leben. Die persönliche Haltung der Erstbeschwerdeführerin über die grundsätzliche Stellung der Frau in Familie und Gesellschaft steht im eindeutigen Widerspruch zu den in Afghanistan bislang vorherrschenden gesellschaftlich-religiösen Zwängen, denen Frauen dort mehrheitlich unterworfen sind. Sie würde im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan von dem dortigen konservativen Umfeld als eine am westlichen Frauen- und Gesellschaftsbild orientierte Frau angesehen werden.

Der Erstbeschwerdeführerin droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan aufgrund ihrer Wertehaltung eine Verfolgung aus religiösen und/oder politischen Gründen. Vom afghanischen Staat kann sie keinen effektiven Schutz erwarten.

Es besteht keine innerstaatliche Fluchtalternative.

1.3. Zur Lage im Herkunftsstaat der Beschwerdeführer:

Aufgrund der in der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht am XXXX in das Verfahren eingeführten aktuellen Erkenntnisquellen zur Lage in Afghanistan werden folgende entscheidungsrelevante Feststellungen zum Herkunftsstaat der Beschwerdeführer getroffen:

1.3.1. Auszug aus dem Länderinformationsblatt der Staatendokumentation vom 29.06.2018, in der Fassung vom 26.03.2019:

Politische Lage (Verfassung):

Nach dem Sturz des Taliban-Regimes im Jahr 2001 wurde eine neue Verfassung ausgearbeitet und im Jahr 2004 angenommen (BFA Staatendokumentation 7.2016; vgl. Casolino 2011). Sie basiert auf der Verfassung aus dem Jahr 1964. Bei der Ratifizierung sah diese Verfassung vor, dass kein Gesetz gegen die Grundsätze und Bestimmungen des Islam verstoßen darf und alle Bürger Afghanistans, Mann wie Frau, gleiche Rechte und Pflichten vor dem Gesetz haben (BFA Staatendokumentation 3.2014; vgl. Casolino 2011, MPI 27.1.2004).

Sicherheitslage (Allgemein):

Die Sicherheitslage in Afghanistan bleibt volatil. Die Vereinten Nationen (UN) registrierten im Berichtszeitraum 16.8.2018 - 15.11.2018 5.854 sicherheitsrelevante Vorfälle, was einen Rückgang von 2% gegenüber dem Vergleichszeitraum des Vorjahres bedeutet. Bewaffnete Zusammenstöße gingen um 5% zurück, machten aber weiterhin den Großteil der sicherheitsrelevanten Vorfälle (63%) aus. Selbstmordanschläge gingen um 37% zurück, was möglicherweise an erfolgreichen Bekämpfungsmaßnahmen in Kabul-Stadt und Jalalabad liegt. Luftangriffe durch die afghanische Luftwaffe (AAF) sowie internationale Streitkräfte stiegen um 25%. Die am stärksten betroffenen Regionen waren der Süden, der Osten und der Süd-Osten. In der Provinz Kandahar entstand die Befürchtung, die Sicherheitsbedingungen könnten sich verschlechtern, nachdem der Polizeichef der Provinz und der Leiter des National Directorate for Security (NDS) im Oktober 2018 ermordet worden waren (UNGASC 7.12.2018). Gemäß dem Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR) fanden bis Oktober 2018 die meisten Angriffe regierungsfeindlicher Gruppierungen in den Provinzen Badghis, Farah, Faryab, Ghazni, Helmand, Kandahar, Uruzgan und Herat statt. Von Oktober bis Dezember 2018 verzeichneten Farah, Helmand und Faryab die höchste Anzahl regierungsfeindlicher Angriffe (SIGAR 30.1.2019).

Nach dem Taliban-Angriff auf Ghazni-Stadt im August 2018, bestand weiterhin die Befürchtung, dass die Taliban großangelegte Angriffe im Südosten des Landes verüben könnten. Dies war zwar nicht der Fall, dennoch setzten Talibankämpfer die afghanischen Sicherheitskräfte am Stadtrand von Ghazni, in Distrikten entlang des Highway One nach Kabul und durch die Einnahme des Distrikts Andar in Ghazni im Oktober weiterhin unter Druck. Im Westen der Provinz Ghazni, wo die ethnische Gruppierung der Hazara eine Mehrheit bildet, verschlechterten sich die Sicherheitsbedingungen wegen großangelegter Angriffe der Taliban, was im November zur Vertreibung zahlreicher Personen führte. In Folge eines weiteren Angriffs der Taliban im Distrikt Khas Uruzgan der Provinz Uruzgan im selben Monat wurden ebenfalls zahlreiche Hazara-Familien vertrieben. Des Weiteren nahmen Talibankämpfer in verschiedenen Regionen vorübergehend strategische Positionen entlang der Hauptstraßen ein und behinderten somit die Bewegungsfreiheit zwischen den betroffenen Provinzen. Beispiele dafür sind Angriffe entlang Hauptstraßen nach Kabul in den Distrikten Daymirdad und Sayyidabad in Wardak, der Route Mazar - Shirbingham und Maimana - Andkhoy in den nördlichen Provinzen Faryab, Jawzjan und Balkh und der Route Herat - Qala-e-Naw im westlichen Herat und Badghis (UNGASC 7.12.2018). Trotz verschiedener Kampfhandlungen und Bedrohungen blieben mit Stand Dezember 2018 gemäß SIGAR die Provinzzentren aller afghanischen Provinzen unter Kontrolle bzw. Einfluss der afghanischen Regierung (SIGAR 30.1.2019).

Im Laufe des Wahlregistrierungsprozesses und während der Wahl am 20. und am 21. Oktober wurden zahlreiche sicherheitsrelevante Vorfälle registriert, welche durch die Taliban und den Islamischen Staat - Provinz Khorasan (ISKP) beansprucht wurden (UNGASC 7.12.2018; vgl. UNAMA 10.10.2018, UNAMA 11.2018). Während der Wahl in der Provinz Kandahar, die wegen Sicherheitsbedenken auf den 27. Oktober verschoben worden war, wurden keine sicherheitsrelevanten Vorfälle registriert. Die afghanischen Sicherheitskräfte entdeckten und entschärften einige IED [Improvised Explosive Devices - Improvisierte Spreng- oder Brandvorrichtung/Sprengfallen] in Kandahar-Stadt und den naheliegenden Distrikten (UNAMA 11.2018). Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) hatte zwischen 1.1.2018 und 30.9.2018 im Zusammenhang mit den Parlamentswahlen insgesamt 366 zivile Opfer (126 Tote und 240 Verletzte) registriert (UNAMA 10.10.2018). Am offiziellen Wahltag, dem 20. Oktober, wurden 388 zivile Opfer (52 Tote und 336 Verletzte) registriert, darunter 117 Kinder (21 Tote und 96 Verletzte) und 48 Frauen (2 Tote und 46 Verletzte). Am folgenden Wahltag, dem 21. Oktober, wurden 47 weitere zivile Opfer (4 Tote und 43 Verletzte) verzeichnet, inklusive 17 Kinder (2 Tote und 15 Verletzte) und Frauen (3 Verletzte). Diese Zahlen beinhalten auch Opfer innerhalb der Afghan National Police (ANP) und der Independet Electoral Commission (IEC) (UNAMA 11.2018). Die am 20. Oktober am meisten von sicherheitsrelevanten Vorfällen betroffenen Städte waren Kunduz und Kabul. Auch wenn die Taliban in den von ihnen kontrollierten oder beeinflussten Regionen die Wählerschaft daran hinderten, am Wahlprozess teilzunehmen, konnten sie die Wahl in städtischen Gebieten dennoch nicht wesentlich beeinträchtigen (trotz der hohen Anzahl von Sicherheitsvorfällen) (UNGASC 7.12.2018).

Die Regierung kontrolliert bzw. beeinflusst - laut Angaben der Resolute Support (RS) Mission - mit Stand 22.10.2018 53,8% der Distrikte, was einen leichten Rückgang gegenüber dem Vergleichszeitraum 2017 bedeutet. 33,9% der Distrikte sind umkämpft und 12,3% befinden sich unter Einfluss oder Kontrolle von Aufständischen. Ca. 63,5% der Bevölkerung leben in Gebieten, die sich unter Regierungskontrolle oder -einfluss befinden; 10,8% in Gegenden unter Einfluss bzw. Kontrolle der Aufständischen und 25,6% leben in umkämpften Gebieten. Die Provinzen mit der höchsten Anzahl an Distrikten unter Kontrolle bzw. Einfluss von Aufständischen sind Kunduz, Uruzgan und Helmand (SIGAR 30.1.2019).

Der ISKP ist weiterhin im Osten des Landes präsent und bekennt sich zu Selbstmordanschlägen und komplexen Angriffen in Nangarhar und zu sechs Angriffen in Kabul-Stadt. Des Weiteren finden in den Provinzen Nangarhar und Kunar weiterhin Kämpfe zwischen ISKP- und Talibankämpfern statt. Die internationalen Streitkräfte führten Luftangriffe gegen den ISKP in den Distrikten Deh Bala, Achin, Khogyani, Nazyan und Chaparhar der Provinz Nangarhar aus (UNGASC 7.12.2018).

Die United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) registrierte im Berichtszeitraum (1.1.2018 - 31.12.2018) 10.993 zivile Opfer (3.804 Tote und 7.189 Verletzte), eine allgemeine Steigerung von 5% sowie eine Steigerung der Zahl der Toten um 11% gegenüber dem Vorjahreswert. 42% der zivilen Opfer (4.627 Opfer;

1.361 Tote und 3.266 Verletzte) wurden durch IED im Zuge von Anschlägen und Selbstmordanschlägen regierungsfeindlicher Gruppierungen (hauptsächlich ISKP) verursacht. Die Anzahl der Selbstmordanschläge unter Einsatz von IED stieg dabei um 22% und erreichte somit einen Rekordwert. Diese Art von Anschlägen verursachte 26% aller zivilen Opfer, während IED, die bei Nichtselbstmordanschlägen verwendet wurden, 16% der zivilen Opfer forderten. Kabul war mit insgesamt 1.866 Opfern (596 Tote und 1.270 Verletzte) die Provinz mit der höchsten Anzahl an Selbstmordanschlägen durch IED, während die Zahl der Opfer in Nangarhar mit insgesamt 1.815 (681 Tote und 1.134 Verletzte) zum ersten Mal fast die Werte von Kabul erreichte (hauptsächlich wegen des Einsatzes von IED bei Nichtselbstmordanschlägen). Kabul-Stadt verzeichnete insgesamt 1.686 zivile Opfer (554 Tote und 1.132 Verletzte) wegen komplexen und Selbstmordangriffen (UNAMA 24.2.2019).

Zusammenstöße am Boden (hauptsächlich zwischen regierungsfreundlichen und regierungsfeindlichen Gruppierungen) verursachten 31% der zivilen Opfer (insgesamt 3.382; davon 814 Tote und 2.568 Verletzte), was einen Rückgang um 3% im Vergleich mit dem Vorjahreswert bedeutet. Grund dafür war der Versuch regierungsfreundlicher Gruppierungen, die zivile Bevölkerung zu schonen. Die Verlagerung der Kämpfe in dünn besiedelte Gebiete, die Vorwarnung der lokalen Zivilbevölkerung bei Kampfhandlungen und die Implementierung von Strategien zum Schutz der Bevölkerung waren einige der bestimmenden Faktoren für den Rückgang bei zivilen Opfern. Jedoch ist die Opferzahl bei gezielt gegen die Zivilbevölkerung gerichteten komplexen Angriffen und Selbstmordanschlägen regierungsfeindlicher Gruppierungen gestiegen (plus 48% gegenüber 2017; 4.125 Opfer insgesamt, davon 1.404 Tote und 2.721 Verletzte). Sowohl der ISKP als auch die Taliban griffen gezielt Zivilisten an: Der ISKP war für 1.871 zivile Opfer verantwortlich, darunter waren u.a. Mitglieder der schiitischen Gemeinschaft, und die Taliban für 1.751. Obwohl die Gesamtzahl der zivilen Opfer durch gezielte Tötungen von Einzelpersonen (hauptsächlich durch Erschießung) zurückging, blieben Zivilisten inklusive religiöser Führer und Stammesältester weiterhin Ziele regierungsfeindlicher Gruppierungen. Die Gesamtzahl der durch Luftangriffe verursachten zivilen Opfer stieg im Vergleich mit dem Vorjahreswert um 61% und die Zahl der Todesopfer erreichte 82%. 9% aller zivilen Opfer wurden Luftangriffen (mehrheitlich der internationalen Luftwaffe) zugeschrieben, der höchste Wert seit 2009 (UNAMA 24.2.2019).

Regierungsfeindliche Gruppierungen waren im UNAMA-Berichtszeitraum (1.1.2018 - 31.12.2018) für 6.980 zivile Opfer (2.243 Tote und 4.737 Verletzte) verantwortlich. Das entspricht 63% der gesamten zivilen Opfer. 37% davon werden den Taliban, 20% dem ISKP und 6% unbestimmten regierungsfeindlichen Gruppierungen zugeschrieben. Im Laufe des Jahres 2018 wurden vermehrt Anschläge gegen Bildungseinrichtungen verzeichnet, meist durch Talibankämpfer, da in Schulen Registrierungs- und Wahlzentren untergebracht waren. Der ISKP attackierte und bedrohte Bildungseinrichtungen als Reaktion auf militärische Operationen afghanischer und internationaler Streitkräfte. UNAMA berichtet auch über anhaltende Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen, welche Auswirkungen auf einen Großteil der zivilen Bevölkerung haben. Trotzdem die Taliban nach eigenen Angaben Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung ergriffen haben, attackierten diese weiterhin Zivilisten, zivile Einrichtungen und regierungsfreundliche Gruppierungen in Zivilgebieten (UNAMA 24.2.2019).

Ungefähr 24% der zivilen Opfer (2.612, davon 1.185 Tote und 1.427 Verletzte), werden regierungsfreundlichen Gruppierungen zugeschrieben: 14% den afghanischen Sicherheitskräften, 6% den internationalen Streitkräften und 4% unbestimmten regierungsfreundlichen Gruppierungen. Die Steigerung um 4% gegenüber dem Vorjahr geht auf Luftangriffe der internationalen Streitkräfte und Fahndungsaktionen der afghanischen Sicherheitskräfte und regierungsfreundlicher Gruppierungen zurück (UNAMA 24.2.2019).

Die verbleibenden 13% der verzeichneten zivilen Opfer wurden im Kreuzfeuer während Zusammenstößen am Boden (10%), durch Beschuss aus Pakistan (1%) und durch die Explosion von Blindgängern verursacht (UNAMA 24.2.2019).

Regierungsfeindliche Gruppierungen:

Terroristische und aufständische Gruppierungen stellen Afghanistan und die Koalitionskräfte vor erhebliche Herausforderungen. Derzeit sind rund 20 terroristische Organisationen in Afghanistan zu finden:

das von außen unterstützte Haqqani-Netzwerk stellt nach wie vor die größte Gefährdung für afghanische und internationale Kräfte dar. Die Verflechtung von Taliban und Haqqani-Netzwerk ist so intensiv, dass diese beiden Gruppierungen als Fraktionen ein und derselben Gruppe angesehen werden. Wenn auch die Taliban öffentlich verkündet haben, sie würden zivile Opfer einschränken, so führt das Haqqani-Netzwerk auch weiterhin Angriffe in bevölkerungsreichen Gegenden aus (USDOD 12.2017).

Im August 2017 wurde berichtet, dass regierungsfeindliche bewaffnete Gruppierungen - insbesondere die Taliban - ihre Aktivitäten landesweit verstärkt haben, trotz des Drucks der afghanischen Sicherheitskräfte und der internationalen Gemeinschaft, ihren Aktivitäten ein Ende zu setzen (Khaama Press 13.8.2017). Auch sind die Kämpfe mit den Taliban eskaliert, da sich der Aufstand vom Süden in den sonst friedlichen Norden des Landes verlagert hat, wo die Taliban auch Jugendliche rekrutieren (Xinhua 18.3.2018). Ab dem Jahr 2008 expandierten die Taliban im Norden des Landes. Diese neue Phase ihrer Kampfgeschichte war die Folge des Regierungsaufbaus und Konsolidierungsprozess in den südlichen Regionen des Landes. Darüber hinaus haben die Taliban hauptsächlich in Faryab und Sar-i-Pul, wo die Mehrheit der Bevölkerung usbekischer Abstammung ist, ihre Reihen für nicht-paschtunische Kämpfer geöffnet (AAN 17.3.2017).

Teil der neuen Strategie der Regierung und der internationalen Kräfte im Kampf gegen die Taliban ist es, die Luftangriffe der afghanischen und internationalen Kräfte in jenen Gegenden zu verstärken, die am stärksten von Vorfällen betroffen sind. Dazu gehören u.a. die östlichen und südlichen Regionen, in denen ein Großteil der Vorfälle registriert wurde. Eine weitere Strategie der Behörden, um gegen Taliban und das Haqqani-Netzwerk vorzugehen, ist die Reduzierung des Einkommens selbiger, indem mit Luftangriffen gegen ihre Opium-Produktion vorgegangen wird (SIGAR 1.2018).

Außerdem haben Militäroperationen der pakistanischen Regierung einige Zufluchtsorte Aufständischer zerstört. Jedoch genießen bestimmte Gruppierungen, wie die Taliban und das Haqqani-Netzwerk Bewegungsfreiheit in Pakistan (USDOD 12.2017). Die Gründe dafür sind verschiedene: das Fehlen einer Regierung, das permissive Verhalten der pakistanischen Sicherheitsbehörden, die gemeinsamen kommunalen Bindungen über die Grenze und die zahlreichen illegalen Netzwerke, die den Aufständischen Schutz bieten (AAN 17.10.2017).

Rechtsschutz/Justizwesen:

Gemäß Artikel 116 der Verfassung ist die Justiz ein unabhängiges Organ der Islamischen Republik Afghanistan. Die Judikative besteht aus dem Obersten Gerichtshof (Stera Mahkama, Anm.), den Berufungsgerichten und den Hauptgerichten, deren Gewalten gesetzlich geregelt sind. (Casolino 2011). Die wichtigste religiöse Institution des Landes ist der Ulema-Rat (Afghan Ulama Council - AUC, Shura-e ulama-e afghanistan, Anm.), eine nationale Versammlung von Religionsgelehrten, die u.a. den Präsidenten in islamrechtlichen Angelegenheiten berät und Einfluss auf die Rechtsformulierung und die Auslegung des existierenden Rechts hat (USDOS 15.8.2017; vgl. AB 7.6.2017, AP o.D.).

Das afghanische Justizwesen beruht sowohl auf dem islamischen [Anm.:

Scharia] als auch auf dem nationalen Recht; letzteres wurzelt in den deutschen und ägyptischen Systemen (NYT 26.12.2015; vgl. AP o.D.).

Die rechtliche Praxis in Afghanistan ist komplex: Einerseits sieht die Verfassung das Gesetzlichkeitsprinzip und die Wahrung der völkerrechtlichen Abkommen, einschließlich Menschenrechtsverträge, vor, andererseits formuliert sie einen unwiderruflichen Scharia-Vorbehalt. Ein Beispiel dieser Komplexität ist das neue Strafgesetzbuch, das am 15.2.2018 in Kraft getreten ist (AP o.D.; vgl. vertrauliche Quelle 10.4.2018). Die Organe der afghanischen Rechtsprechung sind durch die Verfassung dazu ermächtigt, sowohl das formelle als auch das islamische Recht anzuwenden (AP o.D.).

Das Recht auf ein faires und öffentliches Verfahren ist in der Verfassung verankert, wird aber in der Praxis selten umgesetzt. Die Umsetzung der rechtlichen Bestimmungen ist innerhalb des Landes uneinheitlich. Dem Gesetz nach gilt für alle Bürger/innen die Unschuldsvermutung und Angeklagte haben das Recht, beim Prozess anwesend zu sein und Rechtsmittel einzulegen; jedoch werden diese Rechte nicht immer respektiert. Bürger/innen sind bzgl. ihrer Verfassungsrechte oft im Unklaren und es ist selten, dass Staatsanwälte die Beschuldigten über die gegen sie erhobenen Anklagen genau informieren. Die Beschuldigten sind dazu berechtigt, sich von einem Pflichtverteidiger vertreten und beraten zu lassen; jedoch wird dieses Recht aufgrund eines Mangels an Strafverteidigern uneinheitlich umgesetzt (USDOS 20.4.2018). In Afghanistan existieren keine Strafverteidiger nach dem westlichen Modell; traditionell dienten diese nur als Mittelsmänner zwischen der anklagenden Behörde, dem Angeklagten und dem Gericht. Seit 2008 ändert sich diese Tendenz und es existieren Strafverteidiger, die innerhalb des Justizministeriums und auch außerhalb tätig sind (NYT 26.12.2015). Der Zugriff der Anwälte auf Verfahrensdokumente ist oft beschränkt (USDOS 3.3.2017) und ihre Stellungnahmen werden während der Verfahren kaum beachtet (NYT 26.12.2015). Berichten zufolge zeigt sich die Richterschaft jedoch langsam respektvoller und toleranter gegenüber Strafverteidigern (USDOS 20.4.2018).

Gemäß einem Bericht der New York Times über die Entwicklung des afghanischen Justizwesens wurden im Land zahlreiche Fortbildungskurse für Rechtsgelehrte durch verschiedene westliche Institutionen durchgeführt. Die Fortbildenden wurden in einigen Fällen mit bedeutenden Aspekten der afghanischen Kultur (z. B. Respekt vor älteren Menschen), welche manchmal mit der westlichen Orientierung der Fortbildenden kollidierten, konfrontiert. Auch haben Strafverteidiger und Richter verschiedene Ausbildungshintergründe: Während Strafverteidiger rechts- und politikwissenschaftliche Fakultäten besuchen, studiert der Großteil der Richter Theologie und islamisches Recht (NYT 26.12.2015).

Obwohl das islamische Gesetz in Afghanistan üblicherweise akzeptiert wird, stehen traditionelle Praktiken nicht immer mit diesem in Einklang; oft werden die Bestimmungen des islamischen Rechts zugunsten des Gewohnheitsrechts missachtet, welches den Konsens innerhalb der Gemeinschaft aufrechterhalten soll (USIP 3.2015; vgl. USIP o.D.). Unter den religiösen Führern in Afghanistan bestehen weiterhin tiefgreifende Auffassungsunterschiede darüber, wie das islamische Recht tatsächlich zu einer Reihe von rechtlichen Angelegenheiten steht. Dazu zählen unter anderem das Frauenrecht, Strafrecht und -verfahren, die Verbindlichkeit von Rechten gemäß internationalem Recht und der gesamte Bereich der Grundrechte (USIP o. D.).

Laut dem allgemeinen Islamvorbehalt in der Verfassung darf kein Gesetz im Widerspruch zum Islam stehen. Trotz großer legislativer Fortschritte in den vergangenen 14 Jahren gibt es keine einheitliche und korrekte Anwendung der verschiedenen Rechtsquellen (kodifiziertes Recht, Scharia, Gewohnheits-/Stammesrecht) (AA 9.2016; vgl. USIP o.D., NYT 26.12.2015, WP 31.5.2015, AA 5.2018). Eine Hierarchie der Normen ist nicht gegeben, so ist nicht festgelegt, welches Gesetz im Fall eines Konflikts zwischen dem traditionellen islamischen Recht und seinen verschiedenen Ausprägungen einerseits und der Verfassung und dem internationalen Recht andererseits zur Anwendung kommt. Diese Unklarheit und eine fehlende Autoritätsinstanz zur einheitlichen Interpretation der Verfassung führen nicht nur zur willkürlichen Anwendung eines Rechts, sondern auch immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen (AA 5.2018).

Das kodifizierte Recht wird unterschiedlich eingehalten, wobei Gerichte gesetzliche Vorschriften oft zugunsten der Scharia oder lokaler Gepflogenheiten missachteten. Bei Angelegenheiten, wo keine klar definierte Rechtssetzung angewendet werden kann, setzen Richter und lokale Schuras das Gewohnheitsrecht (welches auch nicht einheitlich ist, Anm.) durch (USDOS 20.4.2018).

Gemäß dem "Survey of the Afghan People" der Asia Foundation (AF) nutzten in den Jahren 2016 und 2017 ca. 20.4% der befragten Afghan/innen nationale und lokale Rechtsinstitutionen als Schlichtungsmechanismen. 43.2% benutzten Schuras und Jirgas, währed 21.4% sich an die Huquq-Abteilung [Anm.: "Rechte"-Abteilung] des Justizministeriums wandten. Im Vergleich zur städtischen Bevölkerung bevorzugten Bewohner ruraler Zentren lokale Rechtsschlichtungsmechanismen wie Schuras und Jirgas (AF 11.2017; vgl. USIP o.D., USDOS 20.4.2018). Die mangelnde Präsenz eines formellen Rechtssystems in ruralen Gebieten führt zur Nutzung lokaler Schlichtungsmechanismen. Das formale Justizsystem ist in den städtischen Zentren relativ stark verankert, da die Zentralregierung dort am stärksten ist, während es in den ländlichen Gebieten - wo ungefähr 76% der Bevölkerung leben - schwächer ausgeprägt ist (USDOS 3.3.2017; vgl. USDOS 20.4.2018). In einigen Gebieten außerhalb der Regierungskontrolle setzen die Taliban ein paralleles auf der Scharia basierendes Rechtssystem um (USDOS 20.4.2018).

Die Unabhängigkeit des Justizwesens ist gesetzlich festgelegt; jedoch wird die afghanische Judikative durch Unterfinanzierung, Unterbesetzung, inadäquate Ausbildung, Unwirksamkeit und Korruption unterminiert (USDOS 20.4.2018). Rechtsstaatliche (Verfahrens-)Prinzipien werden nicht konsequent angewandt (AA 9.2016). Dem Justizsystem mangelt es weiterhin an der Fähigkeit die hohe Anzahl an neuen und novellierten Gesetzen einzugliedern und durchzuführen. Der Zugang zu Gesetzestexten wird zwar besser, ihre geringe Verfügbarkeit stellt aber für einige Richter/innen und Staatsanwälte immer noch eine Behinderung dar. Die Zahl der Richter/innen, welche ein Rechtsstudium absolviert haben, erhöht sich weiterhin (USDOS 3.3.2017). Im Jahr 2017 wurde die Zahl der Richter/innen landesweit auf 1.000 geschätzt (CRS 13.12.2017), davon waren rund 260 Richterinnen (CRS 13.12.2017; vgl. AT 29.3.2017). Hauptsächlich in unsicheren Gebieten herrscht ein verbreiteter Mangel an Richtern und Richterinnen. Nachdem das Justizministerium neue Richterinnen ohne angemessene Sicherheitsmaßnahmen in unsichere Provinzen versetzen wollte und diese protestierten, beschloss die Behörde, die Richterinnen in sicherere Provinzen zu schicken (USDOS 20.4.2018). Im Jahr 2015 wurde von Präsident Ghani eine führende Anwältin, Anisa Rasooli, als erste Frau zur Richterin des Obersten Gerichtshofs ernannt, jedoch wurde ihr Amtsantritt durch das Unterhaus [Anm.: "wolesi jirga"] verhindert (AB 12.11.2017; vgl. AT 29.3.2017). Auch existiert in Afghanistan die "Afghan Women Judges Association", ein von Richterinnen geführter Verband, wodurch die Rechte der Bevölkerung, hauptsächlich der Frauen, vertreten werden sollen (TSC o.D.).

Korruption stellt weiterhin ein Problem innerhalb des Gerichtswesens dar (USDOS 20.4.2017; vgl. FH 11.4.2018); Richter/innen und Anwält/innen sind oftmals Ziel von Bedrohung oder Bestechung durch lokale Anführer oder bewaffnete Gruppen (FH 11.4.2018), um Entlassungen oder Reduzierungen von Haftstrafen zu erwirken (USDOS 20.4.2017). Wegen der Langsamkeit, der Korruption, der Ineffizienz und der politischen Prägung des afghanischen Justizwesens hat die Bevölkerung wenig Vertrauen in die Judikative (BTI 2018). Im Juni 2016 errichtete Präsident Ghani das "Anti-Corruption Justice Center" (ACJC), um innerhalb des Rechtssystems gegen korrupte Minister/innen, Richter/innen und Gouverneure/innen vorzugehen, die meist vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt waren (AB 17.11.2017; vgl. Reuters 12.11.2016). Der afghanische Generalprokurator Farid Hamidi engagiert sich landesweit für den Aufbau des gesellschaftlichen Vertrauens in das öffentliche Justizwesen (BTI 2018). Seit 1.1.2018 ist Afghanistan für drei Jahre Mitglied des Human Rights Council (HRC) der Vereinten Nationen. Mit Unterstützung der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) und des Office of the High Commissioner for Human Rights (OHCHR) arbeitet die afghanische Regierung an der Förderung von Rechtsstaatlichkeit, der Rechte von Frauen, Kindern, Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen sowie Zuschreibung von Verantwortlichkeit (HRC 21.2.2018).

Haftbedingungen:

Das General Directorate of Prisons and Detention Centers (GDPDC), ein Teil des Innenministeriums (MoI), ist verantwortlich für alle zivil geführten Gefängnisse, sowohl für weibliche als auch männliche Häftlinge, inklusive des nationalen Gefängniskomplexes in Pul-e Charkhi. Das Juvenile Rehabilitation Directorate (JRD) des Justizministeriums ist verantwortlich für alle Jugendrehabilitationszentren. Das National Directorate of Security (NDS) unter den Afghan National Security Forces (ANDSF) ist für Kurzzeit-Haftanstalten auf Provinz- und Bezirksebene verantwortlich. Das Verteidigungsministerium (MoD) betreibt die afghanischen nationalen Haftanstalten in Parwan. Berichten zufolge verwalten Mitglieder der ANDSF private Gefängnisse, in denen Gefangene misshandelt werden (USDOS 20.4.2018). Die Haftbedingungen in Afghanistan entsprechen nicht den internationalen Standards. Es gibt Berichte über Misshandlungen in Gefängnissen. Vor allem Frauen und Kinder werden häufig Opfer von Misshandlungen (AA 5.2018).

Wegen der Überbelegung, den unhygienischen Verhältnissen und dem begrenzten Zugang zu medizinischer Versorgung sind die Haftbedingungen in afghanischen Gefängnissen schwierig. Es herrscht ein Mangel an separaten Einrichtungen für Untersuchungs- und Strafhäftlinge. Lokale Gefängnisse und Haftanstalten haben nicht immer getrennte Einrichtungen für weibliche Gefangene. Überbelegung ist weiterhin ein ernstes, verbreitetes Problem: Gemäß den empfohlenen Standards des Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) waren 28 von 34 Gefängnissen für Männer stark überbelegt. Mit Stand Juni 2017 befanden sich im Pul-e-Charkhi-Gefängnis, der größten Vollzugsanstalt des Landes, 11.527 Gefangene, darunter u.a. Kinder von inhaftierten Müttern, was doppelt so viel war wie vorgesehen (USDOS 20.4.2018). Schätzungen zufolge leben über 300 Kinder in afghanischen Gefängnissen, ohne selbst eine Straftat begangen zu haben. Ab einem Alter von fünf Jahren ist es möglich, die Kinder in ein Heim zu transferieren. Allerdings gibt es diese Heime nicht in jeder Provinz. Die wenigen existierenden Heime sind überfüllt. Zusätzlich müssen die Mütter einem Transfer der Kinder in ein Heim zustimmen (AA 5.2018).

Der Zugang zu Nahrung, Trinkwasser, sanitären Anlagen, Heizung, Lüftung, Beleuchtung und medizinischer Versorgung in den Gefängnissen ist landesweit unterschiedlich und im Allgemeinen unzureichend. Einigen Quellen zufolge ist die Versorgung mit Lebensmitteln und Trinkwasser in Gefängnissen des GDPCD hingegen ausreichend. Nichtsdestotrotz ist das Budget für das nationale Ernährungsprogramm von Häftlingen des GDPDC sehr limitiert. Daher müssen Familienangehörige oft für die notwendigen Nahrungsergänzungsmittel usw. aufkommen (USDOS 20.4.2018).

Im Oktober 2015 unterzeichneten das Gesundheitsministerium (MoPH) und das Innenministerium eine gemeinsame Absichtserklärung zur Erbringung von Gesundheitsdiensten in Gefängnissen und Haftanstalten landesweit. Das Dokument beschreibt die Zuständigkeiten beider Ministerien bzgl. der Gewährleistung von Zugang zu angemessenen, kostenlosen Gesundheitsdienstleistungen und regelmäßigen Untersuchungen durch qualifizierte medizinische Fachkräfte. Einem Bericht der United Nations Assistance Mission in Afghanistan (UNAMA) über medizinische Dienste in den afghanischen Gefängnissen zufolge bot ein Großteil der von UNAMA besuchten Strafvollzugsanstalten des NDS die Möglichkeit, grundlegende medizinische Untersuchungen und Behandlungen der Gefangenen durchzuführen, obwohl es kein Abkommen zwischen MoPH und NDS gab. Einige vom NDS betriebene Einrichtungen hatten gut ausgestattete Kliniken und andere konnten hingegen nur grundlegende medizinische Versorgungsdienste gewährleisten (UNAMA 3.2016).

Beobachter berichten über landesweit vorkommende willkürliche, längere Inhaftierungen. Dabei bleiben die Inhaftierten oft über die gegen sie erhobene Anklage im Unklaren. Garantien wie Rechtsberatung, die Nutzung von Haftbefehlen und die zeitliche Begrenzung des Gewahrsams ohne Anklageerhebung, sind zwar vom Gesetz vorgesehen, werden jedoch nicht immer eingehalten. Auch gewährt das Gesetz einem Angeklagten das Recht, gegen die Untersuchungshaft Einspruch zu erheben und ein Gerichtsverfahren zu beantragen. Nichtsdestotrotz stellt die lange Untersuchungshaft weiterhin ein Problem dar. Aufgrund fehlender Ressourcen, einer geringen Anzahl an Verteidigern, unerfahrenen Rechtsanwälten sowie Korruption profitierten viele Inhaftierte nicht von allen Bestimmungen der Strafprozessordnung. Viele Häftlinge werden trotz der rechtlichen Bestimmungen über die gesetzliche Frist hinaus festgehalten, selbst wenn es keine Anklage gibt (USDOS 20.4.2018).

Häftlinge sind gesetzlich dazu berechtigt, bis zu 20 Tage das Gefängnis zu verlassen, um Familienbesuche abzustatten; jedoch setzen zahlreiche Justizvollzugsanstalten diese Vorschriften nicht um. Des Weiteren ist die Zielgruppe des Gesetzes nicht klar definiert (USDOS 20.4.2018).

Einem Bericht über die Haftbedingungen in Afghanistan zwischen Jänner 2015 und Dezember 2016 zufolge berichteten 39% der Befragten, dass sie während der Verhaftung oder des Gewahrsams in verschiedenen Strafvollzugsanstalten des NDS oder der ANP gefoltert bzw. misshandelt geworden würden (HRC 21.2.2018). Trotz des rechtlich verankerten Folterverbots wird von Foltervorfällen durch die afghanischen Sicherheitskräfte und andere Akteure bis hin zur Entourage des ersten Vizepräsidenten, des Generals Abdul Rashid Dostum, berichtet (HRW 2018; vgl. USDOS 20.4.2018).

Willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen sind gesetzlich verboten; trotzdem werden beide Praktiken weiterhin betrieben. Diese stellen in den meisten Provinzen ein Problem dar. Beobachtern zufolge werden Personen gelegentlich von Polizei und Staatsanwälten auf Basis von Handlungen, die nach afghanischem Recht nicht strafbar sind, ohne Anklage inhaftiert. Teilweise auch deshalb, weil das Justizsystem nicht in der Lage ist, in angemessener Zeit einen Strafprozess abzuwickeln (USDOS 20.4.2018). Die UNAMA berichtete von Verhaftungen wegen Verstößen gegen die Moral, Vertragsbruch, Familiendisputen und zum Zwecke des Erhalts von Geständnissen. Beobachter berichten, dass oft Frauen für "moralische" Vergehen inhaftiert werden (USDOS 20.4.2018; vgl. BTI 2018). Die angekündigten Reformen u.a. zur Beendigung der unwissenschaftlichen und missbräuchlichen Jungfräulichkeitsuntersuchungen bei inhaftierten Frauen wurden nicht durchgeführt (HRW 2018; vgl. USDOS 20.4.2018). Oft werden Frauen wegen versuchter zina [Anm.: Ehebruch] angeklagt, um Verhaftungen wegen Verstöße gegen die Sitten, wie das Davonlaufen von Zuhause, die Ablehnung designierter Ehemänner, die Flucht vor häuslicher Gewalt usw. rechtlich zu legitimieren. Einige Frauen, die Missbräuche anzeigen, werden verhaftet und anstelle von verurteilten Familienmitgliedern eingesperrt in der Annahme, dass diese sich stellen würden, um die Freilassung der Frau zu bewirken. In einigen Fällen werden Frauen in Schutzhaft genommen, um sie vor Gewalt seitens ihrer Familienmitglieder zu beschützen. Wenn die Unterbringung in Frauenhäusern nicht möglich ist, werden von häuslicher Gewalt betroffene Frauen auch in Gefängnisse gebracht, um sie gegen weitere Missbräuche zu schützen. Auch arrangiert das Ministerium für Frauenangelegenheiten Ehen für Frauen, die nicht zu ihren Familien zurückkehren können (USDOS 20.4.2018).

Quelle: Bundesverwaltungsgericht BVwg, https://www.bvwg.gv.at
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