TE OGH 2019/5/28 10ObS42/19b

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Veröffentlicht am 28.05.2019
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Der Oberste Gerichtshof hat in Arbeits- und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ.-Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden sowie die Hofrätinnen Dr. Fichtenau und Dr. Grohmann (Senat gemäß § 11a Abs 3 Z 2 ASGG) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei J*****, vertreten durch MMag. Maria Größ, Rechtsanwältin in Wien, gegen die beklagte Partei Wiener Gebietskrankenkasse, 1100 Wien, Wienerbergstraße 15–19, vertreten durch Dr. Heinz Edelmann, Rechtsanwalt in Wien, wegen Kinderbetreuungsgeld, infolge Revisionrekurses der klagenden Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht in Arbeits- und Sozialrechtssachen vom 26. Februar 2019, GZ 7 Rs 71/18i-25, womit infolge Rekurses der klagenden Partei der Beschluss des Arbeits- und Sozialgerichts Wien vom 5. Juli 2018, GZ 32 Cgs 84/17b-21, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Beschlüsse der Vorinstanzen werden ersatzlos aufgehoben. Dem Erstgericht wird die Einleitung des Verfahrens unter Abstandnahme vom Zurückweisungsgrund aufgetragen.

Die Kosten des Rechtsmittelverfahrens sind weitere Verfahrenskosten.

Text

Begründung:

Die in Österreich wohnhafte Klägerin stellte am 2. 2. 2015 anlässlich der Geburt ihrer Tochter V***** am 22. 12. 2014 einen Antrag auf Gewährung von pauschalem Kinderbetreuungsgeld in der Variante 30+6.

Über diesen Antrag hat die beklagte Partei keinen Bescheid erlassen.

Mit der am 29. 3. 2017 (Postaufgabe) beim Landesgericht Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht eingebrachten Säumnisklage begehrt die Klägerin die Gewährung des Kinderbetreuungsgeldes in der von ihr beantragten Variante. Sie bringt zusammengefasst vor, der Vater des Kindes lebe in Italien und sei dort als Dienstnehmer vollzeitbeschäftigt, das Kind lebe mit ihr in Österreich. Sie selbst sei von 2004 bis Mitte 2015 durchgehend einer geringfügigen Beschäftigung in Österreich nachgegangen, weshalb von einer Beschäftigung iSd Art 1 lit a der VO (EG) 883/2004 in Österreich auszugehen sei. Für die Gewährung von Familienleistungen sei daher Österreich als Wohnsitzstaat des Kindes primär zuständig (Art 68 Abs 1 lit b sublit i VO [EG] 883/2004). Davon, dass ihr im Verwaltungsverfahren eine Verletzung der Mitwirkungspflicht zur Last zu legen sei, könne keine Rede sein. Sie habe sämtliche erforderlichen Unterlagen rechtzeitig der beklagten Partei zur Verfügung gestellt. In Italien habe es zur Zeit der Geburt des Kindes keine dem Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Leistung gegeben. Den Antrag auf die mittlerweile in Italien vorhandene einkommensabhängige Leistung „bonus bebé“ habe sie mehrfach gestellt. Diese Leistung stehe aber nicht zu, weil sie nach der italienischen Gesetzeslage nur für Kinder ausgezahlt werde, die nach dem 1. 1. 2015 geboren wurden.

Die beklagte Partei wendet zusammengefasst ein, es liege keine Verpflichtung zur Ausstellung eines Bescheids und damit kein Säumnisfall vor. Die geringfügige Beschäftigung der Klägerin in Österreich habe nur in einem so minimalen Ausmaß bestanden (es sei nur ein Monatslohn von 70 EUR brutto für netto vorgebracht worden), dass nicht von einer Beschäftigung im Sinn des Art 68 Abs 1 lit b sublit i der VO (EG) 883/2004 ausgegangen werden könne. Eine vorrangige Leistungszuständigkeit Österreichs werde durch diese Beschäftigung nicht ausgelöst. Für die Erbringung von Familienleistungen sei daher Italien als Beschäftigungsstaat des Vaters vorrangig leistungszuständig; Österreich sei als Wohnsitzstaat der Mutter und des Kindes nur nachrangig leistungszuständig. Diese Rechtsansicht sei auch der vorläufigen Entscheidung über die anzuwendenden Prioritätsregeln zugrunde gelegen. Entsprechend den Verfahrensregelungen des Art 60 Abs 3 der VO (EG) 987/2009 habe die beklagte Partei mittels Schreiben vom 9. 12. 2015 zugleich mit der vorläufigen Entscheidung den Antrag nach Art 68 Abs 3 der VO (EG) 883/2004 an den Träger des anderen Mitgliedstaats (eingeschrieben) weitergeleitet und die Antragstellerin darüber informiert. Der Träger des anderen Mitgliedstaats (Italien) hätte innerhalb einer Frist von zwei Monaten zu der vorläufigen Entscheidung Stellung nehmen sollen. Eine Stellungnahme sei aber nicht erfolgt, sodass die von der beklagten Partei getroffene vorläufige Entscheidung (endgültig) anwendbar geworden sei. Dementsprechend habe der italienische Träger in Wahrnehmung seiner primären Zuständigkeit die in Italien vorgesehenen Familienleistungen zu erbringen und Österreich die in seinen Rechtsvorschriften vorgesehenen Leistungen. Diese bestünden in einer Ausgleichszahlung, sofern die Leistungen im vorrangig zuständigen Staat Italien geringer sein sollten. Um die Höhe der Ausgleichszahlung berechnen zu können, wären die (positiven bzw negativen) Bescheide über die betreffenden italienischen Familienleistungen erforderlich, welche noch nicht vorliegen. Trotz Urgenzen beim zuständigen italienischen Träger habe daher eine Bemessung des in Österreich gebührenden Leistungsumfangs mangels notwendiger Informationen nicht erfolgen können. Auch die Klägerin habe keine Entscheidung des italienischen Trägers beigebracht. Nach dem im vorliegenden Fall schon anwendbaren § 27 Abs 4 KBGG liege – abweichend von § 67 Abs 1 Z 2 ASGG – eine Säumnis des Versicherungsträgers nur vor, wenn die Sache entscheidungsreif sei, also wesentliche Vorfragen rechtskräftig geklärt und Mitwirkungspflichten erfüllt seien, welche Voraussetzungen nicht gegeben seien. Falls doch Säumnis vorliegen sollte, werde vorgebracht, dass – soweit für die beklagte Partei ersichtlich – in Italien folgende Familienleistungen vorgesehen seien:

- bezahlter fakultativer Elternschaftsurlaub für sechs Monate nach dem Mutterschutz,

- eine staatliche Leistung an Familien mit drei Kindern oder adoptierten Kindern,

- die Mutterschaftsbeihilfe der Wohnsitzgemeinde sowie die Mutterschaftsbeihilfe des Staates,

- eine Zulage zu den Familienleistungen für Alleinerziehende sowie

- die Sozialkarte für einkommensschwache Personen mit Kindern und die Familienzulage.

Das Arbeits- und Sozialgericht Wien (an das die Rechtssache vom Landesgericht Innsbruck als Arbeits- und Sozialgericht überwiesen worden war), wies die Klage zurück.

Rechtlich ging es davon aus, es müsse nicht beurteilt werden, ob die von der Mutter ausgeübte geringfügige Beschäftigung (im Ausmaß von nur etwas mehr als einer Wochenstunde) für die Erfüllung des Beschäftigungsbegriffs ausreiche, weil die beklagte Partei ein Verfahren nach Art 60 Abs 3 der VO (EG) 987/2009 eingeleitet habe. Nachdem der italienische Entscheidungsträger die für seine Stellungnahme vorgesehene zweimonatige Frist verstreichen habe lassen, sei die vorläufige Entscheidung über die subsidiäre Leistungszuständigkeit Österreichs anwendbar bzw verbindlich geworden. Österreich sei daher nur zur Zahlung einer Ergänzungsleistung zuständig. Die in § 27 Abs 4 KBGG für das Vorliegen eines Säumnisfalls geforderte Entscheidungsreife liege aber nicht vor, weil die Frage, welche italienische vergleichbare Familienleistung für das Kind zustehe, noch nicht spruchreif geklärt sei.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. In § 27 Abs 4 KBGG gehe der Gesetzgeber implizit von einer Bescheiderlassungspflicht erst ab dem Zeitpunkt aus, ab dem dem zuständigen Krankenversicherungsträger sämtliche Informationen zur Verfügung stehen, das Kinderbetreuungsgeld der Höhe nach zu bestimmen, sofern diese Festsetzung dem Antrag im Sinn des § 27 Abs 1 Z 1 KBGG nicht voll entspricht. Erst ab diesem Zeitpunkt sei die Säumnisklage möglich. Trotz Abführung des Verfahrens nach Art 60 der VO (EG) 987/2009 könne über die Höhe einer allenfalls zu gewährenden Ausgleichszahlung noch nicht abgesprochen werden, weil über die Frage, ob und in welcher Höhe eine vergleichbare italienische Familienleistung zustehe, der italienische Leistungsträger noch keine Entscheidung getroffen und darüber Mitteilung gemacht habe. Der beklagten Partei sei daher keine Säumnis vorzuwerfen.

Der Revisionsrekurs sei mangels einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung nicht zuzulassen.

Rechtliche Beurteilung

Der von der beklagten Partei (ohne Freistellung) bereits beantwortete Revisionsrekurs der Klägerin ist zulässig und im Ergebnis auch berechtigt.

Die Revisionsrekurswerberin bringt im Wesentlichen vor, auch die von der Klägerin ausgeübte (geringfügige) Beschäftigung in Österreich sei als Beschäftigung iSd VO (EG) 883/2004 anzusehen, sodass Österreich als jener Mitgliedstaat zur Erbringung von Familienleistungen prioritär leistungszuständig sei, in dem das Kind seinen Wohnsitz habe. Die Weiterleitung des Antrags nach Italien sei rechtswidrig gewesen, die Entscheidung über die Leistungszuständigkeit sei unrichtig. Selbst wenn Italien doch prioritär leistungszuständig sein sollte, hätte der österreichische Leistungsträger nach Prüfung, ob es in Italien eine mit dem pauschalen Kinderbetreuungsgeld vergleichbare (und der Klägerin zustehende) Leistung gibt, zumindest eine vorläufige Leistung gewähren und darüber bescheidmäßig absprechen müssen.

Dazu ist auszuführen:

1. Da ein grenzüberschreitender Sachverhalt gegeben ist, sind die VO (EG) 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der Sozialen Sicherheit sowie die VO (EG) 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der VO (EG) 883/2004 anzuwenden.

2. Gemäß ihrem Art 3 Abs 1 lit j gilt die VO (EG) 883/2004 für alle Rechtsvorschriften, die Familienleistungen betreffen (Art 1 lit z). Dazu zählt das österreichische Kinderbetreuungsgeld (EuGH 7. 6. 2005, C-543/03, Dodl und Oberhollenzer; RS0122905). Die Koordination hat daher nach den Bestimmungen des Titel III Kapitel 8 der VO (EG) 883/2004 zu erfolgen (Art 67 bis 69).

3. Um Doppelleistungen zu vermeiden, legt Art 68 der VO (EG) 883/2004 für den Fall der Kumulierung von Anspruchsberechtigungen aus verschiedenen Mitgliedstaaten fest, welcher Staat vorrangig leistungszuständig ist. Gemäß Art 68 Abs 2 der VO (EG) 883/2004 hat der prioritär zuständige Mitgliedstaat die Leistung zu erbringen, Familienleistungen des nachrangig zuständigen Staats sind bis zur Höhe der prioritären Leistung auszusetzen (so auch § 6 Abs 3 KBGG). Ist jedoch die Familienleistung des nachrangig zuständigen Mitgliedstaats höher als die prioritäre Leistung, so hat der nachrangig zuständige Staat (sofern sich die prioritäre Zuständigkeit aus einer Beschäftigung ergibt) ergänzend die Differenz – den sogenannten Unterschiedsbetrag – zu leisten, um der Familie die der Höhe nach günstigste Leistung zu garantieren.

4. Für den Bereich des Kinderbetreuungsgeldes wurde eine entsprechende Antikumulierungsbestimmung mit § 6 Abs 3 KBGG geschaffen (RS0125752), nach der – sofern Anspruch auf vergleichbare ausländische Leistungen besteht – der Kinderbetreuungsgeldanspruch in Höhe der ausländischen Leistung ruht. Existiert im zuständigen Staat keine dem Kinderbetreuungsgeld vergleichbare Leistung, gebührt die Ausgleichszahlung in voller Höhe des Kinderbetreuungsgeldes (Holzmann-Windhofer, Kinderbetreuungsgeld für EG-Wanderarbeitnehmer, SozSi 2008, 16 [27] zur Vorgängerverordnung [EWG] 1408/71).

5.1 Zum Verfahren nach Art 60 der Durchführungsverordnung (EG) 987/2009:

Art 60 der Durchführungsverordnung (EG) 987/2009 regelt das Verfahren bei Anwendung von Art 67 und 68 der VO (EG) 883/2004 („Grundverordnung“). Kommt der Träger, bei dem der Antrag gestellt wurde, zu dem Schluss, dass seine Rechtsvorschriften zwar anwendbar, aber nach Art 68 Abs 1 und 2 der VO (EG) 884/2004 nicht prioritär anzuwenden sind, hat er „unverzüglich eine vorläufige Entscheidung über die anzuwendenden Prioritätsregeln“ zu treffen und den Antrag nach Art 68 Abs 3 der VO (EG) 883/2004 an den Träger des anderen Mitgliedstaats weiterzuleiten und den Antragsteller darüber zu informieren. Dieser Träger muss innerhalb von zwei Monaten zu der vorläufigen Entscheidung Stellung nehmen. Falls der Träger, an den der Antrag weitergeleitet wurde, nicht innerhalb einer Frist von zwei Monaten nach Eingang des Antrags Stellung nimmt, wird die vorläufige Entscheidung kraft Koordinierungsrecht anwendbar. Erfolgt keine Stellungnahme, ist davon auszugehen, dass der erste Träger die Koordinierungsregeln richtig angewendet hat. Der zweite Träger muss nun die nach seinen Rechtsvorschriften zustehenden Familienleistungen erbringen und den ersten Träger über die Höhe informieren (Reinhard in Eichenhofer ua, EU-Sozialrecht, Kommentar [3. Erg-Lfg IV/12] VO [EG] 883/04 – K Art 68, 17).

5.2 Daraus folgt für den vorliegenden Fall, dass die vom österreichischen Leistungsträger getroffene vorläufige Entscheidung über die Leistungszuständigkeit mangels einer Stellungnahme des italienischen Trägers anwendbar, also wirksam geworden ist und als richtig anzusehen ist. Wie bereits die Vorinstanzen erkannt haben, ist aufgrund dieses Ergebnisses des Verfahrens nach Art 60 der DurchführungsVO (EG) 987/2009 die Prüfung der Frage, ob die von der Klägerin in Österreich ausgeübte (geringfügige) Beschäftigung nicht doch eine Beschäftigung im Sinn des Art 1 lit a der VO (EG) 883/2004 sei, nicht mehr vorzunehmen. Insoweit ist dem Revisionsrekursvorbringen somit nicht zu folgen.

6. Zur Frage der Säumnis:

6.1 Der Säumnisfall setzt voraus, dass der Versicherungsträger zur Erlassung eines Bescheids verpflichtet ist (RS0083900). Gemäß § 27 Abs 3 Z 1 KBGG ist ein Bescheid auszustellen, wenn ein Anspruch auf eine Leistung gar nicht oder nur teilweise anerkannt wird.

6.2 Nach dem mit der Novelle BGBl I 2016/53 neu eingeführten § 27 Abs 4 KBGG wird für den Bereich des Kinderbetreuungsgeldes der Säumnisfall (abweichend von § 67 Abs 1 Z 2 ASGG) auf das Vorliegen von Entscheidungsreife nach rechtskräftiger Klärung wesentlicher Vorfragen und Erfüllung von Mitwirkungspflichten (vgl §§ 29 und 32 KBGG) eingeschränkt (Neumayr in ZellKomm3 § 67 ASGG Rz 15/1). § 27 Abs 4 KBGG ist mit 1. 3. 2017 in Kraft getreten (§ 50 Abs 15 KBGG) und ist (mangels Übergangsvorschriften) auf den vorliegenden Fall bereits anwendbar.

6.3 Die Gesetzesmaterialien rechtfertigen die Neuregelung damit, dass in der Vergangenheit wegen Säumigkeit geklagt wurde, obwohl die Säumigkeit auf Seiten des Klägers vorlag bzw Vorfragen sich erst in Abklärung befanden, wodurch es zu hohen Kosten auf Seiten der Krankenversicherungsträger gekommen sei, ohne dass sich dieser dagegen zur Wehr setzen konnte. Eine Säumnisklage gemäß § 67 Abs 1 Z 2 ASGG soll daher in Zukunft nur dann erfolgreich erhoben werden können, wenn der Krankenversicherungsträger die Sachentscheidung nicht binnen sechs Monaten erlassen hat, obwohl der Antragsteller seinen in § 32 KBGG festgelegten Mitteilungs- und Mitwirkungspflichten zur Feststellung des maßgeblichen Sachverhalts (trotz mindestens zweimaliger Aufforderung) nachgekommen ist und die Sache demnach entscheidungsreif ist. Dasselbe soll für Fälle gelten, in denen eine (wesentliche) Vorfrage schon den Gegenstand eines anhängigen Verfahrens bei der zuständigen Verwaltungsbehörde bzw dem zuständigen Gericht bildet (oder ein solches Verfahren gleichzeitig anhängig gemacht wird), sodass auch hier bis zur rechtskräftigen Entscheidung der Vorfrage keine Säumnis vorliegt und die Klage von den Sozialgerichten mangels Säumnis jedenfalls (a limine) zurückzuweisen ist (ErläutRV 1110 BlgNR 25. GP 13).

6.4.1 Weißenböck (in Holzmann-Windhofer/ Weißenböck, Kinderbetreuungsgeldgesetz [2017] 201 f) geben zu § 24 Abs 4 KBGG im Wesentlichen die Gesetzesmaterialien wieder. Als „wesentliche Vorfrage“ im Sinn dieser Gesetzesbestimmung seien alle jene Vorfragen anzusehen, deren Klärung zur Feststellung der zwischenstaatlichen Zuständigkeit zur Gewährung von Familienleistungen sowie zur Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens des Anspruchs auf Kinderbetreuungsgeld erforderlich seien.

6.4.2 Sonntag (in Sonntag/Schober/Konezny KBGG2 [2017], § 27 Rz 8 ff; siehe auch Sonntag, Unionsverfassungs- und verfahrensrechtliche Probleme der KBGG-Novelle 2016 und des Familienzeitbonusgesetzes, ASoK 2017, 2 [8 f]) weist darauf hin, dass § 67 Abs 1 Z 2 ASGG die Zulässigkeit einer Säumnisklage nur vom objektiven Verstreichen der Entscheidungsfrist des Sozialversicherungsträgers abhängig mache, während die neue Regelung zur Konsequenz habe, dass es nunmehr verschiedene Säumnisbegriffe im sozialgerichtlichen Verfahren gebe. Zudem sei die Notwendigkeit der Regelung im Hinblick auf Vorfragen zu hinterfragen, weil auch nach § 67 Abs 1 Z 2 ASGG die Dauer der Aussetzung des Verfahrens wegen Klärung einer Vorfrage nach § 38 AVG nicht in die Dauer der Entscheidungsfrist eingerechnet werde. Weiters sei zu fragen, ob die Privilegierung der für das Kinderbetreuungsgeld zuständigen Entscheidungsträger beim Säumnisbegriff gegenüber allen anderen in Sozialrechtssachen tätigen Entscheidungsträgern unter dem Aspekt des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes sachlich gerechtfertigt sei.

6.4.3 Nach Burger-Ehrenhofer (in Kinderbetreuungsgeldgesetz und Familienzeitbonusgesetz3 [2017] § 27 KBGG Rz 17) sei der in Angelegenheiten des KBGG zuständige Krankenversicherungsträger nur mehr dann säumig, wenn die Sache entscheidungsreif ist, also wesentliche Vorfragen geklärt und Mitwirkungspflichten erfüllt wurden. Auch sie stellt in Frage, ob diese Privilegierung der für das Kinderbetreuungsgeld zuständigen Entscheidungsträger beim Säumnisbegriff gegenüber allen anderen Sozialrechtssachen unter dem Aspekt des verfassungsrechtlichen Gleichheitssatzes im Hinblick auf das dadurch verfolgte Ziel der Kostenersparnis sachlich gerechtfertigt sei.

6.5 In der höchstgerichtlichen Rechtsprechung wurde – wenn auch in einem anderen Zusammenhang – in der Entscheidung 10 ObS 112/18w auf § 27 Abs 4 KBGG Bezug genommen. Gegenstand dieser Entscheidung war – anders als hier – die Bescheidpflicht nach § 27 Abs 4 KBGG, wenn das von der beklagten Partei angenommene „Ruhen“ des Anspruchs auf Kinderbetreuungsgeld (infolge Anrechnung einer der Höhe nach bereits bekannten vergleichbaren ausländischen Familienleistung) zur nur teilweisen Gewährung des Kinderbetreuungsgeldes geführt hat. Der Oberste Gerichtshof ging davon aus, dass der Gesetzgeber implizit erst ab demjenigen Zeitpunkt eine Bescheidpflicht annehme, ab dem dem zuständigen Krankenversicherungsträger sämtliche Informationen zur Verfügung stehen, das Kinderbetreuungsgeld der Höhe nach zu bestimmen, sofern diese Festsetzung dem Antrag nicht voll entspricht. Erst ab diesem Zeitpunkt sehe der Gesetzgeber den Krankenversicherungsträger (insoweit abweichend von der absoluten Fristenregelung in § 67 Abs 1 Z 2 KBGG) als säumig an.

7. Für den vorliegenden Fall ergibt sich Folgendes:

7.1 Eine Verletzung der Mitwirkungspflicht scheidet aus, wird doch von der beklagten Partei gar nicht behauptet, dass die Klägerin trotz zweimaliger schriftlicher Aufforderung (§ 32 Abs 4 KBGG) einer Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen wäre (siehe Weißenböck in Holzmann-Windhofer/Weißenböck, KBGG, 202).

7.2 Wie die Revisionsrekurswerberin aber zutreffend aufzeigt, steht die Intention des Gesetzgebers erst ab dem Zeitpunkt eine Bescheidpflicht anzunehmen, ab dem dem zuständigen Krankenversicherungsträger sämtliche Informationen zur Verfügung stehen, das Kinderbetreuungsgeld der Höhe nach zu bestimmen, in Widerspruch zur unionsrechtlich verankerten Verpflichtung des nachrangig zuständigen Trägers zur Gewährung einer vorläufigen Leistung (Art 68 Abs 3 lit a VO [EG] 883/2004 und die entsprechenden Bestimmungen der Durchführungsverordnung):

Sollte die im nachrangig zuständigen Mitgliedstaat vorgesehene Familienleistung höher sein (Art 68 Abs 2 VO [EG] 883/2004) gebührt ein Unterschiedsbetrag. Der nachrangig zuständige Mitgliedstaat hat in diesem Fall „unbeschadet der Bestimmungen der Durchführungsverordnung über die vorläufige Gewährung von Leistungen“ erforderlichenfalls den Unterschiedsbetrag als Vorschuss zu leisten (Art 68 Abs 3 lit a VO [EG] 883/2004).

Die in Art 68 Abs 3 lit a VO (EG) 883/2004 angesprochene Bestimmung des Art 7 der DurchführungsVO (EG) 987/2009 lautet:

„(1) Steht einer Person nach der Grundverordnung ein Leistungsanspruch zu (...) und liegen dem zuständigen Träger nicht alle Angaben über die Situation in einem anderen Mitgliedstaat vor, die zur Berechnung des endgültigen Betrags der Leistung ... erforderlich sind, so gewährt dieser Träger auf Antrag der betreffenden Person die Leistung oder berechnet den Beitrag vorläufig, wenn eine solche Berechnung auf der Grundlage der dem Träger vorliegenden Angaben möglich ist, sofern die Durchführungsverordnung nichts anderes bestimmt.

(2) Sobald dem betreffenden Träger alle erforderlichen Belege oder Dokumente vorliegen, ist eine Neuberechnung der Leistung oder des Beitrags vorzunehmen.“

8.1 Wie sich aus diesen Regelungen ergibt, soll die Antragstellung beim „falschen“ (nur subsidiär leistungszuständigen) Entscheidungsträger nicht zu Lasten des Betroffenen gehen, der nachrangig zuständige Mitgliedstaat hat den Unterschiedsbetrag erforderlichenfalls als Vorschuss zu leisten. Eine Aussetzung der Leistungsgewährung soll maximal für zwei Monate zulässig sein (Felten in Spiegel, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht [59. Lfg], Art 68 VO 883/2004 Rz 15).

8.2 Die beklagte Partei hätte demnach als Entscheidungsträger des nachrangig zuständigen Mitgliedstaats aufgrund der VO (EG) 883/2004 und der Durchführungsverordnung (EG) 987/2009 nach fruchtlosem Verstreichen der zweimonatigen Frist zur Stellungnahme durch den italienischen Entscheidungsträger (die nach der Aktenlage spätestens Ende des ersten Quartals des Jahres 2016 abgelaufen gewesen sein muss) auf Antrag einen allenfalls zustehenden Unterschiedsbetrag nach entsprechenden Erhebungen vorläufig festzustellen und allenfalls auszuzahlen gehabt. Gegebenenfalls wäre auch in Kauf zu nehmen gewesen, dass es zu Überzahlungen kommen kann, die späterhin nach dem Verfahren nach den Art 71–74 der DurchführungsVO auszugleichen wären (Art 60 Abs 5 VO [EG] 987/2009; Reinhard in Eichenhofer ua, EU-Sozialrecht, VO 883/2004 [3. Erg-Lfg IV/12] Art 68 Rz 14).

8.3 Die Vorgangsweise bzw der Standpunkt, es begründe keinen Säumnisfall, vor Entscheidung bzw (positiver oder negativer) Bescheiderlassung über einen etwaigen vorläufigen Unterschiedsbetrag das Ergehen von Entscheidungen über den nach Art 68 Abs 3 VO (EG) 883/2004 an den italienischen Entscheidungsträger weitergeleiteten Antrag auf die betreffenden italienischen Familienleistungen bzw deren Höhe abzuwarten, steht mit Art 68 Abs 3 lit a der VO (EG) 883/2004 und der dort verankerten Verpflichtung, auf Antrag erforderlichenfalls den Unterschiedsbetrag als Vorschuss zu leisten, nicht in Einklang.

9.1 Der EuGH hat schon wiederholt ausgesprochen, dass das nationale Gericht das anzuwendende nationale Recht so weit wie möglich in Übereinstimmung mit den Anforderungen des Unionsrechts auslegen muss. Ist eine unionsrechtskonforme Auslegung nicht möglich, so ist das nationale Gericht verpflichtet, jede Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet zu lassen, deren Anwendung im konkreten Fall zu einem unionsrechtswidrigen Ergebnis führen würde, ohne dass das nationale Gericht die vorherige Beseitigung dieser Bestimmung auf gesetzgeberischem Weg oder durch irgendein anderes verfassungsrechtliches Verfahren beantragen oder abwenden müsste (RS0109951 [T3]; RS0075866 [T4]).

9.2 Demnach ist die in § 27 Abs 4 KBGG geforderte Entscheidungsreife nach rechtskräftiger Klärung von Vorfragen im Sinn der Vorgaben des Art 68 Abs 3 VO (EG) 883/2004 und Art 7 der DurchführungsVO (EG) 987/2009 im vorliegenden Fall unionsrechtskonform (einschränkend) dahin zu verstehen, dass mit der Entscheidung über die Gewährung (oder Nichtgewährung) eines allfälligen vorläufigen Unterschiedsbetrags nicht so lange abgewartet werden kann, bis der prioritär zuständige Träger über die vergleichbare Familienleistung und deren Höhe endgültig entschieden hat. Vielmehr hätte die beklagte Partei nach fruchtlosem Verstreichen der zweimonatigen Frist zur Stellungnahme des italienischen Leistungsträgers (nach der Aktenlage jedenfalls zum Ende des ersten Quartals 2016) innerhalb von sechs Monaten einen positiven oder negativen Bescheid über die (vorläufige) Leistungspflicht zur Erbringung eines etwaigen Unterschiedsbetrags zu erlassen gehabt, sofern sie der Klägerin nicht das Kinderbetreuungsgeld in der von ihr beantragten Variante 30+6 faktisch erbringt (§ 27 Abs 3 Z 1 KBGG). Es begründet daher einen Säumnisfall, wenn die beklagte Partei bis Klagseinbringung im März 2017 keinen Bescheid über die (vorläufige) Leistung erlassen hat, auch wenn ihr noch keine rechtskräftige Entscheidung des prioritär zuständigen italienischen Trägers über die Höhe der in diesem Mitgliedstaat gebührenden Familienleistung vorgelegen hat.

10. Die Entscheidungen der Vorinstanzen waren daher aufzuheben und dem Erstgericht die Fortsetzung des Verfahrens unter Abstandnahme vom Zurückweisungsgrund aufzutragen.

Der Kostenvorbehalt beruht auf § 52 Abs 1 ZPO.

Textnummer

E125530

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:OGH0002:2019:010OBS00042.19B.0528.000

Im RIS seit

16.07.2019

Zuletzt aktualisiert am

16.09.2020
Quelle: Oberster Gerichtshof (und OLG, LG, BG) OGH, http://www.ogh.gv.at
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