Entscheidungsdatum
20.03.2019Norm
AsylG 2005 §55Spruch
W222 1410970-2/5E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Obregon als Einzelrichterin über die Beschwerde des XXXX , geb. XXXX , StA. Indien, vertreten durch Mag. Nikolaus Rast, Rechtsanwalt in 1010 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.03.2017, Zl. IFA-Zahl XXXX + Verfahrenszahl XXXX , zu Recht erkannt:
A)
Der Beschwerde wird stattgegeben und der angefochtene Bescheid wird ersatzlos behoben.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE:
I. Verfahrensgang:
Der Beschwerdeführer, ein indischer Staatsangehöriger, stellte am 28.09.2009 einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 17.12.2009, Zl. XXXX , bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Indien gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG abgewiesen wurde. Unter einem wurde der Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Indien ausgewiesen.
Die Beschwerde gegen diesen Bescheid wurde mit in Rechtskraft erwachsenem Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 28.09.2011, Zl. C1 410970-1/2010/11E, gemäß §§ 3, 8 und 10 Asylgesetz 2005 (AsylG), BGBl. I Nr. 100/2005 idgF abgewiesen. Begründend führte der Asylgerichtshof im Wesentlichen aus, dass den Angaben des Beschwerdeführers aufgrund zahlreicher Widersprüche in wesentlichen Teilen des Vorbringens die Glaubhaftigkeit abzusprechen gewesen sei und somit nicht davon ausgegangen werden könne, dass ihm asylrelevante Verfolgung in Indien drohe. Zudem stehe ihm selbst bei Zugrundelegung seines Fluchtvorbringens eine inländische Flucht- bzw. Schutzalternative offen. Es gebe auch keinen Hinweis darauf, dass der Beschwerdeführer bei einer Rückkehr nach Indien im gesamten Staatsgebiet den in § 8 Abs. 1 AsylG umschriebenen Gefahren ausgesetzt wäre. Da der Beschwerdeführer keine Verwandten in Österreich habe, sich weniger als drei Jahre in Österreich aufhalte und keine Hinweise für eine besondere Integration hervorgekommen seien, stelle die Ausweisung keinen ungerechtfertigten Eingriff in das Familien- und Privatleben des Beschwerdeführers dar.
Bei der niederschriftlichen Einvernahme vor der Bundespolizeidirektion Wien am 30.11.2011 füllte der Beschwerdeführer einen Fragebogen zwecks Erlangung eines Heimreisezertifikates aus. Mit Schreiben vom 14.12.2011 suchte die Bundespolizeidirektion Wien um die Ausstellung eines Heimreisezertifikates bei der indischen Botschaft in Wien an.
Am 08.03.2012, 17.06.2012, 07.07.2012, 25.05.2013 und 27.10.2013 wurde der Beschwerdeführer jeweils wegen rechtswidrigen Aufenthalts gemäß § 120 Abs. 1a FPG zur Anzeige gebracht.
Am 03.06.2014 beantragte der Beschwerdeführer die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 Abs. 1 und Abs. 2 AsylG 2005, wobei er ein Konvolut von Unterlagen in Vorlage brachte. In einem beigelegten Schreiben seines rechtsfreundlichen Vertreters stellte er den Antrag auf Nachsicht der vorzulegenden Urkunden.
Mit Schreiben des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 22.07.2015 wurde dem Beschwerdeführer mitgeteilt, dass er bisher lediglich ein Lichtbild, jedoch noch keine Urkunden und Nachweise im Sinne des § 8 Abs. 1 Z 1, 2 und 4 AsylG-DV vorgelegt habe. Zwar habe er sinngemäß einen unbegründeten Antrag auf Zulassung der Heilung eines Mangels gestellt, jedoch sei der Nachweis der Originalidentität nicht abdingbar und habe die Partei ihrer Mitwirkungspflicht insofern nachzukommen. Zudem habe er gleichzeitig sowohl einen Erstantrag auf Erteilung einer "Aufenthaltsberechtigung" als auch einer "Aufenthaltsberechtigung plus" gestellt und sei ein Antrag im Falle des gleichzeitigen Stellens mehrere Anträge als unzulässig zurückzuweisen. Es werde daher aufgetragen, diese Mängel durch Vorlage der fehlenden Beweismittelunterlagen und durch Einschränkung auf einen einzigen Erstantrag zu verbessern.
In einer am 12.08.2015 eingelangten Stellungnahme brachte der Beschwerdeführer im Wege seiner damaligen rechtsfreundlichen Vertretung vor, er stütze seinen Antrag ausschließlich auf § 55 Abs. 1 AsylG. Da er für den Erhalt eines Reisepasses und einer Geburtsurkunde in sein Heimatland zurückkehren müsste, was er als politischer Flüchtling vermeiden wolle, stelle er den Antrag, hinsichtlich der Vorlage dieser Unterlagen aus humanitären Gründen abzusehen.
Mit Schreiben des nunmehrigen rechtsfreundlichen Vertreters vom 29.09.2015 wurde ein ÖSD-Deutschzertifikat für das Niveau A2 in Vorlage gebracht und ersucht, dem Beschwerdeführer eine Aufenthaltsberechtigung Plus zu erteilen. Mit einem weiteren Schreiben vom 09.12.2015 wurde ein arbeitsrechtlicher Vorvertrag vom 25.11.2015 und ein von neun Personen unterzeichnetes Empfehlungsschreiben übermittelt.
Mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 15.03.2017 wurde der Antrag vom 03.06.2014 auf Heilung eines Mangels nach § 8 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz-Durchführungsverordnung gemäß § 4 Abs. 1 Z 2 und 3 Asylgesetz-Durchführungsverordnung abgewiesen (Spruchpunkt I.) und der Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK gemäß § 55 Abs. 1 AsylG vom 03.06.2014 gemäß § 58 Abs. 11 Z 2 AsylG 2005 idgF zurückgewiesen. Begründend wurde zu Spruchpunkt I. ausgeführt, dass sich der Beschwerdeführer seit 2009 in Österreich, davon seit Ende September 2011 unrechtmäßig, aufhalte. Er verfüge nicht über familiäre bzw. private Anknüpfungspunkte, lebe von der Grundversorgung oder unerlaubter Erwerbstätigkeit und habe den überwiegenden Teil seines Lebens in Indien verbracht, weshalb die Heilung der gemäß § 8 Abs. 1 Z 1 und 2 AsylG-DV iVm § 7 AsylG-DV aufgetretenen Mängel im Sinne des § 4 Abs. 1 Z 2 AsylG-DV zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK nicht zuzulassen gewesen sei. Da dem Beschwerdeführer zumutbar und möglich gewesen wäre, die Botschaft oder die Konsularabteilung der Republik Indien in Wien zur Erlangung eines gültigen Reisedokumentes anzusprechen, sei die Heilung der Mängel auch im Sinne des § 4 Abs. 1 Z 3 AsylG-DV nicht zuzulassen gewesen. Betreffend Spruchpunkt II. wurde festgehalten, dass der Beschwerdeführer bisher seiner gesetzlich normierten Mitwirkungspflicht im Hinblick auf die Ermittlung und Überprüfung erkennungsdienstlicher Daten trotz diesbezüglicher nachweislicher Aufforderung samt Belehrung über die Folgen nicht ausreichend nachgekommen sei, obwohl ihm dies durchaus möglich und zumutbar gewesen sei. Die Erlassung einer neuerlichen Rückkehrentscheidung sei gemäß § 59 Abs. 5 FPG nicht erforderlich gewesen, zumal keine neuen Tatsachen gemäß § 53 Abs. 2 und 3 FPG hervorgekommen seien, welche die Erlassung eines Einreiseverbotes auslösen hätte müssen.
Gegen diesen Bescheid richtete sich die fristgerecht eingebrachte Beschwerde, worin im Wesentlichen moniert wurde, dass die Verwaltungsbehörde zu Unrecht die Integration des Beschwerdeführers als geringfügig ansehe. Er befinde sich seit September 2009 im Bundesgebiet, verfüge über einen arbeitsrechtlichen Vorvertrag, habe zahlreiche soziale Kontakte und spreche hervorragend Deutsch. Im Übrigen habe er auch dargelegt, warum er über keinen Reisepass verfüge.
Nachdem der Beschwerdeführer mit Schreiben des Bundesverwaltungsgerichts vom 10.01.2019 aufgefordert worden war, zu seinem Familien- und Privatleben in Österreich einschließlich seiner Integration Stellung zu nehmen und diesbezüglich allfällig weitere Beweismittel in Vorlage zu bringen, übermittelte der rechtsfreundliche Vertreter des Beschwerdeführers mit Schreiben vom 31.01.2019 und vom 12.02.2019 folgende Unterlagen:
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ÖSD-Zertifikat für das Niveau A2
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Zustellhonorare für November und Dezember 2018
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Versicherungsbestätigung für den Zeitraum ab 01.01.2017
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Unterstützungsschreiben samt Reisepasskopien
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Distributionsvertrag vom 01.02.2018 samt Anhang
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen
Der Beschwerdeführer ist Staatsangehöriger von Indien, gehört der Volksgruppe Jat an und bekennt sich zum Sikhismus.
Nach seiner schlepperunterstützten und unrechtmäßigen Einreise in das österreichische Bundesgebiet stellte er am 28.09.2009 einen Antrag auf internationalen Schutz, der mit Bescheid des Bundesasylamtes vom 17.12.2009 bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 sowie bezüglich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Indien gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen wurde. Unter einem wurde der Beschwerdeführer gemäß § 10 Abs. 1 AsylG 2005 aus dem österreichischen Bundesgebiet nach Indien ausgewiesen. Die Beschwerde gegen diesen Bescheid wurde mit in Rechtskraft erwachsenem Erkenntnis des Asylgerichtshofes vom 28.09.2011 gemäß §§ 3, 8 und 10 AsylG 2005 abgewiesen. Am 03.06.2014 beantragte der Beschwerdeführer die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK und stellte einen Antrag auf Nachsicht der vorzulegenden Urkunden.
In Österreich ist der Beschwerdeführer strafrechtlich unbescholten. Bei der niederschriftlichen Einvernahme am 30.11.2011 füllte er einen Fragebogen zwecks Erlangung eines Heimreisezertifikates aus. Mit Schreiben vom 14.12.2011 suchte die Bundespolizeidirektion Wien um die Ausstellung eines Heimreisezertifikates bei der indischen Botschaft in Wien an. Gegen den Beschwerdeführer wurde mehrmals Anzeige wegen rechtswidrigen Aufenthaltes erstattet.
Der ledige und kinderlose Beschwerdeführer ist seit dem 13.10.2009 durchgehend in Österreich behördlich gemeldet. Er verfügt hier weder über verwandtschaftliche Anknüpfungspunkte, noch lebt er in einer Lebensgemeinschaft. Er hat sich einen Freundes- und Bekanntenkreis bestehend aus indischen und österreichischen Staatsangehörigen aufgebaut. Von September bis Oktober 2009 bezog er Leistungen im Rahmen der Grundversorgung. Seit dem Jahr 2010 ist er als Zeitungszusteller tätig, wodurch er seinen Lebensunterhalt selbstständig bestreiten kann. Er ist seit dem 01.01.2017 bis laufend bei der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft kranken- und unfallversichert. Am 02.06.2015 absolvierte der Beschwerdeführer eine ÖSD-Deutschprüfung für das Niveau A2 und bestand sie mit "sehr gut". Am 25.11.2015 schloss er mit einem Kleintransportunternehmen einen arbeitsrechtlichen Vorvertrag über eine Beschäftigung als Fahrer zu 30 Wochenstunden und einem monatlichen Nettolohn von 890,07 Euro unter der Bedingung ab, dass bis Oktober 2016 alle für ein Arbeitsverhältnis erforderliche Unterlagen vorgelegt werden.
Der Beschwerdeführer stammt aus dem Distrikt XXXX im Bundesstaat Punjab. In Indien besuchte er fünf Jahre lang die Schule und arbeitete in der familieneigenen Landwirtschaft mit. Er lebte im Haus seiner Eltern. Seine Eltern sind verstorben und er hat keine Geschwister.
2. Beweiswürdigung:
Der oben unter Punkt I. angeführte Verfahrensgang sowie die Feststellungen zum Verfahrensablauf ergeben sich aus dem Akteninhalt der Verwaltungs- und Gerichtsakten.
Die Staatsangehörigkeit, Religions- und Volksgruppenzugehörigkeit des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen Angaben im Rahmen des abgeschlossenen Asylverfahrens. Dass er strafrechtlich unbescholten ist, wurde einem aktuellen Strafregisterauszug entnommen. Die Feststellungen betreffend die Anzeigen wegen rechtswidrigen Aufenthaltes gründen auf den im Verwaltungsakt einliegenden Anzeigen der Sicherheitsbehörden. Dem Verwaltungsakt lassen sich keine Hinweise entnehmen, dass weitere Verfahrensschritte, wie etwa die Erlassung von Straferkenntnissen, gesetzt worden wären. Die Feststellungen betreffend die Beschaffung eines Heimreisezertifikates beruhen auf den im Verwaltungsakt einliegenden Schriftstücken.
Dass der Beschwerdeführer schlepperunterstützt und unrechtmäßig nach Österreich eingereist ist, erschließt sich aus seinen Angaben im abgeschlossenen Asylverfahren. Aus dem Zentralen Melderegister ist ersichtlich, dass der Beschwerdeführer seit dem 13.10.2009 durchgehend im Bundesgebiet gemeldet ist.
Die Feststellungen zum Familien- und Privatleben einschließlich allfälliger Aspekte einer Integration des Beschwerdeführers in Österreich ergeben sich aus seinen Angaben im abgeschlossenen Asylverfahren in Zusammenschau mit seinen Angaben sowie den vorgelegten Bescheinigungsmitteln und amtswegig eingeholten Auszügen im gegenständlichen Verfahren. Da der Beschwerdeführer zuletzt Nachweise über ein monatliches Zustellhonorar in Höhe von rund 1.100 bzw. 1.250 Euro in Vorlage brachte, zuvor schon Nachweise über Zustellhonorare in den Jahren 2010, 2011, 2013 und 2014 vorgelegt hatte und (abgesehen von einem kurzen Zeitraum) keine staatlichen Leistungen im Rahmen der Grundversorgung bezog, war festzustellen, dass er seinen Lebensunterhalt in Österreich selbstständig bestreiten kann. Dass er in Österreich über einen Freundes- bzw. Bekanntenkreis verfügt, ergibt sich aus seinen eigenen Angaben in Zusammenschau mit den in Vorlage gebrachten Unterstützungsschreiben.
Die Feststellungen zu den Lebensumständen in Indien wurden entsprechend den eigenen Angaben des Beschwerdeführers im abgeschlossenen Asylverfahren getroffen.
3. Rechtliche Beurteilung:
Gemäß § 7 Abs. 1 BFA-VG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht unter anderem über Beschwerden gegen Bescheide des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (Z 1).
Gemäß § 6 BVwGG entscheidet das Bundesverwaltungsgericht durch Einzelrichter, sofern nicht in Bundes- oder Landesgesetzen die Entscheidung durch Senate vorgesehen ist. Gegenständlich liegt somit Einzelrichterzuständigkeit vor.
Das Verfahren der Verwaltungsgerichte mit Ausnahme des Bundesfinanzgerichts ist durch das VwGVG, BGBl. I 2013/33 idF BGBL I 2013/122, geregelt (§ 1 leg.cit.). Gemäß § 58 Abs 2 VwGVG bleiben entgegenstehende Bestimmungen, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Bundesgesetzes bereits kundgemacht wurden, in Kraft.
Gemäß § 17 VwGVG sind, soweit in diesem Bundesgesetz nicht anderes bestimmt ist, auf das Verfahren über Beschwerden gemäß Art. 130 Abs. 1 B-VG die Bestimmungen des AVG mit Ausnahme der §§ 1 bis 5 sowie des IV. Teiles, die Bestimmungen der Bundesabgabenordnung - BAO, BGBl. Nr. 194/1961, des Agrarverfahrensgesetzes - AgrVG, BGBl. Nr. 173/1950, und des Dienstrechtsverfahrensgesetzes 1984 - DVG, BGBl. Nr. 29/1984, und im Übrigen jene verfahrensrechtlichen Bestimmungen in Bundes- oder Landesgesetzen sinngemäß anzuwenden, die die Behörde in dem dem Verfahren vor dem Verwaltungsgericht vorangegangenen Verfahren angewendet hat oder anzuwenden gehabt hätte.
Gemäß § 28 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht die Rechtssache durch Erkenntnis zu erledigen, sofern die Beschwerde nicht zurückzuweisen oder das Verfahren einzustellen ist. Seine Entscheidung hat es an der zum Zeitpunkt seiner Entscheidung gegebenen Sach- und Rechtslage auszurichten (vgl. VwGH 21.10.2014, Ro 2014/03/0076).
Zu A)
Im vorliegenden Fall stellte der Beschwerdeführer gleichzeitig mit dem Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels aus Gründen des Art. 8 EMRK am 03.06.2014 in einem beigelegten Schreiben seines rechtsfreundlichen Vertreters den Antrag auf Nachsicht der vorzulegenden Urkunden.
Gemäß § 4 Abs. 1 Asylgesetz-Durchführungsverordnung 2005 (AsylG-DV 2005) kann die Behörde auf begründeten Antrag von Drittstaatsangehörigen die Heilung eines Mangels nach § 8 und § 58 Abs. 5, 6 und 12 AsylG 2005 im Fall eines unbegleiteten Minderjährigen zur Wahrung des Kindeswohls (Z 1), zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK (Z 2) oder im Fall der Nichtvorlage erforderlicher Urkunden oder Nachweise, wenn deren Beschaffung für den Fremden nachweislich nicht möglich oder nicht zumutbar war (Z 3), zulassen.
Im Erkenntnis vom 26.01.2017, Ra 2016/21/0168, hielt der Verwaltungsgerichtshof fest, dass sich die Prüfung, ob einem Heilungsantrag nach § 4 Abs. 1 Z 2 AsylG-DV 2005 stattzugeben ist, inhaltlich nicht von der Beurteilung, ob der Titel nach § 55 AsylG 2005 zu erteilen ist, unterscheidet. Daraus folge auch, dass bei einem Antrag nach § 55 AsylG 2005 in Bezug auf die Heilung nach § 4 Abs. 1 AsylG-DV 2005 in erster Linie und vorrangig die Voraussetzungen der Z 2 der genannten Bestimmung zum Tragen kommen und dass es unzulässig sei, den Antrag auf Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 trotz Vorliegens der hierfür erforderlichen Voraussetzungen wegen Nichtvorlage von Identitätsdokumenten zurückzuweisen (vgl. dazu auch VwGH 17.11.2016, Ra 2016/21/0314).
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl prüfte sohin auch zu Recht, ob nach § 4 Abs. 1 Z 2 AsylG-DV die Erteilung des beantragten Aufenthaltstitels zur Aufrechterhaltung des Privat- und Familienlebens im Sinn des Art. 8 EMRK geboten war.
Gemäß § 9 Abs. 2 BFA-Verfahrensgesetz (BFA-VG) sind bei der Beurteilung des Privat- und Familienlebens im Sinne des Art. 8 EMRK insbesondere zu berücksichtigen:
"1. die Art und Dauer des bisherigen Aufenthaltes und die Frage, ob der bisherige Aufenthalt des Fremden rechtswidrig war,
2. das tatsächliche Bestehen eines Familienlebens,
3. die Schutzwürdigkeit des Privatlebens,
4. der Grad der Integration,
5. die Bindungen zum Heimatstaat des Fremden,
6. die strafgerichtliche Unbescholtenheit,
7. Verstöße gegen die öffentliche Ordnung, insbesondere im Bereich des Asyl-, Fremdenpolizei- und Einwanderungsrechts,
8. die Frage, ob das Privat- und Familienleben des Fremden in einem Zeitpunkt entstand, in dem sich die Beteiligten ihres unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst waren,
9. die Frage, ob die Dauer des bisherigen Aufenthaltes des Fremden in den Behörden zurechenbaren überlangen Verzögerungen begründet ist."
Gemäß Art. 8 Abs. 1 EMRK hat jedermann Anspruch auf Achtung seines Privat- und Familienlebens, seiner Wohnung und seines Briefverkehrs. Gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK ist der Eingriff einer öffentlichen Behörde in die Ausübung dieses Rechts nur statthaft, insoweit dieser Eingriff gesetzlich vorgesehen ist und eine Maßnahme darstellt, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutz der Gesundheit und der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist.
Der Begriff des "Familienlebens" in Art. 8 EMRK umfasst nicht nur die Kleinfamilie von Eltern und (minderjährigen) Kindern und Ehegatten, sondern auch entferntere verwandtschaftliche Beziehungen, sofern diese Beziehungen eine gewisse Intensität aufweisen, etwa ein gemeinsamer Haushalt vorliegt (vgl. dazu EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; Frowein - Peukert, Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK-Kommentar, 2. Auflage (1996) Rz 16 zu Art. 8; Baumgartner, Welche Formen des Zusammenlebens schützt die Verfassung? ÖJZ 1998, 761; vgl. auch Rosenmayer, Aufenthaltsverbot, Schubhaft und Abschiebung, ZfV 1988, 1). In der bisherigen Spruchpraxis der Straßburger Instanzen wurden als unter dem Blickwinkel des Art. 8 EMRK zu schützende Beziehungen bereits solche zwischen Enkel und Großeltern (EGMR 13.06.1979, Marckx, EuGRZ 1979, 458; s. auch EKMR 07.12.1981, B 9071/80, X-Schweiz, EuGRZ 1983, 19), zwischen Geschwistern (EKMR 14.03.1980, B 8986/80, EuGRZ 1982, 311) und zwischen Onkel bzw. Tante und Neffen bzw. Nichten (EKMR 19.07.1968, 3110/67, Yb 11, 494 (518); EKMR 28.02.1979, 7912/77, EuGRZ 1981/118; EKMR 05.07.1979, B 8353/78, EuGRZ 1981, 120) anerkannt, sofern eine gewisse Beziehungsintensität vorliegt (vgl. Baumgartner, ÖJZ 1998, 761; Rosenmayer, ZfV 1988, 1). Das Kriterium einer gewissen Beziehungsintensität wurde von der Kommission auch für die Beziehung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern gefordert (EKMR 06.10.1981, B 9202/80, EuGRZ 1983, 215).
Der Beschwerdeführer hat keine Verwandten oder sonstigen nahen Angehörigen in Österreich, weshalb kein unzulässiger Eingriff in das Recht des Beschwerdeführers auf Schutz des Familienlebens vorliegt.
Unter dem "Privatleben" sind nach der Rechtsprechung des EGMR persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind, zu verstehen (vgl. Sisojeva ua gg. Lettland, EuGRZ 2006, 554). In diesem Zusammenhang komme dem Grad der sozialen Integration des Betroffenen eine wichtige Bedeutung zu.
Für den Aspekt des Privatlebens spielt zunächst die zeitliche Komponente im Aufenthaltsstaat eine zentrale Rolle, wobei die bisherige Rechtsprechung keine Jahresgrenze festlegt, sondern eine Interessenabwägung im speziellen Einzelfall vornimmt (vgl. dazu Chvosta, Die Ausweisung von Asylwerbern und Art. 8 MRK, in ÖJZ 2007, 852 ff.). Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits zum Ausdruck gebracht, dass einer Aufenthaltsdauer von weniger als fünf Jahren für sich betrachtet noch keine maßgebliche Bedeutung für die durchzuführende Interessenabwägung zukommt (vgl. VwGH 30.07.2015, Ra 2014/22/0055). Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes kann ein über zehnjähriger inländischer Aufenthalt den persönlichen Interessen eines Fremden am Verbleib im Bundesgebiet - unter Bedachtnahme auf die jeweils im Einzelfall zu beurteilenden Umstände - ein großes Gewicht verleihen (vgl. VwGH 10.05.2011, Zl. 2011/18/0100, mwN). Bei einem mehr als zehn Jahre dauernden inländischen Aufenthalt des Fremden ist nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes regelmäßig von einem Überwiegen der persönlichen Interessen an einem Verbleib in Österreich auszugehen. Nur dann, wenn der Fremde die in Österreich verbrachte Zeit überhaupt nicht genützt hat, um sich sozial und beruflich zu integrieren, sind Aufenthaltsbeendigungen ausnahmsweise auch nach so langem Inlandsaufenthalt noch für verhältnismäßig angesehen (vgl. zuletzt VwGH 23.02.2017, Ra 2016/21/0325; auch VwGH 04.08.2016, Ra 2015/21/0249; 30.08.2011, 2008/21/0605; 14.04.2016, Ra 2016/21/0029 bis 0032; 30.06.2016, Ra 2016/21/0165). Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist aber auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte dann nicht zwingend von einem Überwiegen des persönlichen Interesses auszugehen, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren (vgl. VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005; 23.02.2017, Ra 2016/21/0340). Zu den Umständen, die ungeachtet eines mehr als zehnjährigen Aufenthaltes und des Vorhandenseins gewisser integrationsbegründender Merkmale auch gegen ein Überwiegen der persönlichen Interessen bzw. für ein größeres öffentliches Interesse an der Verweigerung eines Aufenthaltstitels (oder an der Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme) sprechen, zählen das Vorliegen einer strafgerichtlichen Verurteilung, Verstöße gegen Verwaltungsvorschriften, eine zweifache Asylantragstellung, unrichtige Identitätsangaben, sofern diese für die lange Aufenthaltsdauer kausal waren, sowie die Missachtung melderechtlicher Vorschriften (vgl. VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005). "Im Ergebnis bedeutet das, dass auch bei einem mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalt in Verbindung mit dem Vorliegen gewisser integrationsbegründender Aspekte dann nicht zwingend von einem Überwiegen des persönlichen Interesses auszugehen ist, wenn dem Umstände entgegenstehen, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren. Es ist daher auch in Fällen eines mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthaltes eine Gesamtabwägung unter Einbeziehung aller fallbezogen maßgeblichen Aspekte vorzunehmen, wenn auch unter besonderer Gewichtung der langen Aufenthaltsdauer" (VwGH 17.10.2016, Ro 2016/22/0005).
Im vorliegenden Fall hält sich der Beschwerdeführer zum Zeitpunkt der Entscheidung zwar noch nicht zehn Jahre, aber bereits über neuneinhalb Jahre in Österreich auf. Der Verwaltungsgerichtshof hat bereits mehrfach zum Ausdruck gebracht, dass die oben dargestellte Judikatur zu mehr als zehnjährigen Inlandsaufenthalten auch auf Fälle zu übertragen ist, in denen die Aufenthaltsdauer knapp unter zehn Jahren lag (vgl. VwGH 08.11.2018, Ra 2016/22/0120; 10.09.2018, Ra 2018/19/0169; 16.12.2014, 2012/22/0169; 09.09.2014, 2013/22/0247).
Vorliegend kann nicht die Rede davon sein, dass der unbescholtene Beschwerdeführer die Zeit seines Aufenthalts überhaupt nicht genützt hätte, um sich in Österreich zu integrieren. Er hat nachweislich Deutschkenntnisse auf dem Niveau A2 erworben, zumal er im Jahr 2015 eine ÖSD-Deutschprüfung für dieses Niveau mit "sehr gut" bestand. Zudem ist er seit dem Jahr 2010 als Zeitungszusteller tätig, wodurch er seinen Lebensunterhalt selbstständig bestreiten kann. Demgemäß bezog er - abgesehen von zwei Monaten - auch keine Leistungen im Rahmen der Grundversorgung. Er ist zudem seit 01.01.2017 laufend bei der Sozialversicherungsanstalt der gewerblichen Wirtschaft kranken- und unfallversichert. Wie sich aus den vorgelegten Empfehlungsschreiben ergibt, hat sich der Beschwerdeführer während seines Aufenthalts auch einen Freundes- und Bekanntenkreis bestehend aus österreichischen und indischen Staatsangehörigen aufgebaut. Demgegenüber verfügt er in seinem Herkunftsstaat über keine familiären Anknüpfungspunkte.
Abgesehen vom unrechtmäßigen Verbleib in Österreich und den deswegen erstatteten Anzeigen bestehen keine weiteren Umstände, die das gegen einen Verbleib im Inland sprechende öffentliche Interesse verstärken bzw. die Länge der Aufenthaltsdauer im Inland relativieren würden. Diesbezüglich war auch zu berücksichtigen, dass der Beschwerdeführer bereits anlässlich der Einvernahme am 30.11.2011 einen Fragebogen zwecks Beschaffung eines Heimreisezertifikates ausfüllte und sohin an den von der Bundespolizeidirektion Wien vorgesehenen Schritten zur Ausstellung eines Heimreisezertifikates bei der indischen Botschaft mitwirkte.
Angesichts der dargestellten integrationsbegründenden Umstände und des knapp unter zehn Jahre liegenden Inlandsaufenthalts des Beschwerdeführers hätte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl vor dem Hintergrund der obgenannten höchstgerichtlichen Rechtsprechung sohin den Heilungsantrag des Beschwerdeführers gemäß § 4 Abs. 1 Z 2 AsylG-DV 2005 für berechtigt erachten müssen. Ausgehend davon erübrigt sich eine Prüfung, ob die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Z 3 AsylG-DV 2005 in casu erfüllt gewesen wären.
Entsprechend der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes war sohin der Beschwerde stattzugeben und die Antragszurückweisung durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ersatzlos zu beheben, um in der Folge die inhaltliche Erledigung des Antrags auf Titelerteilung - im stattgebenden Sinn - zu ermöglichen (siehe VwGH 26.01.2017, Ra 2016/21/0168).
Absehen von einer mündlichen Verhandlung
Gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.
Die Voraussetzungen für ein Absehen von der Verhandlung gem. § 21 Abs. 7 BFA-VG sind im gegenständlichen Fall erfüllt, zumal der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde und der eingeräumten Möglichkeit einer schriftlichen Stellungnahme geklärt erscheint. Da dem Beschwerdeführer im verwaltungsgerichtlichen Verfahren die (auch genutzte) Möglichkeit zum ergänzenden Vorbringen eingeräumt wurde, bestehen keine für die Entscheidung wesentlichen Sachverhaltselemente, die im Beschwerdeverfahren im Rahmen einer mündlichen Verhandlung noch näher geklärt hätten werden müssen. Vor diesem Hintergrund war von einem geklärten Sachverhalt auszugehen und von einer mündlichen Verhandlung Abstand zu nehmen (vgl. dazu VwGH 20.10.2016, Ra 2016/21/0277, und VwGH 26.01.2017, Ra 2017/20/0002).
Zu B)
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Nach Art. 133 Abs. 4 erster Satz B-VG ist gegen ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtes die Revision zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
Im vorliegenden Fall ist die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung abhängt. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde bei den Erwägungen zu A) wiedergegeben.
Schlagworte
Aufenthaltsdauer, Aufenthaltstitel aus Gründen des Art. 8 EMRK,European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:BVWG:2019:W222.1410970.2.00Zuletzt aktualisiert am
15.07.2019