Kopf
Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ.-Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer-Zeni-Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj E*****, geboren am ***** 2010, über den außerordentlichen Revisionsrekurs des Vaters M*****, vertreten durch Dr. Marco Nademleinsky, Rechtsanwalt in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien als Rekursgericht vom 10. Jänner 2018, GZ 42 R 469/17g-50, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Josefstadt vom 7. November 2017, GZ 26 Ps 87/17z-19, bestätigt wurde, den
Beschluss
gefasst:
Spruch
Dem Revisionsrekurs wird nicht Folge gegeben.
Text
Begründung:
Die Minderjährige ist die leibliche Tochter von M***** B***** (Mutter) sowie M***** A***** (Vater).
Das Amtsgericht in S***** (Serbien) erließ am 5. 5. 2017 folgenden Beschluss: „[…] Es wird die vorläufige Maßnahme verhängt, wodurch die Ausübung der elterlichen Sorge vorläufig geregelt wird gegenüber der mj. E***** [...], sodass die Ausübung der elterlichen Sorge vorläufig der Mutter M***** B***** anvertraut wird, bis zur rechtskräftigen Beendigung des Verfahrens [...]. Der vorläufige Wohnsitz des Kindes wird im Haushalt der Mutter in S***** […] sein […]. Die Beschwerde gegen diesen Beschluss verschiebt nicht die Vollstreckung des Beschlusses.“
Der Beschluss enthält (in der deutschen Übersetzung) unter anderem folgende Begründung: „Nach dem Bericht des Zentrums für Sozialarbeit der Stadt S***** vom 13. 4. 2017 haben M***** A***** und M***** B***** gemeinsam mit E***** vom März 2014 bis zum Juni 2016 in Budapest gelebt, als die Mutter des Kindes das Arbeitsverhältnis in S***** gegründet hat. Die Familie war vorläufig voneinander getrennt. Seit Ende Juni 2016 hält sich die minderjährige E***** im Haushalt der Mutter auf. Die Mutter hat sie nach ihrem Wunsch in zahlreiche Aktivitäten eingeschlossen. Sie haben gemeinsam im Haushalt der Eltern der Mutter gelebt, die ihr bei alltäglichen Verpflichtungen geholfen haben. M***** hat selten nach S***** gekommen, so sind die Mutter und die Tochter öfter nach Budapest gereist. Während des Aufenthalts in Budapest ist es am 16. 2. 2017 in Anwesenheit des Kindes zu einem Vorfall gekommen. […] Am 19. 2. 2017 hat M***** die minderjährige E***** verhindert, mit der Mutter nach S***** zurückzukehren, hat ihren Reisepass versteckt, die Mutter musste am gleichen Tag wegen der Arbeitspflicht zurück nach S*****. Das Mädchen war dewegen traurig, aber hat gehofft, dass der Vater sie bald nach S***** fahren wird, was nicht passiert ist. Seitdem lebt das Mädchen im Haushalt gemeinsam mit dem Vater, ohne Vereinbarung der Eltern.“
Der Vater wurde im Verfahren vor Beschlussfassung gehört. Er bekämpfte den Beschluss nicht
Die Mutter beantragt, den genannten Beschluss anzuerkennen und für vollstreckbar zu erklären. Sie bringt zusammengefasst vor, die Familie habe von März 2014 bis Juni 2016 gemeinsam in Budapest gelebt. Ende Juni 2016 sei die Mutter, weil sie in S***** (Serbien) eine Anstellung in der Kommunalpolitik bekommen habe, gemeinsam mit der Minderjährigen mit Zustimmung des Vaters dorthin gezogen; dies mit der Absicht dort den Lebensmittelpunkt zu begründen. Die serbisch und französisch, jedoch nicht deutsch sprechende Minderjährige habe seitdem gemeinsam mit der Mutter bei deren Eltern in S***** gewohnt. Sie sei sozial und familiär integriert gewesen und habe dort einen gewöhnlichen Aufenthalt begründet. Der weiterhin in Budapest lebende Vater habe sein Kontaktrecht einvernehmlich sowohl in S***** als auch in Budapest ausgeübt. Anlässlich eines gemeinsamen Besuchs der Mutter mit der Minderjährigen beim Vater in Budapest habe dieser am 19. 2. 2017 den Pass der Minderjährigen einbehalten, sodass die Mutter ohne sie nach Serbien zurückreisen habe müssen. Der Vater habe die Minderjährige am 22. 4. 2017 widerrechtlich nach Wien verbracht, wo sie mangels sozialer und familiärer Integration keinen gewöhnlichen Aufenthalt begründet habe. Die Mutter habe in Serbien am 29. 3. 2017 einen Antrag auf Übertragung der alleinigen Obsorge gestellt, der dem Vater zugestellt worden sei. Er habe sich dazu auch geäußert. Das serbische Gericht sei zur Entscheidung über die Obsorge weiterhin zuständig gewesen. Der anzuerkennende Beschluss enthalte ausreichende – für die österreichischen Gerichte bindende – Tatsachenfeststellungen, aus denen sich ein gewöhnlicher Aufenthalt der Minderjährigen (vor ihrer widerrechtlichen Verbringung nach Österreich durch ihren Vater) in Serbien und daher die Zuständigkeit serbischer Gerichte ergebe. Die Betrauung der Mutter mit der einstweiligen Obsorge durch den anzuerkennenden Beschluss sei eine dringende Schutzmaßnahme gewesen. Der Vater habe erklärt, gegen den Beschluss kein Rechtsmittel zu erheben.
Der Vater sprach sich gegen den Antrag der Mutter aus, weil der beantragten Anerkennung des Beschlusses Versagungsgründe entgegenstünden. Er brachte zusammengefasst vor, dass die Minderjährige in Wien geboren sei, wo der Vater gearbeitet und die Familie in einer Mietwohnung gewohnt habe. Nach Beendigung seines Arbeitsverhältnisses Ende 2012 sei die Familie zwei Jahre lang herumgereist, jedoch immer wieder auch in Wien gewesen. Zwischen 2014 und 2016 habe die Familie in Budapest gelebt. Im Juli 2016 sei die Mutter aus beruflichen Gründen gemeinsam mit der Minderjährigen überraschend – und gegen den Widerspruch des Vaters – nach Serbien gezogen. Es sei jedoch vereinbart gewesen, dass die Familie ab Herbst 2016 wieder in Wien wohnen würde und das Kind hier eingeschult werden solle. Lediglich die Sommerferien 2016 sollte die Minderjährige noch mit der Mutter bei den Großeltern in Serbien verbringen. Da sich diese überraschend geweigert habe, die Minderjährige nach Wien zurückzubringen, habe man dort nicht den gewünschten Schulplatz bekommen. Die Eltern hätten aber nach wie vor angestrebt, diesen zu erhalten. Solange sich die Minderjährige in Serbien aufgehalten habe, habe der Vater jeweils an den Wochenenden Kontakt zu ihr gehabt. Seit März/April 2017 befinde sie sich bei ihm in Wien und gehe hier zur Schule. Mangels gewöhnlichen Aufenthalts der Minderjährigen in Serbien sei das dortige Gericht nicht zuständig gewesen, weshalb dessen (vorläufige) Obsorgeentscheidung, die auch keine Feststellungen zu einem gewöhnlichen Aufenthalt in Serbien enthalte, nicht anzuerkennen sei. Ein weiterer Grund für die Verweigerung der Anerkennung liege darin, dass die Minderjährige im serbischen Obsorgeverfahren trotz fehlender Dringlichkeit der Entscheidung nicht gehört worden sei. Auch dem Vater sei kein rechtliches Gehör gewährt worden. Eine Anerkennung der serbischen Entscheidung widerspreche auch dem ordre public, weil nach österreichischem Recht Obsorgeentscheidungen im Interesse des Kindeswohls geändert werden können.
Das Erstgericht anerkannte den Beschluss des Amtsgerichts in S***** und erklärte diesen für vollstreckbar. Es ging davon aus, dass das Haager Übereinkommen vom 19. 10. 1996 über die Zuständigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern („KSÜ“) anwendbar sei und nach dessen Art 23 Abs 1 eine Verpflichtung zur automatischen Anerkennung der von den Behörden eines Vertragsstaats getroffenen Schutzmaßnahmen bestehe. Gründe zur Verweigerung einer solchen Anerkennung bestünden nicht.
Das Rekursgericht gab dem dagegen erhobenen Rekurs des Vaters nicht Folge. Es ging ebenfalls davon aus, dass keine Gründe zur Verweigerung der Anerkennung nach dem KSÜ bestünden. Ausgehend von dem vom serbischen Gericht festgestellten – für das Anerkennungsverfahren bindenden – Sachverhalt, ergebe sich dessen Zuständigkeit. Aufgrund der rechtswidrigen Verbringung der Minderjährigen durch ihren Vater sei ein „dringender Fall“ vorgelegen, weshalb deren Einvernahme sowie jene des Vaters, der sich im Verfahren aber ohnehin geäußert habe, unterbleiben haben können. Der ordentliche Revisionsrekurs sei zulässig, weil Rechtsprechung dazu fehle, ob Art 25 KSÜ, wonach die Behörde des ersuchten Staats an die Tatsachenfeststellungen des Ursprungsgerichts zur Zuständigkeit gebunden sind, einer Beweisaufnahme zu im Anerkennungsverfahren erstattetem neuen Vorbringen zur Zuständigkeit entgegensteht.
Rechtliche Beurteilung
Der dagegen erhobene Revisionsrekurs des Vaters ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig. Er ist jedoch nicht berechtigt.
1.1. Gemäß Art 23 Abs 1 des hier unstrittig anzuwendenden – in Serbien am 1. 11. 2016 in Kraft getretenen (vgl 2 Ob 163/16h) – KSÜ werden die von den Behörden eines Vertragsstaats getroffenen Maßnahmen kraft Gesetzes in den anderen Vertragsstaaten anerkannt. Nach Abs 2 leg cit kann die Anerkennung unter anderem versagt werden, wenn (lit a) die Maßnahme von einer Behörde getroffen wurde, die nicht nach Kapitel II zuständig war; (lit b) die Maßnahme, außer in dringenden Fällen, im Rahmen eines Gerichts oder Verwaltungsverfahrens getroffen wurde, ohne dass dem Kind die Möglichkeit eingeräumt worden war, gehört zu werden, und dadurch gegen wesentliche Verfahrensgrundsätze des ersuchten Staats verstoßen wurde; (lit c) auf Antrag jeder Person, die geltend macht, dass die Maßnahme ihre elterliche Verantwortung beeinträchtigt, wenn diese Maßnahme, außer in dringenden Fällen, getroffen wurde, ohne dass dieser Person die Möglichkeit eingeräumt worden war, gehört zu werden; oder (lit d) wenn die Anerkennung der öffentlichen Ordnung (ordre public) des ersuchten Staats offensichtlich widerspricht, wobei das Wohl des Kindes zu berücksichtigen ist. Der Vater stützt sich auch in seinem Revisionsrekurs darauf, dass all diese Gründe einer Anerkennung entgegenstehen.
1.2. In der Literatur ist strittig, ob bei Vorliegen eines in Art 23 Abs 2 KSÜ genannten Anerkennungsversagungsgrundes eine Ablehnung der Anerkennung bloß möglich ist oder zwingend zu erfolgen hat, wobei überwiegend ein Ermessen des anerkennenden Gerichts angenommen wird (Hilbig-Lugani in Rauscher, Europäisches Zivilprozess- und Kollisionsrecht4 [2016] Art 23 KSÜ Rz 7; Krah, Das Haager Kinderschutzübereinkommen [2004] 250; Paraschas in Geimer-Schütze, Internationaler Rechtsverkehr in Zivil- und Handelssachen [2018], B Vor I, Rz 3; ebenso der Erläuternde Bericht zum KSÜ von P. Lagarde [„Lagarde-Bericht“], Rn 121; aA Pirrung in Von Staudingers, Kommentar zum BGB [2018], Art 23 KSÜ, Rz D 124). Hier muss darauf nicht weiter eingegangen werden, weil ohnehin kein Grund für eine Versagung der Anerkennung nach Art 23 Abs 2 lit a bis d KSÜ besteht.
2.1. Zum Anerkennungsversagungsgrund des Art 23 Abs 2 lit a KSÜ wegen Unzuständigkeit des Ursprungsgerichts ist zu prüfen, ob die Minderjährige im Zeitpunkt der Entscheidung einen „gewöhnlichen Aufenthalt“ gemäß Art 5 Abs 1 KSÜ in Serbien hatte, wobei hier zu berücksichtigen ist, dass die Behörden des Vertragsstaats, in dem das Kind unmittelbar vor seinem Verbringen (hier durch den Vater nach Wien) seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, gemäß Art 7 Abs 1 KSÜ so lange zuständig bleiben, bis es einen gewöhnlichen Aufenthalt in einem anderen Staat erlangt hat und jede sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle dem Verbringen (oder Zurückhalten) zugestimmt hat, oder das Kind sich in diesem anderen Staat mindestens ein Jahr aufgehalten hat, nachdem die sorgeberechtigte Person, Behörde oder sonstige Stelle seinen Aufenthaltsort kannte oder hätte kennen müssen, kein während dieses Zeitraums gestellter Antrag auf Rückgabe mehr anhängig ist und das Kind sich in seinem neuen Umfeld eingelebt hat.
2.2. Der im KSÜ nicht definierte Begriff des „gewöhnlichen Aufenthalts“ als zentraler Anknüpfungspunkt der internationalen Zuständigkeit ist autonom, also nach Wortlaut und Kontext des Übereinkommens sowie dessen Zielen, zu bestimmen. Da das KSÜ Vorbild für die Verordnung (EG) 2003/2201 des Rates vom 27. 11. 2003 über die Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und zur Aufhebung der Verordnung (EG) 2000/1347 („Brüssel IIa-VO“) war, kann zur Auslegung dieses Begriffs auch Rechtsprechung und Literatur zu dieser Verordnung herangezogen werden (dies gilt darüber hinaus ganz allgemein für die Anerkennungsversagungsgründe des Art 23 Abs 2 lit b bis d KSÜ, nicht hingegen für den Versagungsgrund des Art 23 Abs 2 lit a [Unzuständigkeit des Ursprungsgerichts], der in der Brüssel IIa-VO keine Entsprechung hat). Das KSÜ baute seinerseits auf dem Übereinkommen über die Zuständigkeit der Behörden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderjährigen vom 5. 10. 1961 („MSÜ“) auf und kodifizierte einen Großteil der dazu ergangenen Rechtsprechung. Aufgrund der selben Zielsetzungen (Schutz der Person des Kindes und räumliche Nähe der zur Entscheidung berufenen Stelle) ist der Begriff des gewöhnlichen Aufenthalts nach Art 5 KSÜ sohin gleich auszulegen, wie derselbe Begriff im MSÜ und der Brüssel IIa-VO (5 Ob 104/12y mwN).
2.3. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs (auch) zum KSÜ kommt es für den gewöhnlichen Aufenthalt nicht auf die Absicht an, dauernd an einem Ort verbleiben zu wollen, sondern darauf, ob jemand tatsächlich einen Ort zum Mittelpunkt seines Lebens, seiner wirtschaftlichen Existenz und seiner sozialen Beziehungen macht. Maßgeblich sind die dauerhaften Beziehungen einer Person zu ihrem Aufenthaltsort, sodass sich der Aufenthalt ausschließlich nach tatsächlichen Umständen bestimmt. Dessen Dauer ist per se nicht ausschlaggebend (vgl RIS-Justiz RS0046742). Zwar kann als Faustregel gelten, dass ein gewöhnlicher Aufenthalt nach einer Dauer von sechs Monaten vorliegt (RS0074198; vgl auch Krah, aaO 142 mwN zur deutschen Rechtsprechung), doch ist jeweils eine genaue Prüfung der jeweiligen Umstände erforderlich (10 Ob 68/14v). Dauerhafte Beziehungen zwischen einer Person und ihrem Aufenthalt können auch nach kürzerer Zeit begründet werden (RS0046742 [T1, T2]). Der gewöhnliche Aufenthalt eines Kindes drückt sich in seiner sozialen und familiären Integration aus (5 Ob 80/16z). Je jünger ein Kind ist, desto mehr Gewicht ist dem gewöhnlichen Aufenthalt der Person, der ihm gegenüber das Aufenthaltsbestimmungsrecht zukommt, beizumessen (1 Ob 68/14v). Der entgegenstehende Wille (anderer) Sorgeberechtigter kann sich rein tatsächlich dahin auswirken, dass der Aufenthalt noch nicht als auf Dauer angelegt anzusehen ist. Ein gewöhnlicher Aufenthalt darf jedoch nicht mehr verneint werden, wenn der Aufenthalt über einen längeren Zeitraum gewährt hat und das Kind sozial integriert ist (6 Ob 180/13h; RS0109515 [T3]).
2.4. Gemäß Art 25 KSÜ ist die Behörde des ersuchten Staats an die Tatsachenfeststellungen gebunden, auf die die Behörde des Staats, in dem die (anzuerkennende) Maßnahme getroffen wurde, ihre Zuständigkeit gestützt hat. Ob dies hinsichtlich des gewöhnlichen Aufenthalts nur die dieser zuständigkeitsbegründenden Voraussetzung zugrunde liegenden Tatsachen betrifft (dafür etwa Hausmann, Internationales und europäisches Ehescheidungsrecht [2013] Art 25 KSÜ Rz 344; Hilbig-Lugani aaO Art 23 KSÜ Rz 4; ebenso der Lagarde-Bericht Rn 131; idS wohl auch Roth/Döring, Das Haager Abkommen über den Schutz von Kindern, JBl 1999, 758), wofür nach Ansicht des Senats einiges spricht, weil es sich beim Begriff „gewöhnlicher Aufenthalt“ wohl um einen Rechtsbegriff handelt, der auch von der Behörde des ersuchten Staats ohne Gefahr einer Verfahrenszögerung (der Art 25 KSÜ vorbeugen will; vgl Hausmann aaO Rz 243; Hilbig-Lugani aaO Art 25 KSÜ Rz 1) beurteilt werden kann, oder ob die Qualifikation als gewöhnlicher Aufenthalt als solche bindend wirkt (idS etwa Siehr, Das neue Haager Übereinkommen von 1996 über den Schutz von Kindern, RabelsZ 1998, 464 [494]), muss nicht weiter geprüft werden, weil nach dem der anzuerkennenden Entscheidung zugrunde gelegten Sachverhalt ein gewöhnlicher Aufenthalt der Minderjährigen (vor ihrer Verbringung nach Österreich) in Serbien bestand, wovon auch die dortige Behörde ausging.
2.5. Das serbische Gericht legte seiner Entscheidung – wie eingangs dargestellt – zugrunde, dass die unstrittig serbisch sprechende Minderjährige Ende Juni 2016 gemeinsam mit ihrer Mutter, die dort ein Arbeitsverhältnis begründet hatte, nach Serbien zog, wo beide im Haushalt der Großeltern wohnten. Die Minderjährige wurde von der Mutter in Serbien in „zahlreiche Aktivitäten eingeschlossen“. Da diese Situation, die auf eine „soziale und familiäre“ Integration der Minderjährigen in Serbien schließen lässt, für mehr als sieben Monate andauerte und ohne Verhinderung der Rückreise der Minderjährigen Mitte Februar 2017 nach Serbien durch ihren Vater (und Verbringung des Kindes nach Wien) wohl auch noch weiter angedauert hätte, nahmen die Vorinstanzen zutreffend einen gewöhnlichen Aufenthalt der Minderjährigen in Serbien an. Dass die der anzuerkennenden Entscheidung zugrundeliegenden Tatsachen zur Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthalts der (noch nicht schulpflichtigen) Minderjährigen nicht ausreichten, zeigt der Revisionsrekurswerber nicht auf. Soweit er die Frage der bevorstehenden „Einschulung“ als ungeklärt ansieht, bezieht er sich offensichtlich auf sein Vorbringen, wonach die Eltern eine Einschulung in Wien beabsichtigt hätten. Dies steht aber im Widerspruch zu den (gemäß § 25 KSÜ bindenden) Tatsachenannahmen des serbischen Gerichts, wonach die Minderjährige gegen den Willen der Mutter nach Wien verbracht worden sei, was deren Zustimmung zu einer dortigen Einschulung ausschließt. Die Frage der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts der Minderjährigen (in Serbien) spielt entgegen der Ansicht des Revisionsrekurswerbers für die Beurteilung des gewöhnlichen Aufenthalts keine Rolle (vgl RS0074198 [T7] zum MSÜ). Die – vom Vater ebenfalls als ungeklärt angesehene –Beständigkeit des Aufenthalts der Minderjährigen in Serbien wurde bloß dadurch unterbrochen, dass diese gegen den Willen der Mutter nach Österreich verbracht wurde, was den zunächst in Serbien bestehenden gewöhnlichen Aufenthalt aber nicht (sofort) beseitigte (vgl Art 7 Abs 1 KSÜ).
3.1. Das Anerkennungshindernis des Art 23 Abs 2 lit b KSÜ setzt voraus, dass dem Kind keine Möglichkeit eingeräumt worden wurde, im (Obsorge-)Verfahren gehört zu werden, und dass dadurch gegen wesentliche Verfahrensgrundsätze des ersuchten Staats verstoßen wurde. Somit kommt es letztlich (auch) auf das österreichische Recht als Maßstab für eine Versagung der Anerkennung an, wobei nur die Verletzung wesentlicher Grundsätze, nicht hingegen unwesentliche Abweichungen von diesem Recht ein Anerkennungshindernis begründen (vgl Weller in Althammer, Kommentar zu den Verordnungen (EG) 2201/2003 und (EU) 1259/2010 [2014], Art 23 Brüssel IIa-VO Rz 3).
3.2. Gemäß § 105 Abs 2 AußStrG hat die Befragung eines Minderjährigen einerseits zu unterbleiben, wenn im Hinblick auf dessen Verständnisfähigkeit offenbar eine überlegte Äußerung zum Verfahrensgegenstand nicht zu erwarten ist. Nach der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs ist dies bei Kindern bis zum Erreichen des 5. oder 6. Lebensjahres regelmäßig der Fall (6 Ob 103/17s). Eine Befragung des Kindes kann nach § 105 Abs 2 AußStrG andererseits auch dann unterbleiben, wenn dadurch – oder durch einen damit verbundenen Aufschub der Verfügung –dessen Wohl gefährdet wäre. Insbesondere der Aufenthalt eines Kindes im Ausland kann eine Abstandnahme von der Anhörung rechtfertigen, wenn diese nicht innerhalb angemessener Frist durchgeführt werden kann (vgl Beck aaO Rz 24). Generell setzt die Anhörung voraus, dass das Gericht mit dem Kind überhaupt Kontakt aufnehmen kann (1 Ob 623/95; Beck aaO).
3.3. Hier kann in der unterlassenen Anhörung bereits aufgrund des Alters der im Zeitpunkt der Entscheidung des serbischen Gerichts erst sechs Jahre alten Minderjährigen (jedenfalls) kein derart gravierender Verfahrensverstoß gesehen werden, der eine Nichtanerkennung der von diesem Gericht getroffenen Entscheidung rechtfertigt. Ausgehend davon, dass es sich bei Art 23 Abs 2 lit b KSÜ um eine besondere Ausformung des verfahrensrechtlichen ordre public handelt (vgl etwa Hilbig-Lugani aaO Art 23 KSÜ Rz 15; Weller aaO Art 23 Brüssel IIa-VO Rz 2), ist auch zu berücksichtigen, dass die Anhörung durch das serbische Gericht wohl praktisch im Rechtshilfeweg erfolgen hätte müssen, wurde die Minderjährige doch – gegen den Willen der Mutter – vom Vater nach Österreich verbracht. Dem Zweck der Befragung, dem erkennenden Gericht einen persönlichen Eindruck von der Minderjährigen zu verschaffen (2 Ob 19/11z mwN), wäre eine solche „Anhörung“ im Rechtshilfeweg aber nicht gerecht geworden. Hinzu kommt, dass eine Befragung im Rechtshilfeweg in der Regel auch dem Bedürfnis nach einer raschen Entscheidung zuwider läuft (vgl wieder 2 Ob 19/11z mwN), welches hier aber – aufgrund der gegen den Willen der Mutter erfolgten Verbringung der Minderjährigen nach Österreich – gerade bestand. Somit spricht vieles dafür, die Vorgangsweise des serbischen Gerichts jedenfalls nicht als wesentlichen Verstoß gegen § 105 AußStrG anzusehen.
4. Die behauptete unterlassene Anhörung des Revisionsrekurswerbers im serbischen Obsorgeverfahren begründet bereits deshalb keinen Grund zur Versagung der Anerkennung der dort getroffenen Entscheidung nach Art 23 Abs 2 lit c KSÜ, weil er nach den erstinstanzlichen Feststellungen in diesem Verfahren „gehört“ wurde. Dem (einen integrierenden Bestandteil der erstinstanzlichen Entscheidung bildenden) Beschluss des serbischen Gerichts lässt sich entnehmen, dass der Vater bei diesem einen Schriftsatz einbrachte und sich zu den Anträgen der Mutter äußerte. Damit steht fest, dass ihm (ausreichendes) rechtliches Gehör eingeräumt wurde.
5. Der Revisionsrekurswerber stützt sich auch auf einen Verstoß der anzuerkennenden Entscheidung gegen den ordre public (Art 23 Abs 2 lit d KSÜ), weil „nach österreichischem Recht Obsorgeentscheidungen aufgrund von Umstandsänderungen bzw neu hervorgekommenen Tatsachen geändert werden können, wenn das Kindeswohl dies erfordert“. Sollte er damit auf die Rechtsprechung abstellen, wonach Sachverhaltsänderungen auch noch im Rechtsmittelverfahren zu berücksichtigen sind, wenn es das Interesse des pflegebefohlenen Kindes erfordert (RS0006893), behauptet er gar nicht, dass dies nicht auch nach serbischem Recht möglich wäre. Davon abgesehen besteht auch nach österreichischem Recht eine solche Möglichkeit nur bis zur – hier offensichtlich eingetretenen – Rechtskraft der Entscheidung. Deren neuerliche Überprüfung im Anerkennungsverfahren würde dem Verbot der révision au fond gemäß Art 27 KSÜ widersprechen, wonach die inhaltliche Richtigkeit der anzuerkennenden Entscheidung nicht nachgeprüft werden darf, was gerade bei einem behaupteten Verstoß gegen den ordre public besonders zu beachten ist (vgl Hilbig-Lugani aaO Art 23 KSÜ Rz 19). Die am früheren gewöhnlichen Aufenthalt der Minderjährigen getroffene Maßnahme bleibt bei einem Wechsel des gewöhnlichen Aufenthalts (vorbehaltlich des Art 7 Abs 1 lit b KSÜ) aber nur so lange bestehen, als sie nicht gemäß Art 14 KSÜ durch die Behörden des dann zuständigen Staats – zumindest bei geänderten Umständen im Interesse des Kindeswohls (wobei teilweise auch die Möglichkeit einer neuen Beurteilung bei gleichgebliebener Sachlage vertreten wird; so etwa Hausmann aaO Art 14 KSÜ Rz 408; idS offenbar auch der Lagarde-Bericht Rn 43) – aufgehoben, ersetzt oder abgeändert wird.
Textnummer
E125253European Case Law Identifier (ECLI)
ECLI:AT:OGH0002:2019:0010OB00205.18F.0430.000Im RIS seit
13.07.2019Zuletzt aktualisiert am
14.07.2021