TE Vfgh Erkenntnis 1996/12/13 B3616/95

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Veröffentlicht am 13.12.1996
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Index

41 Innere Angelegenheiten
41/02 Staatsbürgerschaft, Paß- und Melderecht

Norm

EMRK Art8 Abs2
AufenthaltsG §6 Abs2

Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens durch die Abweisung von Anträgen auf Verlängerung von Aufenthaltsberechtigungen für eine jugoslawische Familie mit langjährigem Aufenthalt im Inland und im Inland geborenen, österreichische höhere Schulen besuchenden Kindern; verfassungswidrige Annahme der Notwendigkeit der Antragstellung vom Ausland aus aufgrund der bereits abgelaufenen Sichtvermerke; analoge Vorgangsweise zur Fallgruppe der Verlängerungsanträge verfassungsrechtlich geboten

Spruch

Die Beschwerdeführerin ist durch den angefochtenen Bescheid in dem durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens verletzt worden.

Der Bescheid wird aufgehoben.

Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, der Beschwerdeführerin zuhanden ihres Rechtsvertreters die mit S 18.000,-- bestimmten Kosten des Verfahrens binnen 14 Tagen bei sonstigem Zwang zu bezahlen.

Begründung

Entscheidungsgründe:

I. 1. Die Beschwerdeführerin lebt - den unwidersprochen gebliebenen Beschwerdeausführungen zufolge - bereits seit mehreren Jahren ohne Unterbrechung in Österreich, wo sich auch ihr Ehemann und zwei der gemeinsamen Kinder aufhalten; sowohl der Ehegatte als auch die Kinder der Beschwerdeführerin sind im Besitz von unbefristeten Aufenthaltsbewilligungen; die Beschwerdeführerin gründete ihren berechtigten Aufenthalt auf dementsprechende Sichtvermerke, zuletzt erhielt sie eine Aufenthaltsbewilligung bis 5. September 1994.

Am 12. August 1994 - also noch während der Geltungsdauer der zuletzt erteilten Aufenthaltsberechtigung - beantragte die Beschwerdeführerin die Verlängerung ihrer Aufenthaltsbewilligung.

2. Dieser Antrag wurde mit dem im Instanzenzug ergangenen Bescheid des Bundesministers für Inneres unter Berufung auf §6 Abs2 des Aufenthaltsgesetzes, BGBl. Nr. 466/1992, idF der Novelle BGBl. Nr. 351/1995, abgewiesen. Begründend wurde ausgeführt, die Beschwerdeführerin habe das Antragsformular im Inland unterzeichnet und durch einen Vertreter bei der ÖB Preßburg eingereicht; sie habe sich zum Zeitpunkt der Antragstellung eindeutig im Bundesgebiet aufgehalten und dadurch das gesetzliche Erfordernis einer Antragstellung vom Ausland aus nicht erfüllt. Aufgrund dieser Tatsache und trotz unabsprechbarer Bindungen zur Republik Österreich seien die persönlichen Interessen der Beschwerdeführerin dem öffentlichen Interesse an der Versagung einer Aufenthaltsbewilligung hintanzustellen und der Antrag abzulehnen gewesen.

3. Gegen diesen Bescheid richtet sich die vorliegende, auf Art144 Abs1 B-VG gestützte Beschwerde, mit der insbesondere die Verletzung des verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechtes auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) geltend gemacht und die kostenpflichtige Aufhebung des angefochtenen Bescheides begehrt wird.

Der Bundesminister für Inneres als belangte Behörde wurde unter Hinweis auf die Säumnisfolgen aufgefordert, die Verwaltungsakten vorzulegen und eine Gegenschrift zu erstatten. Dieser Aufforderung wurde nicht entsprochen, weshalb es dem Verfassungsgerichtshof gemäß §20 Abs2 VerfGG freisteht, auf Grund der Behauptungen der Beschwerdeführerin zu erkennen.

II. Der Verfassungsgerichtshof hat über die - zulässige - Beschwerde erwogen:

1.a) Der angefochtene, die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung versagende Bescheid greift in das der Beschwerdeführerin, die sich seit mehreren Jahren in Österreich aufhält und hier intensive familiäre Bindungen aufweist, durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich gewährleistete Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens ein.

b) Ein Eingriff in dieses verfassungsgesetzlich gewährleistete - unter Gesetzesvorbehalt stehende - Recht ist dann verfassungswidrig, wenn der ihn verfügende Bescheid ohne jede Rechtsgrundlage erging, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsgrundlage beruht, oder wenn die Behörde bei Erlassung des Bescheides eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise anwendete; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn die Behörde einen so schweren Fehler beging, daß dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen ist, oder wenn sie der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere eine dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellte (VfSlg. 11638/1988).

2. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits im Erkenntnis vom 16.6.1995, B 1611-1614/94, dargelegt hat, ist in den - vom Regelungssystem des §6 Abs2 AufG nicht erfaßten - Fällen, in denen sich Fremde zum Zeitpunkt der Antragstellung nicht mehr rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, abhängig von der jeweiligen Gestaltung des Falles, im Wege der Analogie entweder die Regelung des §6 Abs2 erster Satz AufG, wonach Anträge auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung vom Ausland aus zu stellen sind, oder aber §6 Abs2 zweiter Satz AufG, wonach solche Anträge auch vom Inland aus gestellt werden können, anzuwenden.

3. Die belangte Behörde hat im Fall der Beschwerdeführerin, die sich mehrere Jahre rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat und hier intensive familiäre Beziehungen aufweist, nur wegen einer relativ kurzen Versäumung der Frist für die Einbringung eines Verlängerungsantrages (spätestens vier Wochen vor Ablauf der Geltungsdauer der letztgültigen Bewilligung) die Bestimmung des §6 Abs2 erster Satz AufG angewendet und die Aufenthaltsbewilligung, ohne auf die persönlichen Verhältnisse der Beschwerdeführerin einzugehen, mit der Begründung versagt, der Antrag müsse vom Ausland aus gestellt werden. Sie hat damit dem §6 Abs2 AufG einen verfassungswidrigen, weil gegen Art8 EMRK verstoßenden Inhalt unterstellt.

Der angefochtene Bescheid war daher schon aus diesem Grund aufzuheben.

4. Die Kostenentscheidung gründet sich auf §88 VerfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer von S 3.000,-- enthalten.

5. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 erster Satz VerfGG ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung getroffen werden.

Schlagworte

Aufenthaltsrecht, Privat- und Familienleben

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VFGH:1996:B3616.1995

Dokumentnummer

JFT_10038787_95B03616_00
Quelle: Verfassungsgerichtshof VfGH, http://www.vfgh.gv.at
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