TE Vwgh Erkenntnis 2019/5/29 Ra 2018/20/0417

JUSLINE Entscheidung

Veröffentlicht am 29.05.2019
beobachten
merken

Index

10/01 Bundes-Verfassungsgesetz (B-VG)
10/07 Verwaltungsgerichtshof
40/01 Verwaltungsverfahren
41/02 Asylrecht
41/02 Passrecht Fremdenrecht

Norm

BFA-VG 2014 §21 Abs7
B-VG §133 Abs4
VwGG §28 Abs3
VwGG §34 Abs1
VwGVG 2014 §24

Betreff

?

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler sowie die Hofrätin Dr. Leonhartsberger und den Hofrat Dr. Schwarz als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Kieslich, über die Revision des H M in M, vertreten durch Dr. Romana Weber-Wilfert, Rechtsanwältin in 2340 Mödling, Bachgasse 10, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. Juli 2018, Zl. I419 2156243-1/7E, betreffend eine Angelegenheit nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen. Das Mehrbegehren wird abgewiesen.

Begründung

1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Ägyptens, stellte am 18. April 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz. Im Rahmen der Erstbefragung am selben Tag gab er nach seinen Fluchtgründen befragt an, er habe Ägypten im September 2011 aufgrund der dortigen Unruhen verlassen und sei dabei des Öfteren angegriffen und verletzt worden.

2 Im Zuge der vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) durchgeführten Einvernahme vom 8. Februar 2017 brachte der Revisionswerber im Wesentlichen vor, Familienmitglieder einer verfeindeten Nachbarsfamilie würden den Revisionswerber aus Rache verfolgen beziehungsweise angreifen, weil sein Vater ein Familienmitglied dieser Familie bei einem Unfall getötet habe. Es sei zu gewalttätigen Auseinandersetzungen gekommen. 3 Mit Bescheid vom 30. März 2017 wies das BFA den Antrag auf internationalen Schutz sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Ägypten zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise wurde mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt. Das BFA stellte hinsichtlich des Fluchtvorbringens fest, der Revisionswerber habe nicht glaubhaft gemacht, dass er aufgrund einer Verfolgung durch eine verfeindete Familie sein Herkunftsland habe verlassen müssen.

4 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) - ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung - mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 4. Juli 2018 ab und sprach aus, dass die Revision gegen diese Entscheidung gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei. Im Rahmen der Beweiswürdigung führte das BVwG hinsichtlich des Fluchtvorbringens aus, der Revisionswerber habe keine Furcht vor Verfolgung durch feindselig gesinnte Nachbarn - "abgesehen von der mangelnden Asylrelevanz wegen staatlichen Schutzes und innerstaatlicher Fluchtalternative" - glaubhaft machen können. Eine fachärztliche Untersuchung - die im Verwaltungsverfahren nicht als Beweis angeboten worden sei - wäre zwar eventuell geeignet, die Herkunft der Verletzungen, nicht aber die Umstände, unter denen diese entstanden seien, näher zu klären. Auffallend seien die "Inkongruenzen der Aussagen des Bruders des Revisionswerbers zum dann gesteigert erzählten Geschehen", wobei das BVwG Aussagen des Revisionswerbers jenen des Bruders laut dessen Bescheid gegenüber stellte. Insgesamt würden die Schilderungen des Revisionswerbers als nicht glaubwürdig erscheinen. Auch der Familienname der Verfolgerfamilie werde vom Revisionswerber und dessen Bruder unterschiedlich angegeben. In seiner rechtlichen Beurteilung führte das BVwG aus, es seien weder im Verfahren vor dem BFA noch vor dem BVwG Anhaltspunkte für das tatsächliche Vorliegen asylrelevanter Fluchtmotive hervorgekommen. 5 Zum Unterbleiben der mündlichen Verhandlung führte das BVwG im Wesentlichen aus, der Sachverhalt sei durch die belangte Behörde im Entscheidungszeitpunkt des BFA vollständig erhoben worden und weise die gebotene Aktualität auf. Das BVwG habe sich der Beweiswürdigung des BFA zur Gänze angeschlossen. Es habe sich keinen persönlichen Eindruck vom Revisionswerber verschaffen müssen, da es sich um einen eindeutigen Fall handle und auch bei Berücksichtigung aller zugunsten des Fremden sprechenden Fakten für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten sei, wenn der persönliche Eindruck ein positiver sei.

6 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die gegen diese Entscheidung erhobene außerordentliche Revision nach Vorlage derselben sowie der Verfahrensakten durch das BVwG und nach Einleitung des Vorverfahrens - Revisionsbeantwortungen wurden nicht erstattet - in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Der Revisionswerber bringt zur Zulässigkeit der Revision unter anderem vor, der herangezogene Bescheid des Bruders und die ergänzende Beweiswürdigung hätten eine mündliche Verhandlung notwendig gemacht.

8 Die Revision erweist sich als zulässig. Sie ist auch begründet.

9 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes seit dem Erkenntnis vom 28. Mai 2014, Ra 2014/20/0017, 0018, auf dessen Entscheidungsgründe gemäß § 43 Abs. 2 zweiter Satz VwGG verwiesen wird, sind für ein Absehen von der mündlichen Verhandlung durch das BVwG nach § 21 Abs. 7 BFA-VG wegen geklärten Sachverhalts und für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltenen Wendung "wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint" nunmehr folgende Kriterien beachtlich:

10 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.

11 Diesen in der hg. Rechtsprechung aufgestellten Grundsätzen hat das Bundesverwaltungsgericht im vorliegenden Fall nicht entsprochen.

12 Schließt sich das BVwG nicht nur der Beweiswürdigung des BFA an, sondern zeigt darüber hinaus in seiner Beweiswürdigung noch weitere bedeutsame Aspekte auf, mit welchen es die Widersprüchlichkeit des Vorbringens begründet, nimmt es damit eine zusätzliche Beweiswürdigung vor, die dazu führt, dass das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung nicht bloß unwesentlich ergänzt. Eine solche (ergänzende) Beweiswürdigung hat jedoch regelmäßig erst nach einer mündlichen Verhandlung, in der auch ein persönlicher Eindruck von der betroffenen Person gewonnen werden kann, zu erfolgen (vgl. VwGH 10.9.2015, Ra 2014/20/0142, mwN). 13 Das BVwG schloss sich grundsätzlich der Beurteilung des BFA an, wonach das Vorbringen des Revisionswerbers nicht glaubwürdig sei. Es erachtete es darüber hinaus für geboten, weitere - völlig neue - Argumente zur Untermauerung der Unglaubwürdigkeit des Vorbringens des Revisionswerbers heranzuziehen, indem es den Bescheid betreffend den Bruder des Revisionswerbers heranzog und sich ein maßgeblicher Teil der Beweiswürdigung auf vermeintliche Widersprüche zwischen den Aussagen der beiden Brüder stützte. 14 Die Voraussetzungen für ein Absehen von der beantragten mündlichen Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG lagen im gegenständlichen Verfahren demnach nicht vor.

15 Der Begründung des Erkenntnisses ist keine Auseinandersetzung des BVwG mit der Schutzfähigkeit und Schutzwilligkeit Ägyptens und mit dem Vorliegen der Kriterien für die Annahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative zu entnehmen, weshalb diesbezüglich keine tragfähigen Alternativbegründungen vorliegen (VwGH 20.9.2018, Ra 2018/20/0173).

16 Das angefochtene Erkenntnis war somit schon aus dem genannten Grund wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. c VwGG aufzuheben, weshalb sich ein Eingehen auf das übrige Revisionsvorbringen erübrigt.

17 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014. Das Mehrbegehren war im Hinblick auf die Befreiung von der Entrichtung der Eingabegebühr im Rahmen der Bewilligung der Verfahrenshilfe abzuweisen.

Wien, am 29. Mai 2019

European Case Law Identifier (ECLI)

ECLI:AT:VWGH:2019:RA2018200417.L00

Im RIS seit

24.07.2019

Zuletzt aktualisiert am

24.07.2019
Quelle: Verwaltungsgerichtshof VwGH, http://www.vwgh.gv.at
Zurück Haftungsausschluss Vernetzungsmöglichkeiten

Sofortabfrage ohne Anmeldung!

Jetzt Abfrage starten